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„Manchmal, wenn ich morgens aufwache, sage ich:
Wie der Zöllner Zachäus werde ich verschenken,
wie Simon werde ich das Kreuz anderer tragen,
wie Veronika werde ich Gesichter trocknen,
wie Stephanus werde ich mich steinigen lassen,
wie Jesus am Kreuz werde ich vergeben,
wie Franziskus werde ich lieben.
Am Abend blicke ich in den Spiegel... und was sehe ich?
Adam, der gerade erst die Frucht gegessen hat,
Kain, der gerade erst getötet hat,
Judas, der gerade erst verraten hat,
Petrus, der gerade erst verleugnet hat,
Pilatus, der gerade erst seine Hände gewaschen hat,
und ich schlafe ein auf einem Kissen, nass von Tränen.
Und in der Nacht kommt Jesus und sagt:
Fürchte dich nicht, ich bin bei dir!“
Ich kenne leider den Autor dieser kleinen Meditation nicht
– aber sie trifft mitten ins Herz.
Sie beschreibt so ehrlich, wie das Leben ist: am Morgen
voller guter Vorsätze,
am Abend oft voller Müdigkeit, Zweifel oder Enttäu-
schung.
Wie Zachäus will ich teilen.
Wie Simon will ich tragen.
Wie Veronika will ich trösten.
Wie Franziskus will ich lieben.
So beginnen viele unserer Tage – mit dem Wunsch, Gutes
zu tun, mit Hoffnung und mit Glauben an das Gute im
Menschen. Und dann kommt der Alltag. Ein ungeduldiges
Wort, ein Moment der Schwäche, ein Blick, der verletzt,
eine Entscheidung, die wir lieber rückgängig machen
würden. Am Abend sehen wir manchmal in den Spiegel
und erkennen uns selbst nicht wieder. Wir sehen nicht
Zachäus oder Franziskus, sondern eher
Adam, der gefallen ist,
Kain, der sich geärgert hat,
Petrus, der gezweifelt hat,
oder Judas, der versagt hat.
Und vielleicht denken wir: Das war wohl wieder nichts mit
meinen guten Vorsätzen. Aber genau hier beginnt Advent.
Nicht bei den Starken, sondern bei denen, die wissen,
dass sie es nicht allein schaffen. Nicht bei den Perfekten,
sondern bei den Ehrlichen. Jesus kommt nicht nur in die
glänzenden Stuben, sondern in die unaufgeräumten Her-
zen. Er will dort geboren werden, wo wir uns klein, müde
oder schuldig fühlen. Der Theologe Karl Rahner hat ein-
mal gesagt: „Gott wird Mensch, damit der Mensch nicht
mehr fliehen muss – nicht vor Gott und nicht vor sich
selbst.“ Das ist die Botschaft dieses Advents: Es ist nicht
entscheidend, wie gut du warst, sondern ob du offen-
bleibst. Denn Gott sucht nicht Vollkommenheit – er sucht
Vertrauen. Vielleicht dürfen wir in diesem Advent wieder
neu glauben: dass Jesus auch in mir, in dir, in jedem von
uns geboren werden will. Damit wir jeden Morgen, trotz
allem, was war, neu anfangen können – mit Mut, mit Güte,
mit einem offenen Herzen.
Oder, wie es in der Meditation am Ende heißt:
„Und in der Nacht kommt Jesus und sagt: Fürchte dich
nicht, ich bin bei dir.“
Zum Schluss wünsche ich euch – gemeinsam mit mei-
nen engsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – einen
gesegneten Advent, Tage der Ruhe und des Innehaltens,
und ein frohes, friedvolles Weihnachtsfest. Möge das
Licht von Bethlehem auch in eurem Herzen leuchten und
euch neue Hoffnung schenken – mitten im Alltag, mitten
im Leben.
Pfarrer Gregor
Wenn der Advent ins Herz fällt