04/2021 SEIT  1946 5,– Euro P.b.b. Abs.: Gesellschaft zur Herausgabe der Zeitschrift ZUKUNFT,   Kaiserebersdorferstrasse 305/3, 1110 Wien, MZ 14Z040222 M, Nr. 04/2021 BILDUNG – ELITEN – SELEKTION Digital Divide Tiantian Tang Sozialstaat – neu denken? Ingrid Nowotny Bildung und das Versprechen  der Gleichheit Florian Rainer „Lerne einfach!“  Denkangebote zur Bildung Hemma Prainsack


  EDITORIAL Dass unser Bildungssystem der Tendenz nach die Stärksten  stärkt und die Schwächsten schwächt, ist ein mehrfach fest-gestellter Umstand, an dem dennoch nur sehr wenig geändert  wurde. Nach wie vor entscheiden Bildungsabschlüsse – auch  angesichts der oft diskutierten österreichischen „Titelwirt-schaft“ – über den sozialen Weg eines Menschen und sind so auch Markierungspunkte für die (hierarchische) Position im sozialen Raum. Damit ist auch kursorisch darauf verwie-sen, dass die Redaktion der ZUKUNFT sich mit dieser Ausgabe zu  Bildung – Eliten – Selektion zu den Grunderkenntnissen der Bildungssoziologie Pierre Bourdieus bekennt, dessen  Einsichten in dieser Ausgabe an mehreren Stellen diskutiert werden. So hält schon Florian Rainer einleitend fest, dass Bildung ein Begriff mit universaler Funktion ist, der den Menschen in all seinen Erfahrungen in der jeweils vorgefundenen Welt und Gesellschaft beschreibt. Dabei kann Bildung nicht frei  von anderen gesellschaftlichen Praktiken gedacht werden, da  selbst die Möglichkeit dieser Erfahrungen auf verschiedenen  Ebenen vererbt wird. Im Rekurs auf Bourdieu betont der Bil- dungswissenschafter deshalb, dass es nach wie vor Die feinen  Unterschiede sind, die wir über Generationen hinweg weiterge- ben. Auch deshalb ist es nicht möglich, sich allein zu bilden,  weshalb auch hier angesichts von Eliten und Selektion das po- litische Versprechen von gemeinsamer Gleichheit in Zeiten der Ungleichheit klar vor Augen steht. So verbinden wir mit Bildung zurecht die Hoffnung auf Veränderung ungleicher  Lebensbedingungen. Bildung und Ungleichheit stellen mithin  ein widersprüchliches Verhältnis dar, das Rainer hier deutlich herausarbeitet. In diese Kerbe schlägt dann auch der Beitrag von Tiantian  Tang, die eingehend erläutert, wie die soziale Ungleichheit  des  digital divide im Rahmen algorithmischer „Personali-sierung“ verstanden werden kann. Ebenfalls im Rekurs auf  Bourdieu verfolgt die Autorin dabei die brisante These des  zero level divide, nach der auch die selektiven Unterschiede  beim Umgang mit personalisierten digitalen Medien sich aus der Ausgangsdifferenz verschiedener sozialer Gruppen erge-ben. Deshalb machen neue Entwicklungen im Bereich der  Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) auch  neue Betrachtungsweisen und Forschungen notwendig, um  Partizipation und Mitbestimmung unabhängig von Eliten und Selektion allererst zu ermöglichen. Zwischen der Vereinze-lung der menschlichen Lebenswelten und den digitalen Stan- dardisierungen können wir also nur demokratisch der Komple- xität des Digitalen gerecht werden. Das Schwerpunktthema reichert auch Erkan Osmanović an, indem er die Entstehung unseres hochgradig elitären Schulsys-tems historisch beschreibt und dabei Fehlentwicklungen the- matisiert, die auch Eingang in die Literaturgeschichte – etwa bei Hermann Hesse oder Robert Musil – gefunden haben.  Muss z. B. die Schule einzig und allein in Fächern wie Mathe- matik, Deutsch oder Geografie gedacht werden? Verlangt eine  Welt voller Querverbindungen nicht auch, dass sich die Diszi- plinen im Lernstoff überschneiden? Da die Schule ursprüng-lich Beamt*innen für den Staatsdienst produzieren sollte, wa-ren Individualität und Charakterbildung nicht vorgesehen – sie  wurden gar verhindert. Dabei, so Osmanović, sollten Schulen  doch inzwischen zu Orten des Entdeckens geworden sein, fris-ten aber oft genug ein Dasein als Tempel der Langeweile. Bildung – Eliten – Selektion ALESSANDRO BARBERI UND BIANCA BURGER


 ZUKUNFT | 3    Jedes Bildungssystem steht auch in einem gesellschaftlich-staat- lichen Kontext, weshalb der Beitrag von Ingrid Nowotny die  Entwicklung des österreichischen Sozialstaats rekapituliert und  so einen entscheidenden wirtschafts- und sozialgeschichtlichen  Hintergrund unseres Schwerpunktthemas vor Augen führt. Denn das Modell des österreichischen Sozialstaates ist in Kri- senzeiten nach dem ersten Weltkrieg unter der Federführung der Sozialdemokratie entstanden, hat Diktatur und Wirtschafts- liberalismus überstanden und ist gerade jetzt bei der Bewälti-gung der Corona-Folgen unverzichtbar. Die Überlegungen  von Nowotny rufen so den Stellenwert des Sozialstaates wieder  ins Bewusstsein, ohne den auch ein wirklich gleiches und d. h. soziales und demokratisches Bildungssystem schlussendlich nicht gedacht oder realisiert werden kann. In der Folge hebt Hemma Prainsack hervor, dass Bildung viele Definitionen hat und ein stark umkämpfter Begriff ist. Dabei reflektiert die Autorin im Rekurs auf Kant und Brecht  mit thesenartig formulierten Denkangeboten diesen eminent  wichtigen Terminus und seine Verwendung, um sich für ei- nen zukunftsgewandten Bildungsbegriff einzusetzen. Denn es ist auch im Blick auf unser selektives Bildungssystem essenziell,  Tatsachen zu hinterfragen sowie deren Gültigkeit in Frage zu  stellen. Obwohl Wissen heute schon inflationär vorhanden ist,  ist es gerade angesichts der Digitalisierung von größter Not- wendigkeit, diesbezügliche Daten und Informationen vermit- telbar aufzubereiten. Im Erkennen, dass jegliches Tun in der eigenen Verantwortung liegt und die Folge einer Besinnung ist, sieht Prainsack bereits ein mächtiges Instrument gegen jede Form von Unmündigkeit. Auch kann die Redaktion der ZUKUNFT ihren Leser*innen wie- der zwei Beiträge aus dem Bereich der Literatur präsentieren.  Denn dass es auch in einem Kunststudium darum geht, den  eigenen (künstlerischen) Ausdruck zu finden und zu schärfen, betonen Konrad Hempel und Claudia Lehmann. Sie plä-dieren daher in ihrem Beitrag zur HAMLETMASCHINE von  Heiner Müller dafür, diesen Text im Studium unter verschie- denen Perspektiven sowie unter Berücksichtigung der eigenen  Erfahrungen zu betrachten. Auch Verortungen in neuen Kon- texten oder das Experimentieren mit neuen Formen können dabei zu künstlerischer Forschung werden. Dabei konstatieren die Autor*innen in den uns heute gegebenen Verhältnissen ei-nen Mangel an Utopien oder Alternativen und zeigen, wel-che Möglichkeiten diverse Betrachtungsweisen dennoch liefern können. Thomas Ballhausen spricht dann mit der Autorin und Li- teraturwissenschaftlerin  Daniela Chana über Schreiben als Beruf und Alltag, die Unterschiede im Schreibprozess je nach  Genre und warum der Autorin Unterhaltung und plastische Beschreibungen in ihren Texten besonders wichtig sind. Der Fokus liegt dabei auf ihrem neuen Prosa-Werk Neun seltsame  Frauen, in dem die neun griechischen Musen als Ordnungs- prinzip fungieren. Chana möchte dabei das Buch als eine Art  Konzeptalbum verstanden wissen, in dem jede Geschichte für  sich stehen kann. Liest man die Erzählungen jedoch insgesamt,  ergibt sich ein eigener Handlungsstrang. Im Interview kommt zur Sprache, warum Chana Alltagssituationen faszinierender findet als Abenteuer. Zudem werden im Gespräch Themen-bereiche wie das weibliche Schreiben erläutert und Textproben der Neuerscheinung unterstreichen die Gesprächsinhalte. Insgesamt durchzieht mithin alle Beiträge der Gedanke, dass  Bildung  und ihre Kontexte gesamtgesellschaftlich reflektiert  werden müssen. In einer elitären und selektiven Gesellschaft,  die Gefahr läuft, immer nur die Stärksten zu stärken und die Schwächsten zu schwächen, wird die Beschäftigung mit Bil-dung einmal mehr zur politischen Aufgabe, die sich perma-nent und immer wieder neu stellt. Thomas Ballhausen und   Bianca Burger greifen deshalb in ihrem Postskriptum mehre- re Fäden unserer Schwerpunktausgabe auf, stellen sich aktuel-len Herausforderungen des Bildungs- und Kulturbereichs und rufen zum ernstgemeinten Dialog auf. Es gilt, den grundsätz-lich freien Zugang zu Bildung zu erhalten – die Zielsetzung  soll dabei aber nicht nur die Ausbildung sein, sondern ebenso  Bildung im übergeordneten Sinne. Eine Bildung also, die eine Gemeinschaft mündiger Bürger*innen anstrebt.


Darüber hinaus freut es die Redaktion der ZUKUNFT einen the- matisch nicht gebundenen Beitrag von Friedrich Klocker publizieren zu dürfen, der den aktuellen Einsatz der Miliz im  Rahmen der Covid-Pandemie verdeutlicht. Der Autor arbeitet  dabei die strukturellen Defizite und Probleme des Bundeshee-res heraus, die sich aus der Tatsache der Abschaffung der re-gelmäßigen Milizübungen ergeben haben und ergeben. Dabei erhebt sich grundsätzlich die Frage, ob diese Entscheidung des seinerzeitigen Ministers Platter im Einklang mit den verfas-sungsrechtlichen Bestimmungen steht. Wenn also in der aktu-ellen Situation Verteidigungsministerin Tanner dieses Thema anspricht, so kann sie sich auf Modelle stützen, die seinerzeit, also vor Abschaffung der Milizübungen, vor allem mit Hilfe des Milizverbandes Österreich schon längst bestanden haben. Einen herzlichen Dank wollen wir erneut Reinhard Sieder  aussprechen, der von Scratched Lines bis Tabaco die Bildstrecke dieser Ausgabe mit wunderschönen Gemälden bereichert. Sein abschließender Artikel Die Refiguration des Abstrakten steht da-bei in direkter Korrespondenz mit jener Bildstrecke und jenem  Beitrag Sieders, die wir beide dankenswerter Weise schon in  der Ausgabe 03/2021 publizieren durften. And for those who  (wanna) know: Reinhard Sieder ist nicht nur ein äußerst sen- sibler Künstler, er ist darüber hinaus ein herausragender Ken- ner der Bildungssoziologie Pierre Bourdieus, wodurch sich aus Sicht der Redaktion auch visuell die bildungssoziologischen  Kreise schließen. So bleibt uns zum Ende hin nur, erneut darauf zu verweisen, dass wir jüngst mit unserer Homepage www.diezukunft.at on-line gegangen sind und wir ab April 2021 am letzten Dienstag des Monats eine Online-Diskussion zum jeweiligen Schwer-punktthema organisieren. Die Ankündigung findet sich am  Ende dieser Ausgabe … Die Redaktion hofft, dass diese Ausgabe der ZUKUNFT zu   Bildung – Eliten – Selektion ihren Leser*innen eine gute Stütze  bietet, um in diesbezügliche Diskussionen einsteigen zu kön-nen und sendet ihren Leser*innen herzliche und freundschaftliche Grüße! ALESSANDRO BARBERI ist Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent.  Er lebt und arbeitet in Wien und Magdeburg.  Politisch ist er in der SPÖ Landstraße aktiv. Weitere Infos und Texte   online unter: https://lpm.medienbildung.ovgu.de/team/barberi/ BIANCA BURGER  ist Redaktionsassistentin der ZUKUNFT und hat sich nach ihrem   geisteswissenschaftlichen Studium der Frauen- und Geschlechter- geschichte sowie der historisch-kulturwissenschaftlichen Europaforschung  in den Bereichen der Sexualaufklärung und der Museologie engagiert.   Die Historikerin und Kuratorin hat in ihrer Arbeit einen   sexualgeschichtlichen Schwerpunkt, arbeitet aber auch zu   regionalgeschichtlichen sowie interdisziplinären Themen.


Inhalt 6     Bildung und das Versprechen der Gleichheit    VON FLORIAN RAINER 8     Digital Divide    VON TIANTIAN TANG 12    Unterm Rad der Bildung    VON ERKAN OSMANOVIĆ 18    Sozialstaat – neu denken?    VON INGRID NOWOTNY 28    „Lerne einfach!“ Denkangebote zur Bildung    VON HEMMA PRAINSACK 30    „Mein Drama hat nicht stattgefunden“         VON KONRAD HEMPEL UND CLAUDIA LEHMANN 34    „Schreiben hat für mich mit dem Wunsch      nach Nähe zu tun“     VON DANIELA CHANA UND THOMAS BALLHAUSEN 44    Coda. Ein Postskriptum    VON THOMAS BALLHAUSEN UND BIANCA BURGER 48    Zur Abschaffung der Milizübungen    VON FRIEDRICH KLOCKER 52    Die Refiguration des Abstrakten    VON REINHARD SIEDER REINHARD SIEDER, SCRATCHED LINES (2017)ACRYL, GIPS, AUF LEINWAND 80 X 100 CM IMPRESSUM Herausgeber: Gesellschaft zur Herausgabe der Zeitschrift »Zukunft«, 1110 Wien, Kaiserebersdorferstraße 305/3 Verlag und Anzeigenannahme: VA Verlag GmbH,  1110 Wien, Kaiserebersdorferstraße 305/3, Mail an den Verlag: office@vaverlag.at Chefredaktion: Alessandro Barberi Stellvertretende Chefredaktion: Thomas Ballhausen  Redaktionsassistenz: Bianca Burger Redaktion: Julia Brandstätter, Hemma Prainsack, Katharina Ranz, Constantin Weinstabl Online-Redaktion: Bernd Herger Mail an die Redaktion: redaktion@diezukunft.at Cover: Reinhard Sieder (2017) Scratched Lines © Reinhard Sieder


 6 | ZUKUNFT  Ein elitäres und selektives Bildungssystem entsteht durch eine Idee der Ungleichheit. Die Einforderung von Gleichheit setzt diese Ungleichheit voraus. Im Kontext des neoliberalen Umbaus der Gesellschaft und der damit verbundenen Bil-dungspolitik hat sich diese Funktionslogik der Ungleichheit weiter fortgeschrieben.  FLORIAN RAINER  formuliert eine  kleine Anmerkung zum Widerspruch, die dem Bildungsbegriff innewohnt. Bildung und das   Versprechen der Gleichheit BILDUNG UND DAS VERSPRECHEN DER GLEICHHEIT  VON FLORIAN RAINER  I.  BILDUNG UND DAS VERSPRECHEN DER  GLEICHHEIT Bildung wird als die Möglichkeit von Wirklichkeit ver- standen. Bildung als das Noch-Nicht von Möglichem. Eine Möglichkeit, die wir uns vorstellen, die wir verwirklichen wollen. Und jeder Mensch verwirklicht seine Möglichkeiten unterschiedlich. Jeder Mensch lernt die Welt anders kennen. Das hat Gründe. Jeder Bildungsvorgang eines Menschen ist individuell, hat ungleich Zeit und Raum. Denn in Klassen-gesellschaften korreliert die Möglichkeit von Bildung mit den Differenzierungen der sozialen Klassen, die sich entlang der Stellung in den Produktionsverhältnissen herausgebildet ha-ben. Die sozialen Klassen unterscheiden sich in der Art der Tätigkeit sowie in der Entlohnung dieser Tätigkeit, und da-von hängen Einkommen, Vermögen und Aufstiegschancen ab. Das hat Auswirkungen auf politische Teilhabe. Wir bemü-hen dafür Bilder: Schere, Kluft, Graben, Rand. Die Reichen tragen Lasten, die Armen werden gestützt. Die Metaphorik ist verächtlich. Die Verteilung von materiellen und immateriellen Res- sourcen (Einkommen, Vermögen, Bildung, Gesundheit, So-zialraum) ist also ungleich. Daraus ergeben sich folglich un-gleiche Möglichkeiten sein Leben zu gestalten und Ideen zu verwirklichen. Ohne Geld kein Auskommen, so die Devise. Ohne Bildung und soziale Beziehungen wird es entsprechend schwieriger. Das ist ein Problem, denn damit ist keine vor-übergehende Ungleichheit beschrieben, sondern ein dauer-hafter, systematischer Zustand. Über Generationen hinweg. Kinder haben kaum eine Möglichkeit sich der sozialen Un-gleichheit zu widersetzen. Es macht einen deutlichen, ver-meintlich feinen Unterschied, ob du ein regelmäßiges Mehr  oder Weniger von den Bedingungen des Möglichen hast. Doch das Problem zu lösen ist zumindest denkmöglich, denn Sachzwänge – im Sinne der Produktionsbedingungen – sind nicht zu erkennen. Die nachfolgenden Generationen bilden ihre jeweilige so- ziale Herkunft ab und dies zeigt sich empirisch belegbar (und prognostisch) in den Dimensionen der Bildung, des kulturel-len Geschmacks, im Lebensstil. Wir tragen die Geschichten unserer Familie und Klasse in uns. Die soziale Differenzierung durch ökonomische Ungleichheit drückt sich in der Sprache und der Symbolik aus – eigentlich in der gesamten Ausstrah-lung. Die Bildungserfahrungen, die wir durch unsere Familien und Freund*innen machen, prägen unseren Habitus. Bewusst und unbewusst. Der Habitus ist demnach als die Gesamtheit all unserer klassenspezifischen Erfahrungen (wie Normen und Werte) zu verstehen, der die Wahrnehmung, das Denken so-wie das Handeln strukturiert. Der Mensch drückt das kon-kret durch seinen Lebensstil, wie dem Essen, der Kleidung und der Kultur als Kunstform aus. Eine träge und stabile Ein-verleibung eines jeweiligen kulturellen Geschmacks, die der Mensch nicht so schnell los wird. So reproduzieren sich Ver-hältnisse der sozialen Ungleichheit durch Bildungserfahrun-gen innerhalb einer Klassengesellschaft. Die soziale Interakti-on findet entlang ökonomischer Linien statt. II.  WARUM HÄLT DER MENSCH DIE GRENZEN  DER UNGLEICHHEIT STABIL? Statusangst in der Klassengesellschaft. Die Angst vor dem  Abstieg prägt das Verhalten (vgl. Nachtwey 2016), weil die Chance auf die Verwirklichung der Möglichkeiten bewahrt 


werden will. Privilegien aufgeben? Schwierig. So grenzt sich der Mensch durch seinen Lebensstil von der jeweils unteren Schicht ab. Die Orientierung für einen legitimen Lebensstil bieten folglich die oberen Klassen, die sich durch eine symbo-lische Herrschaft im sozialen Raum kennzeichnen. Ein mög-lichst hohes Volumen an ökonomischen, kulturellen und sozia-len Kapitalien bedeutet auch Teil der Oberklasse zu sein. Damit geht symbolische Herrschaft einher. Sie orientiert die Verwirk-lichung von Möglichkeiten, auf Basis einer Wirtschaftsweise, die einer Logik der Ungleichheit folgt (vgl. Piketty 2013). Sym-bolische Herrschaft heißt den Anderen Grenzen setzen. Pierre Bourdieu bringt diese Zusammenhänge in Die fei- nen Unterschiede (1982) auf den Punkt und führt die Kapital-theorie von Karl Marx fort, indem er – nebst dem ökono-mischen Kapital – auch auf kulturelle und soziale Kapitalien hinweist. Wir wollen unsere gesellschaftliche Position in sozi-aler Anerkennung und materieller Sicherheit zumindest nicht verringern und spielen demnach ein Spiel auf allen Ebenen, das wir letzthin sogar verkörpern. Institutionalisierte Bildung und formale Abschlüsse scheinen für das Spiel um Status ein probates Mittel. Und nicht zufällig trägt Bourdieus 1971 (ge-meinsam mit Jean-Claude Passeron) veröffentlichte Studie den bezeichnenden Titel Die Illusion der Chancengleichheit. Individu-elle Schulerfolge sind stets mit klassenspezifischen Ungleich-heiten verbunden, denn symbolische Herrschaft schreibt sich im Schultypus, der Didaktik sowie der Leistungsüberprüfung fort. Soziale Herkunft und Schulerfolg stehen in einem engen Zusammenhang und reproduzieren die Verteilung von gesell-schaftlichen Positionen. Die Herstellung von Gleichheit im Schulwesen ist somit eine Voraussetzung für Ungleichheit so-wie ihrer gesellschaftlichen Anerkennung. III.  FORMALE GLEICHHEIT ALS PRINZIP Das öffentliche Bildungssystem hat die Aufgabe mit den  Mitteln und Möglichkeiten, die wir ihm zusprechen, die Teil-habe der Menschen innerhalb der Gesellschaft zu organisie-ren. In Österreich heißt das, dass unterschiedliche Bedürfnis-se und Erfordernisse der nachfolgenden Generationen formal gleich behandelt werden. Das ist weder Chancengleich-heit noch Chancengerechtigkeit (vgl. Erkurt 2020). Formale Gleichheit ist ein Widerspruch, insbesondere vor dem gegen-wärtigen Hintergrund von Kapital und Arbeit. Es ist klar zu benennen: Die Vorenthaltung von Möglich- keiten ist Herrschaftsstrategie. Das ist soziale Ungerechtigkeit.  Wird Bildung in einem ermächtigenden Sinne verstanden als Selbsttätigkeit, die das Herrschaftliche zurückweist, dann muss hier ein Widerspruch markiert werden. Wenn Bildung das zu sich selber kommen des Menschen ist, die Erfüllung aller Möglichkeiten, dann ist es nicht allen Menschen mög-lich, dieses Versprechen einzulösen. Bildung ist immer Hoff-nung und Herrschaft zugleich. Diese Gegensätze müssen zu-sammengedacht werden. Sie sind notwendiger Bestandteil der Praxis. Jedoch ist es ein Widerspruch ein Mehr an Bildung – unter neokapitalistischen Wirtschaftsformen – zu fordern, wenn die Aufhebung von sozialen Ungleichheiten ausschließ-lich durch Bildung angegangen wird. Darin liegt ein falsches Versprechen (El-Mafaalani 2020). Dynamiken der Marktgesellschaft schreiben sich in unser  Leben ein (vgl. Jaeggi 2020). Der freie Wettbewerb um Kapi-tal durchdringt unsere Lebensformen (vgl. Illouz 2011), sodass Probleme, die dem Kapitalismus innewohnen, sich mit gesell-schaftlichen Zwecken verschränken. Das Wort frei  im vor-hergehenden Satz gibt uns diesen Hinweis der widersprüch-lichen Verschränkung von gesellschaftlichen Zwecken. Denn die Selbstvermarktung als Ideologie wird über die Bildung als kulturelles Kapital vorgenommen. Bildung ist auch (inhaltlich) Teil der ideologischen Beschaffenheit des Kapitalismus. LiteraturBourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftli- chen Urteilskraft, Frankfurt am Main: Suhrkamp.  El-Mafaalani, Aladin (2020): Mythos Bildung. Die ungerechte Gesellschaft,  ihr Bildungssystem und seine Zukunft, Köln: Kiepenheuer & Witsch. Erkurt, Melisa (2020): Generation Haram, Wien: Zsolnay.Illouz, Eva (2011): Warum Liebe weh tut, Berlin: Suhrkamp.Jaeggi, Rahel/Fraser, Nancy (2020): Kapitalismus. Ein Gespräch über Kri- tische Theorie, Berlin: Suhrkamp. Nachtwey, Oliver (2016): Die Abstiegsgesellschaft. Über das Auf begehren  in der regressiven Moderne, Berlin: Suhrkamp.  Piketty, Thomas (2013): Das Kapital im 21. Jahrhundert, München: C.H.  Beck. FLORIAN RAINER  ist Universitätsassistent am Institut für Bildungswissenschaft der  Universität Wien. Mail: florian.rainer@univie.ac.at  ZUKUNFT | 7 


 8 | ZUKUNFT  I. EINLEITUNG Der Begriff „digital divide“ entstammt einer vergleichen- den Perspektive der sozialen und informationsbezogenen Un-gleichheit. Bei der Diskussion darüber, inwieweit digitale Medien diese Kluft hervorgebracht bzw. vergrößert oder ver-kleinert haben, wird zwischen „first-level-divide“ und „se-cond-level-divide“ differenziert (Warschauer 2003; van Dijk 2005). Während die Analyse von „first-level-divide“ sich auf den individuellen Zugang zur Internet-Infrastruktur konzen-trierte, bezieht sich „second-level-divide“ auf Fähigkeiten und Nutzungsmuster (vgl. ebd.). In diesen Forschungen über  „digital divide“ als „digitale Kluft“ werden die Problemberei-che ungleicher sozialer Verhältnisse und mangelnder sozialer Partizipation diskutiert, die beide zu überbrücken sind. So sind auch in der Weiterentwicklung digitaler Transfor- mation neue Arten der Spaltung zu beobachten, die als „zero-level“ bezeichnet werden (vgl. Iske, Klein & Verständig 2016). Personengruppen mit unterschiedlichen Zugangsmöglich-keiten und differenzierter Wissensbasis werden aufgrund der infrastrukturell-technologischen Struktur des Internets vor-aussichtlich unterschiedliche Entscheidungs- und Handlungs-möglichkeiten bei der Technologieanwendung aufweisen (vgl. ebd.). Dieser Text greift deshalb kursorisch auf Forschun-gen über diesen „zero-level“ zurück und knüpft an Bourdi-eus Konzepte des „Habitus“ (Bourdieu 1979) und des „kultu-rellen Kapitals“ (Bourdieu 1983) an. Konzepte, mit denen die vorhandenen unterschiedlichen Möglichkeiten beim Umgang mit digitalen Medien als Ungleichheit der Teilhabe an Gesell-schaft bzw. Verfügung über gesellschaftliche Ressourcen be-griffen werden können, wobei damit auch der Tendenz nach individuell gewählte Handlungsweisen und persönliche Präfe-renzen verstanden werden können. II. NETZNEUTRALISIERUNG Um einem Missverständnis vorzubeugen, möchte ich die  „Neutralität“ der Datenübermittlung im Internet anhand des medientheoretischen „Botenmodells“ (Krämer 2008) erläu-tern. Es wird von Algorithmus-Kritiker*innen immer wie-der betont, dass Algorithmen sich manipulierend auswirken und die Rechentechniken nur das Interesse der Besitzenden widerspiegeln, was oft im Blick auf die Massenmedien her-vorgehoben wird. Doch ist dem Algorithmus bei der Da-tenübertragung nicht Selbstbestimmtheit, sondern Fremdbe-stimmtheit auferlegt. Als Bote spricht der Algorithmus „mit fremder Stimme, also nicht ‚im eigenen Namen‘“ (Krämer 2015). Die Außenbedingtheit geht zunächst auf die Selbstneu-tralisierung des Algorithmus bei der Datenübermittlung zu-rück: Für diese Art der Datenübertragung spielt es also keine Rolle, um welche Art von Daten es sich handelt, zu welchem Zielknoten Daten übermittelt werden oder von welchem Ausgangsknoten sie kommen (vgl. Goldsmith & Wu 2006). Außerdem ist die Struktur des Internets durch Hypertextua-lisierung gekennzeichnet. Die Texte verweisen durch Hyper-links gegenseitig aufeinander. Algorithmen arrangieren etwa beim Suchen die Informationen und sind dabei auf jene für Nutzer*innen sichtbaren Informationen bezogen, die diese Nutzer*innen aktiv ausgewählt und anerkannt haben. Nicht der Algorithmus selbst verleiht also bestimmten Informatio-nen mehr Wichtigkeit, sondern z. B. das aktive Zitieren ande-rer Webseiten, die von Nutzer*innen verlinkt werden. Des Weiteren ist diese Neutralisierung des Algorithmus  auch aus einer Logik des Verschwindens erklärbar. „Medi-en vergegenwärtigen, indem sie selbst dabei zurücktreten und unterhalb der Schwelle des Wahrnehmens verbleiben: So kann das Vermittelte als ein ‚Unmittelbares‘ erscheinen“ (vgl.  DIGITAL DIVIDE  VON TIANTIAN TANG Der Beitrag von  TIANTIAN TANG  bezieht Fragen der sozialen Ungleichheit auf aktuelle Formen der Technologie und  betont, dass sich auch angesichts des „digital divide“ soziale Unterschiede reproduzieren, die einer Demokratie nicht würdig sind. Digital Divide


 ZUKUNFT | 9  Goldsmith & Wu 2006). In Wahrheit ist also eines der Ziele der Algorithmik, dass die Nutzer*innen die Existenz der Al-gorithmen vergessen. III.  DIFFERENZ ALS MANIFESTATION DES  HABITUS Hinsichtlich der Netzneutralisierung kann man also den  „digital divide“ vor dem Hintergrund der individuellen Per-sonalisierung auch als individuelle Diversität verstehen, die bestehende differenzierte Handlungsmuster reproduziert und möglicherweise verstärkt. Unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen besitzen verschiedene inkorporierte, verinnerlichte kulturelle Kapitalien, die dann in einem großen Ausmaß be-stimmen, in welcher Form Akteur*innen mit digitalen Medi-en interagieren (Bourdieu 1983). „Was Technik […] trotz aller nützlichen Errungenschaften nicht hervorbringt, ist die Ein-sicht in und ein Urteil über die praktische Situation, in der sie eingesetzt werden soll“ (Hörning 2001: 165). Im Rekurs auf Bourdieus Theorie lassen sich also auch Formen der In-ternetnutzung als distinktive Handlungen verstehen, die von Akteur*innen innerhalb einer Vielfalt möglicher Handlungs-weisen vollzogen werden. IV.  SINGULARISIERUNG UND  STANDARDISIERUNG  Trotz der Vorprogrammierung bestimmter Merkmale und  Charakteristika werden mithin Nutzer*innen durch die Aus-wertung großer Datenmengen als Singularität begriffen, an-statt sie im Blick auf eine gesellschaftliche Allgemeinheit zu typisieren. In sozialen Netzwerken werden den Menschen – z. B. abhängig von ihren Freund*innen und Vorlieben – nur speziell ausgewählte Inhalte angezeigt. Suchmaschinen über-nehmen die Auswahl von Inhalten im Rahmen der individu-ell am häufigsten aufgerufenen Suchergebnisse. Als Ergebnis werden den Nutzer*innen dann personalisierte Trefferlisten angezeigt, die zu den vergangenen Suchanfragen und zu in der Vergangenheit gewählten Treffern der Suchenden passen. Andreas Reckwitz betrachtet diese Ambivalenz von Singulari-sierung und Standardisierung als sozial-kulturelle Fabrikation der Einzigartigkeit(en). Reckwitz unterscheidet dabei „Sin-gularität“ von Becks „Individualisierung“ insofern, als der Begriff der Individualisierung bei Ulrich Beck mit der Frei-setzung der Individuen aus kollektiven Bindungen verknüpft ist (vgl. Beck 1986: 206), während Reckwitz den Singulari-sierungsprozess nicht als Freisetzungsprozess begreift, sondern  „Praktiken der Singularisierung, Kulturalisierung und Valori-sierung“ (Reckwitz 2018: 64 ff.) in den Blick nimmt. Es geht mithin um Praktiken, in denen soziale Akteur*innen katego-risieren und bewerten, was ihnen einzigartig erscheint und was nicht (vgl. ebd. 51). Der Prozess der Singularisierung birgt aber auch Risiken des „Profilierungszwangs“ (ebd. 266) im Sichtbarkeits- und Aufmerksamkeitswettbewerb in sich, der wiederum zu einer Anpassung an die Formalisierung und die soziale Erwartung führt. V.  VON DIGITALER SPALTUNG ZUR DIGITALEN  DIFFERENZIERUNG Im Hinblick auf die neue digitale Ungleichheit („zero-  level“), die zutiefst mit algorithmischen Berechnungs-strukturen verbunden ist, sollte also eine neue Lesart von  „digital divide“ in den Blick genommen werden. Der    „digital divide“ wird dabei nicht nur als eine „Kluft“ verstan-den, die überwunden werden muss, sondern als Effekt der Pluralisierung durch die unterschiedlichen Nutzungsmöglich-keiten mit digitalen Medien. Damit digitale Medien als Mit-tel individueller Entfaltungschancen benutzt werden können, sollte man also zunächst algorithmische Personalisierung als dynamische Kommunikation deuten, die auch das Verhalten der Nutzer*innen einschließt. So werden auch demokratiepo-litisch die expressiv-mitteilenden Outputs der Akteur*innen (z. B. Programmierer*innen oder Nutzer*innen) als aktuel-le Artikulation begriffen, durch die unter Verwendung von  Maschinen kommuniziert werden kann. TIANTIAN TANG  ist Doktorandin am Institut für Bildungswissenschaft der   Universität Wien und Mitglied der Wiener Medienpädagogik.   Ihr Forschungsinteresse liegt im Grenzgebiet von Medienpädagogik,   Phänomenologie und Soziologie.


 10 | ZUKUNFT  LiteraturBeck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft – Auf dem Weg in eine andere  Moderne, Berlin: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (1979): Entwurf einer Theorie der Praxis: auf der ethno- logischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Berlin: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, sozia- les Kapital, in: Kreckel, R. (Hg.): Soziale Ungleichheiten. Sonderband 2 der Zeitschrift Soziale Welt, Göttingen: Schwartz, 183–198. Goldsmith, Jack/Wu, Tim (2006): Who Controls the Internet? Illusions of  a Borderless World, New York: Oxford University Press. Hörning, Karl H. (2001): Experten des Alltags. Die Wiederentdeckung des  praktischen Wissens, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Krämer, Sybille (2008): Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik  der Medialität, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Krämer, Sybille (2015): Selbstzurücknahme. Reflexionen über eine me- dientheoretische Figur und ihre (möglichen) anthropologischen Di-mensionen, in: Gronau, Barbara/Lagaay Alice (Hg.): Ökonomien der Zurückhaltung, Bielefeld: transcript, 39–52. Reckwitz, Andreas (2018): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum  Strukturwandel der Moderne, 5. Auflage, Berlin: Suhrkamp. Van Dijk, Jan (2005a): The Deepening Divide. Inequality in the Informa- tion Society, London: Thousand Oaks, CA. Verständig, Dan/Klein, Alexandra/Iske, Stefan (2016): Zero-Level Digital  Divide. Neues Netz und neue Ungleichheiten. Sozial: Analysen, Be-richte, Kontroversen (SI:SO); 21 (2016) 1, 50–55. Warschauer, Mark (2003): Technology and Social Inclusion. Rethinking  the Digital Divide, Cambridge, MA: MIT Press. DIGITAL DIVIDE  VON TIANTIAN TANG


 ZUKUNFT | 11  Birken (2017)Acryl, Gips auf Leinwand  120 x 80 cm REINHARD SIEDER


 12 | ZUKUNFT  UNTERM RAD DER BILDUNG  VON ERKAN OSMANOVIĆ I. EINLEITUNG  Ein Tag in der Schule: Mathematik, Deutsch, Geografie,  Musik und dann noch Turnen. Alles an einem Tag. Die Ge-biete und Lehrpläne abgetrennt voneinander. Man lernt et-was über den Kalten Krieg, lernt den Satz des Pythagoras und hört vom Bruttosozialprodukt. Am Ende des Tages bleibt aber nichts in den Köpfen der Schüler*innen hängen – au-ßer: Frust und Langeweile. Ob das wirklich Lernen oder gar Bildung ist?  Als unser heutiges Schulsystem entstand, wusste man noch  nichts über Lernen und Kinder. Man wollte es auch nicht wissen. Denn es ging nur darum Nachschub für Ämter und Magistrate hervorzubringen. Am Anfang stand also die Frage: Wen kann die Verwaltung gut gebrauchen? Die 50-Minuten-Unterrichtseinheiten oder das Pausensystem, die Noten – all das war vom Militär entlehnt und diente nur dem Normieren und Vergleichen. Ein Blick auf die individuellen Neigungen und Bedürf- nisse der Schüler*innen war darin nicht vorgesehen. Doch ist es heute nicht noch immer so? Wie wurde unsere Schule zu dem, was sie nun ist? Wie lassen sich Erkenntnisse der Wis-senschaft mit Gedanken und Warnungen aus den Romanen Unterm Rad und Die Verwirrungen des Zögling Törleß verbinden?  II.  FACHKRÄFTEMANGEL IM HAUSE HABSBURG Schon 1749 heißt es: Österreich braucht Fachkräfte! An- ders als heute ist aber nicht die Rede von Ingenieur*innen oder Naturwissenschaftler*innen, sondern von Beamt*innen. Und Österreich ist noch nicht Österreich, sondern immer noch die Habsburgermonarchie. Anders als jetzt, ist es auch nicht  die Wirtschaft, sondern der Staat, der gut ausgebildete  Menschen benötigt hat. Doch warum so spät? Wie konnte das gewaltige Habsburgerreich bisher ohne Beamt*innen aus-kommen? Und was hat das alles mit der Schule zu tun?  1713 legt Kaiser Karl VI. mit der Pragmatischen Sanktion die  Unteilbarkeit und Untrennbarkeit der habsburgischen Länder und Königreiche fest. Aus der Personalunion wird eine Real-union. Anders gesagt: Die Länder der Habsburgermonarchie werden nicht mehr allein durch den Monarchen zusammen-gehalten, sondern besitzen nun auch gemeinsame Staatsorga-ne und Verwaltungen. Außerdem ist jetzt auch die weibliche Erbfolge und damit auch Karls Nachfolgerin möglich: Ma-ria Theresia.  Kaum auf dem Thron entmachtet sie die Adeligen und  Geistlichen und ersetzt sie durch Staatsbedienstete in der Ver-waltung. Der Dienstadel ist damit Geschichte – doch warum eigentlich? Die Vorteile liegen auf der Hand: Beamt*innen können überall eingesetzt werden, man kann sie disziplinie-ren und sie sind finanziell und sozial abhängig vom Staat. Mehr Beamt*innen bedeutet damit auch mehr Kontrolle und Macht. Ein Traum für die absolutistisch regierende Monar-chin. Der Plan scheint gut, doch er droht zu scheitern. Denn es fehlt an gut ausgebildeten Menschen.  Maria Theresias Problem: Für Bildung war bisher vor al- lem die Kirche zuständig. Zwei Orden teilten sich die Auf-gabe: die Piaristen sorgten für die Elementarausbildung und die Jesuiten für den Unterricht an Universitäten – was ne-ben anderen auch den Nachteil hatte, dass man bis 1778 nur als Katholik*in einen akademischen Grad erwerben konnte.  Damit sollte nun Schluss sein. Die Monarchin beauftragte  Gerard van Swieten eine Schulreform zu veranlassen. Gesagt,  Unterm Rad der Bildung Wie unser Schulsystem entstanden ist, welche Fehlentwicklungen es gab und wie diese Eingang in die Literatur gefunden haben, thematisiert  ERKAN OSMANOVIĆ  in seinem Denkanstoß zur (aktuellen) Rolle der Schule und deren Zukunft. 


 ZUKUNFT | 13  getan: Zwischen 1749 und 1760 wurde das Schulsystem er-neuert und modernisiert. Und im Jahr 1774 wird noch unter Maria Theresia die Allgemeine Schulordnung erlassen: alle Kin-der im Alter von sechs bis zwölf Jahren müssen nun eine Schu-le besuchen – ob private, kirchliche oder öffentliche Schule, spielt dabei keine Rolle. Schließlich ist die Schule ja kein Ort zum Lernen oder Forschen. Ihr Sohn und Nachfolger Joseph II. zeigt in einer Resolution vom 25.11.1782, worum es beim Schulbesuch geht. Dabei spricht er von Universitäten, was aber nicht verwirren sollte. Denn damalige Universitäten wa-ren nichts anderes als Schulen für ältere Schüler*innen – For-schung und Wissenschaft kamen dort nicht vor: „Es muß nichts den jungen Leuten gelehrt werden, was sie  nachher als seltsam, oder gar nicht zum Besten des Staates ge-brauchen, oder anwenden können, da die wesentlichen Stu-dien in Universitäten für die Bildung der Staats Beamten nur dienen, nicht aber der Erziehung Gelehrter gewidmet seyn müssen, welche, wenn sie die ersten Grundsätze wohl einge-nommen haben, nachher sich selbst ausbilden müssen, und glaube nicht, daß ein Beispiel seye, daß von der blossen Ca-theder herab einer so geworden seye […].“ Diskussionen über Gott und die Welt? Bitte nur in den ei- genen vier Wänden. Dagegen heißt es in der Schule: Lernen, lernen, lernen – und das am besten auswendig. Der Unter-richt ist keiner. Lehrende lesen laut aus dem lateinisch verfass-ten Lehrbuch vor; Prüfungen verlangen die wörtliche Wie-dergabe von Texten; Sitze werden durchnummeriert und Schüler*innen zugeteilt, jedes halbe Jahr gibt es einen Wech-sel der Nummern und damit der Sitzreihen. So soll verhindert werden, dass es zu engerem Kontakt oder gar Freundschaften zwischen den Schüler*innen kommt. Die Schule als Institution nimmt immer mehr Gestalt an.  Im März 1848 gibt es bereits ein Ministerium des öffentlichen Un-terrichts, das wenig später zum Ministerium für Cultus und Unter-richt wird. Die Schule ist nicht nur in der Verwaltung, sondern der Politik angekommen. Immer mehr Schüler*innen strö-men in die Klassen – die neuen Schulreformen sind ihnen da-bei ganz dicht auf den Fersen: Wo einst ein*e Lehrer*in alles unterrichtete, kommen nun Fachlehrer*innen zum Einsatz; die Matura wird eingeführt und neue Fächer kommen auf. Es wird gestritten. Die einen bestehen auf mehr Latein und hu-manistischen Traditionen, die anderen fordern reale Bildung, wie Ökonomie und Mathematik. Die Stundenpläne werden vollgepackt – genauso wie die Köpfe der Schüler*innen. Es  ist die Rede von Überbürdung der Schüler*innen. Und damit liegt man nicht ganz falsch.  III.  TAKT DES ÜBELS Ab 1869 müssen alle bis zum 14. Lebensjahr in die Schu- le. So will es das Reichsvolksschulgesetz. Österreich nimmt sich ein Vorbild an dem durchgetakteten Schulwesen Preußens. Das wiederum wird angetrieben durch den Ehrgeiz und Ruf nach Revanche: Der preußische König Friedrich Wilhelm III. hat nach Niederlagen gegen die Truppen Napoleons schwere Gebietsverluste in Jena und Auerstedt erleiden müssen, durch eine verbesserte Schulbildung will er nun die geistigen Kräfte des Volkes für einen nationalen Neuanfang stimulieren. Nach dem Motto: Nicht für das Leben, sondern für den Staat lernt man.  Die Industrialisierung erfasst die Monarchie, neben Gym- nasien entstehen immer mehr Realschulen. Die Schüler*innen lernen das Leistungsprinzip kennen: Aufnahmeprüfungen kommen auf und mit ihnen erneute Rufe gegen die Über-bürdung der Schüler*innen. Der Druck auf die Jugendli-chen ist enorm. Für sie gilt es weiterhin Sätze aus dem Lehr-buch zu memorieren und wiederzukäuen. Eigene Ideen und Wortmeldungen? Unerwünscht. Wer das missachtet, muss mit Schlägen und Schikanierungen rechnen. Auch im 20. Jahr-hundert ähnelt die Schule mehr einer Militärakademie. Doch wohin mit den eigenen Vorstellungen, Sehnsüchten und Wünschen? Vielleicht ins Tagebuch? Im Unterricht sind sie jedenfalls nicht gefragt. Hier zählt nur die Leistung. Egal was es kostet. Den Takt gibt die Schule vor – die Schüler*innen haben zu sputen. Wer nicht mitkommt, hat Pech gehabt. Was für Folgen ein solches Ranhalten haben kann, er- zählt Hermann Hesse in seinem 1906 erschienen Unterm Rad. Der Roman dreht sich um den begabten Hans Giebenrath. Er sei, so erzählt man, zu Großem bestimmt. Deswegen lernt er Tag und Nacht. Schließlich schafft er es auf die Maulbronner Klosterschule. Doch dort bestimmen Angst, Drill und Strafe den Alltag. Gerne würde er, wie sein Mitschüler Hermann, auf alle Regeln pfeifen, Gedichte schreiben und seine Jugend genießen. Doch er darf nicht, oder doch?  „Beim Lesen und Arbeiten hatte Hans große Mühen,  aufmerksam zu sein. Was ihn nicht interessierte, glitt ihm schattenhaft unter den Händen weg, und die hebräischen Vo-kabeln mußte er, wenn er sie in der Lektion noch wissen 


 14 | ZUKUNFT  UNTERM RAD DER BILDUNG  VON ERKAN OSMANOVIĆ wollte, erst in der letzten halben Stunde lernen. Häufig aber kamen jene Momente körperhafter Anschauung, daß er beim Lesen alles Geschilderte plötzlich dastehen, leben und sich bewegen sah, viel leibhaftiger und wirklicher als die nächs-te Umgebung. Und während er mit Verzweiflung bemerkte, daß sein Gedächtnis nichts mehr aufnehmen wollte und fast täglich lahmer und unsicherer wurde, überfielen ihn zuwei-len ältere Erinnerungen mit einer unheimlichen Deutlich-keit, die ihm wunderlich und beängstigend erschien. Mit-ten in der Lektion oder bei einer Lektüre fiel ihm manchmal sein Vater oder die alte Anna oder einer seiner früheren Leh-rer oder Mitschüler ein, stand sichtbar vor ihm und nahm für eine Weile seine ganze Aufmerksamkeit gefangen. Auch Sze-nen aus dem Stuttgarter Aufenthalt, aus dem Landexamen und aus den Ferien erlebte er wieder und wieder, oder er sah sich mit der Angelrute am Flusse sitzen, roch den Dunst des sonnigen Wassers, und zugleich kam es ihm vor, als liege die Zeit, von der er träumte, um ganze lange Jahre zurück“ (Hesse 2010: 103). Es dauert nicht lange und Hans bricht zusammen und  kehrt zurück in seinen Heimatort, wo er eine Mechaniker-lehre beginnt. Der Sommer kommt. Die Schule mit all ihren Qualen und dem Druck scheint vergessen. Auch die Kopf-schmerzen, die ihn geplagt hatten, sind verschwunden. Die erste Liebe tritt in sein Leben. Dann ein Festbesuch mit ande-ren Lehrlingen. Der erste Schluck Alkohol: zuerst ein Trop-fen, dann viele. Es wird spät. Am nächsten Tag schwimmt Hans’ Körper tot in einem Fluss. War es ein Unfall? Oder doch ein Suizid? War es der Druck des Vaters? Die Ansprüche der Klosterschule?  Ist Schule wirklich nur ein Ort des Lernens? Und muss  Lernen gleich Pauken bedeutet? Bedeutet Bildung nicht mehr als Faktenwissen? Sollte Schule nicht auch ein Ort der Be-gegnung und des Miteinanders sein? Ja, war und ist das nicht sogar der Hauptzweck unseres Schulsystems? Wenn ich über mein Smartphone mit drei, vier Klicks auf das gesamte Wis-sen der Welt zugreifen kann, wozu sollte ich noch Dinge in der Schule auswendig lernen? Für einen Einser oder Zweier? Kommt es nicht auf mehr an? In seinem 1906 erschienen Roman Die Verwirrungen des  Zögling Törleß spielt Robert Musil durch, was Schule neben Unterricht und Zensuren noch bedeuten kann. Die Inter-natsschüler Reiting und Beineberg haben sich ihren Klassen-kameraden Basini zum Ziel ihrer Aggression und sexuellen  Manipulation auserkoren. Törleß beobachtet das Treiben. Er ist entsetzt und auch fasziniert. Doch eigentlich beschäftigt ihn ganz anderes: Gibt es mehr als das logische Denken und Erfahren? Törleß denkt über das Leben nach und über die Rolle, die er darin einnehmen will. Das Erwachsenwerden verwirrt ihn, wie sich in einem Gespräch mit seinem Mathe-matiklehrer zeigt:  „Ich habe vielleicht noch zu wenig gelernt, um mich  richtig auszudrücken, aber ich will es beschreiben. Eben war es wieder in mir. Ich kann es nicht anders sagen, als daß ich die Dinge in zweierlei Gestalt sehe. Alle Dinge; auch die Ge-danken. Heute sind sie dieselben wie gestern, wenn ich mich bemühe, einen Unterschied zu finden, und wie ich die Au-gen schließe, leben sie unter einem anderen Lichte auf. Viel-leicht habe ich mich mit den irrationalen Zahlen geirrt; wenn ich sie gewissermaßen der Mathematik entlang denke, sind sie mir natürlich, wenn ich sie geradeaus in ihrer Sonderbarkeit ansehe, kommen sie mir unmöglich vor. Doch hier mag ich wohl irren, ich weiß zu wenig von ihnen.“ (Musil 2013: 218) Musils Roman zeigt nicht nur die Unebenheiten der Ju- gendjahre im Herzen und Kopf, sondern auch die Schule als Gesellschaft im Kleinen. Konkurrenz- und Anpassungsdruck können den Schulalltag zur Folter machen. Der Begriff Mob-bing mag neu sein, aber das Phänomen ist uralt. Der Zögling Törleß ist eine Versuchsanordnung: Was macht Macht mit ei-nem jungen Menschen? Kann sich der Einzelne gegen eine Masse behaupten? Und wann beginnt man schließlich die Regeln der Stärkeren zu inhalieren?  IV.  SCHULE SOLL BEZAUBERN Die perfekte Schule? Gibt es nicht. Es wird sie auch nie  geben. Oder wie sollte eine Schule aussehen, die den indi-viduellen Vorstellungen von Millionen von Menschen ent-spricht? Perfektion ist also keine Kategorie. Doch verbessern könnte man doch noch so einiges. Das könnte muss gestrichen werden, das Schulsystem muss verändert werden. Schließlich stecken wir mitten in der Digitalisierung. Roboter und Com-puter-KI erledigen bereits jetzt immer mehr Aufgaben in un-serer Gesellschaft. Das bleibt nicht ohne Folgen. So werden laut einer Oxford-Studie bis 2030 rund 47 Prozent aller Ar-beitsplätze in den USA verschwunden sein. Das Schicksal Eu-ropas wird dem ähneln. Das Schulsystem muss also Neues leis-ten und nicht bloß Fakten in uns hineinprügeln. Doch was gilt es zu tun? 


 ZUKUNFT | 15  Nur einige Gedanken dazu: Etwa aus den Fehlern der Ver- gangenheit lernen oder die Erkenntnisse der Hirnforschung und Entwicklungspsychologie ernst nehmen. Denn eines ist klar: Kinder wollen lernen, aber nicht belehrt werden. Die in-trinsische Motivation ist es die zählt, nicht die Stimmen der Eltern und Lehrer*innen. Doch was tun, wenn sich Schüler*innen nicht selbst für  Fächer wie etwa Geschichte oder Musik begeistern können, aber Französisch großartig finden? Kein Problem: vergessen wir Fächer. Wer sagt denn, dass Musik, Geschichte oder Fran-zösisch getrennte Fächer bleiben müssen? Eben – niemand. Warum also nicht weg von Schulfächern hin zu Projekten? In einem Projekt zur Französischen Revolution könnte man im Geschichteunterricht etwas über die Finanzkrise jener Jah-re erfahren, die politischen Postulate und literarischen Tex-te aus diesen Tagen im Französischunterricht besprechen und die Instrumentalisierung von Liedern und Märschen im Mu-sikunterricht analysieren. Plötzlich wären Schule und Lernen näher am Leben. Außerdem wären durch ein solches Unter-richtsmodell auch die Lehrer*innen gezwungen stärker mit-einander zusammenzuarbeiten, so würde man auch einer Überbürdung der Schüler*innen mit Schulstoff einen Riegel vorschieben. Die Schule sollte alle Schüler*innen ansprechen und ein  Gemeinschaftsgefühl vermitteln – egal ob Außenseiter*in, Klassenclown oder Klassenbeste*r. Dafür bedarf es neben des Projektunterrichts noch zweierlei: Rituale und Werte. Das klingt nicht attraktiv – eher nach Staub und Altkleidersamm-lung. Doch das muss nicht sein. Schauen wir doch auf ein mögliches Erfolgsmodell: Hogwarts. Die Zauberschule aus der  Harry-Potter-Reihe? Ja, genau, die! Warum nicht, meint der Publizist und Philosoph Richard David Precht in seinem Text Schule kann mehr.  Man könnte das Modell verschiedener Lernhäuser über- nehmen. Alle Schüler*innen wären damit vom ersten Schul-tag an Mitglied einer Gemeinschaft. Werte wie Solidarität, Fairness, aber auch freundschaftlicher Wettbewerb mit an-deren Lernhäusern würden dann zu Fixpunkten der Unter-richtsprojekte werden. Weder die Herkunft noch das Ausse-hen der Einzelnen würde zählen, nur mehr der Zusammenhalt als Gruppe. Und Mobbing wäre auch Geschichte, denn je-des Lernhaus hätte eigene erwachsene Betreuer*innen und Sozialarbeiter*innen.  Könnten diese Ideen nicht Ziele für eine Schule der  Zukunft sein? Illusorisch? Vielleicht. Was dagegen spricht? Gründe. Aber die findet man immer. Doch beim Lernen – egal, ob in der Schule oder im Leben – geht es doch immer um Visionen und Ideale. Und die sollte man nicht nur for-dern, sondern auch selber leben. Oder mit den Worten von Richard David Precht: „Wer etwas verhindern will, sucht Gründe. Wer etwas erreichen will, sucht sich Ziele“ (Precht 2013). LiteraturHesse, Hermann (2010): Unterm Rad, Berlin: Suhrkamp.Musil, Robert (2013): Die Verwirrungen des Zögling Törleß, Berlin:  Suhrkamp. Precht, Richard David (2013): Schule kann mehr, in: DIE ZEIT vom  11.04.2013, online unter: http://www.zeit.de/2013/16/richard-david-precht-schule-bildungsreform (letzter Zugriff: 03.03.2021).  Stachel, Peter (1999): Das österreichische Bildungssystem zwischen 1749  und 1918, in: Acham, Karl (Hg.): Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, Bd.1: Historischer Kontext, wissenschaftsso-ziologische Befunde und methodologische Voraussetzungen, Wien: Passagen, 115–146. ERKAN OSMANOVIĆ  ist Veranstaltungsorganisator und Literaturwissenschaftler.   Er lebt und arbeitet in Wien und Brno. Zuletzt erschien u. a.: „Wer man   gewesen war. Untersuchungen zum Suizid in der österreichischen   Literatur des 20. Jahrhunderts anhand von ausgewählten Werken“ (2018).


 16 | ZUKUNFT  Sgraffito (2017) Mischtechnik auf Leinwand  120 x 80 cm


 ZUKUNFT | 17  REINHARD SIEDER


 18 | ZUKUNFT  SOZIALSTAAT – NEU DENKEN?  VON INGRID NOWOTNY  Sozialstaat – neu denken? Vor dem Hintergrund der Corona Krise zeichnet  INGRID NOWOTNY  die politischen Hintergründe zur Entstehung des  Sozialstaates nach und zeigt den Stellenwert, den das österreichische Modell in Krisenzeiten hat.  I. EINLEITUNG Corona als Chance – ein derzeit gängiges Schlagwort. Nur  ein paar willkürlich ausgewählte Beispiele: Die Ökolog*innen sehen die Chance für eine Eindämmung des Wirtschafts-wachstums, die Wirtschaftsliberalen für einen Konjunktur-schub durch den Wegfall aller protektionistischen Hindernisse, die Linken für eine effiziente Umverteilung, die Konservati-ven für die Rückbesinnung auf traditionelle Werte.  Wir wissen nicht, wann die Krise endet und wie sie un- sere Gesellschaft und unsere Wirtschaft hinterlässt. Eines ist sicher: Es gibt Verlierer*innen, Menschen, die existenziell bedroht sind – offen bleibt, ob auf Dauer oder mit der Pers-pektive einer Kompensation der Verluste durch einen schnel-len Wirtschaftsaufschwung; es gibt Gewinner*innen, solche, die sich in der Krise etwa durch Innovation eine nachhaltige Marktpräsenz sichern können, und auch „Kriegsgewinnler“, die sich kurzfristig Knappheit und Not schamlos zunutze ma-chen können.  Die größte Herausforderung an das politische System ist  hier das Ausmaß und die Folgen solcher Umwälzungen unter Kontrolle zu behalten und Auswüchse nach allen Seiten hin zu verhindern. Es muss hier nicht einer Systemkonservierung das Wort geredet werden – für einen wirtschaftlichen und so-zialen Fortschritt muss die Krise allemal kein absolutes Hin-dernis sein, ja sie kann in gewissem Ausmaß auch den Anstoß dazu geben. Eines ist sicher: Die Notwendigkeit des Sozialstaates ge- winnt in Corona-Zeiten besonderes Gewicht. Die Folgen der sinkenden Nachfrage an Waren und Dienstleistungen kön-nen durch Unterstützungen und Förderungen von Unter-nehmen aus dem Budget aufgefangen werden; die Antwort  auf den Einkommensrückgang der Arbeitnehmer*innen und Einzelunternehmer*innen kann demgegenüber nur in einem funktionierenden System des Sozialstaates gesehen werden. Die Akzeptanz von zuvor als veraltet, leistungsfeindlich und teuer eingeschätzten Instrumenten ist demnach auch deutlich gestiegen. Wie würde Corona aussehen, gäbe es nicht ein effizien- tes öffentliches allgemein zugängliches Gesundheitswesen, ein eingespieltes Modell der Arbeitsmarktförderung, insbesondere der Kurzarbeit, gekoppelt mit einem System der arbeitsrecht-lichen Absicherung und der vielen spezifischen Möglichkei-ten der Unterstützung und des Auffangens mehr?  Zeit und Anlass genug, sich der Anfänge und des poli- tischen Kampfes um den Sozialstaat zu besinnen – gerade jetzt, wo mit der Rückschau auf die Entstehung der Repu-blik und auf 100 Jahre Verfassung auch die bahnbrechen-den sozialdemokratischen Errungenschaften ins Blickfeld zu rücken sind: In der kurzen Zeit der sozialdemokratischen Mehrheit im Parlament – sie dauerte nur von den ersten Wahlen zur Konstituierenden Nationalversammlung im Fe-bruar 1919 bis Juli 1920, dem Zerfall der Regierungskoa-lition zwischen Sozialdemokraten, Christlich-Sozialen und Deutschnationalen – konnte eine beispielgebende Sozialge-setzgebung beschlossen werden, auf deren Grundzügen wir heute noch aufbauen. II.  DAS POLITISCHE UMFELD Zur Vorgeschichte: Nicht nur ein jahrhundertealtes Reich  war zerfallen, auch die Staatsstrukturen – die Grundlage für eine effiziente Verwaltung – waren schwer angeschlagen. Die große Aufgabe war nicht nur die längst fällige Ablöse eines 


 ZUKUNFT | 19  in sich morschen, feudalen Systems durch Demokratie und Rechtsstaat, sondern die unmittelbare Herstellung geregelter Bahnen für die Verteilung des noch Verbliebenen: Es ging um das Überleben, um Nahrung, Wohnung, Gesundheit, wirt-schaftliche Grundversorgung, Schutz vor Übergriffen, um die Sicherung der Existenzgrundlagen der Bevölkerung zumin-dest auf niedrigstem Niveau. In dieser Situation waren sowohl die noch handlungsfähigen verbliebenen, als auch die neu zu schaffenden staatstragenden Kräfte gefordert.  Man möchte meinen, dass vor diesem Hintergrund eine  revolutionäre und radikale Umwälzung der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung stattfinden hätte müssen. Im verbliebenen Österreich war dies nicht der Fall, im Gegensatz zu den revo-lutionären Räteregierungen in München unter Kurt Eisner und in Ungarn unter Béla Kun. Der Grund dürfte darin lie-gen, dass die seinerzeit in den Reichsrat gewählten deutsch-sprachigen Abgeordneten am 21. Oktober 1918 als proviso-rische Nationalversammlung des deutsch-österreichischen Staates zusammentraten und am 12. November 1918 mit dem Gesetz über die Staats- und Regierungsform von Deutschös-terreich die Gründung der Republik als selbstständigen Staat „Deutsch-Österreich“ beschließen konnten. So war zumin-dest formal eine gewisse Kontinuität gewahrt und Einverneh-men über die Herstellung einer staatlichen Ordnung in Ansät-zen hergestellt. Es war keine Stunde Null, in dem Sinne, dass Neues nicht auf bewusster Zerstörung, sondern durch kon-sensuale Zusammenarbeit entstehen sollte. III.  DER WEG DER POLITISCHEN  WILLENSBILDUNG Die provisorische Nationalversammlung nahm „einstwei- len“ neben der legislativen auch die administrative Funkti-on wahr; sie hatte in der Folge – im Sinne der Gewalten-teilung – die administrative Gewalt, die Regierung, auf den Staatsrat zu übertragen. Als Präsidenten dieses aus 20 Mitglie-dern bestehenden Staatsrates wurden der Sozialdemokrat Karl Seitz, der Christlichsoziale Jodok Fink und der Deutschnati-onale Franz Dinghofer ernannt. Der Staatsrat bestellte wiede-rum die Regierung unter der Führung von Karl Renner als „Leiter der Staatskanzlei“. Die Führung der „Staatsämter“ ge-nannten Ressorts oblag den „Staatssekretären“. Mitglieder des Kabinetts sind neben dem Staatskanzler zwei sozialdemokrati-sche, fünf deutschnationale und drei christlich-soziale Staats-sekretäre. Viktor Adler wird als Vorsitzender der Sozialdemo-kratischen Partei – kurz vor seinem Tod – Staatssekretär des  Staatsamtes für Äußeres; Ferdinand Hanusch als Vertreter der Freien Gewerkschaften erhält das Sozialressort.  Die Provisorische Nationalversammlung beschloss für den  16. Februar 1919 Wahlen zur Konstituierenden Nationalver-sammlung; deren Hauptaufgabe war die Ausarbeitung und der Beschluss einer Verfassung – der letztlich auch mit „Ge-setz vom 1. Oktober 1920, womit die Republik Österreich als Bundesstaat eingerichtet wird (Bundes-Verfassungsgesetz, B-VG 1920)“, BGBl. Nr. 1 1920, umgesetzt wurde.  Bemerkenswert ist, dass der Beschluss über die Verfassung  in die Zeit zwischen dem Bruch der „Großen“ Koalition im Juli 1920 und den Neuwahlen am 17. Oktober 1920 fiel. Es zeugt vom starken gemeinsamen Willen der Volksvertretung der jungen Republik eine tragfähige demokratische Basis zu geben, dass selbst in diesem Vakuum eine so grundlegende Ei-nigung zustande kommen konnte. Dies ist wohl der integra-tiven Kraft Karl Renners und der juristischen Autorität und Klugheit Hans Kelsens zu verdanken. IV.  DIE SOZIALGESETZGEBUNG Das Kriegsende zeigte verheerende Folgen: Millionen  Soldaten der österreichisch-ungarischen Armee sind gefal-len, zwei Millionen sind verwundet zurückgekehrt und 1,7 Millionen sind in Gefangenschaft, 480.000 überleben die-se nicht. Das Land selbst kämpft mit Hunger, Lebensmittel-knappheit und Krankheit. Die Wirtschaft ist von den tradi-tionellen Rohstoffquellen und von den „Kornkammern“ abgeschnitten, die Produktion und Versorgung kommt fast zum Erliegen, die Geldwirtschaft bricht zusammen. Das Heer der Arbeitslosen steigt ins Unermessliche und wird durch die rückkehrenden Soldaten und die nunmehr überflüssigen Be-amten der Monarchie noch erhöht. Das Konzept der christ-lichen Caritas und der feudal-patriarchalen Armenversorgung muss vor diesem Hintergrund versagen.  Der treibende Motor für diesen für Europa einmaligen  und beispielgebenden Schub an Sozialgesetzen war einerseits der Druck, die akute Not zu lindern, anderseits die Erkennt-nis und auch die Angst, dass ein Zerfall geordneter Lebens-bedingungen unweigerlich zu ähnlichen revolutionären und blutigen Unruhen wie in den Nachbarländern führen müs-se; nicht nur die bürgerlichen Kräfte hatten Angst davor. Hilf-reich war, dass auch hinsichtlich der Sozialgesetzgebung nicht von einer Stunde Null gesprochen werden kann. Zum einen 


 20 | ZUKUNFT  SOZIALSTAAT – NEU DENKEN?  VON INGRID NOWOTNY  wirkte die starke und erfahrene administrative Grundstruktur der Monarchie noch über das Kriegsgeschehen hinaus, zum anderen hatten sich die sozialdemokratischen Kräfte schon lange vorher formiert und gesammelt.  In den Wahlen zur Konstituierenden Nationalversamm- lung am 16. Februar 1919 erreichte die Sozialdemokratische Partei die Mehrheit: 72 Mandate gingen an sie, 69 an die Christlich-Sozialen, 26 an die Deutsch-Nationalen und drei an Sonstige. Weder die Gunst noch die Not der Stunde zu zitieren ist  hier angebracht. Dennoch: In knapp zwei Jahren ein sozialpo-litisches Jahrhundertwerk hervorzubringen, kann nur bei ent-sprechenden Rahmenbedingungen gelingen. Was waren die wesentlichsten Faktoren, die die Sozialge- setzgebung ermöglichten? Zum einen war die Mehrheit im Parlament unabdingbar; zum anderen wäre diese innovatori-sche Herkulesaufgabe nicht lösbar gewesen, wären nicht alle politischen Kräfte eingebunden gewesen. Eine „große“ Koa-lition von Sozialdemokraten und Christlich-Sozialen bildete die Regierung. Aber auch das allein genügte nicht: Es muss-ten im Umfeld noch Konstellationen hinzukommen, die die notwendigen Kompromisse ermöglichten. Der äußere Druck der Notsituation allein hätte dazu nicht ausgereicht: In der Arbeiterschaft formierten sich kommunistische Kräfte, die, vereinfacht gesagt, das Ende des Kapitalismus forderten und sich nicht mit einer Besserstellung der Arbeiterklasse durch Reformen und Zugeständnisse abspeisen lassen wollten. Die russische Revolution 1917 und die Räteregierungen waren ih-nen Vorbild und treibende Kraft.  Die Sozialdemokratie fürchtete wie die Konservativen das  Chaos und den Zusammenbruch jeglicher Ordnung durch eine unkontrollierbare und verzweifelte Radikalisierung der Arbeitermassen. In der Monarchie war es vor 1914 noch in bescheidenen Ansätzen zu einer Sozialgesetzgebung gekom-men: Zugeständnisse sollten der Arbeiterschaft den Wind aus den Segeln nehmen und die Sozialdemokratie schwächen, insbesondere in ihrem Bestreben, sich zu solidarisieren und in Gewerkschaften zu organisieren. So gab es schon in der zwei-ten Hälfte des 19. Jahrhunderts Ansätze einer Sozialversiche-rung – ganz im Sinne Bismarcks, Macht und Einfluss einer Arbeiterbewegung im Keim zu ersticken. Mit der Gewerbe-ordnung 1859 wurde die unzureichende Armenfürsorge des obsoleten Zunftwesens, wenn auch lückenhaft und auf nied- rigem Niveau, durch versicherungsmäßige Rechtsansprüche ersetzt. Es folgten Gesetze über Betriebskrankenkassen, Ge-nossenschaftskrankenkassen, Unfallversicherung (1887) und die allgemeine Krankenversicherung der Arbeiter (1888) etc.  Die Arbeiterschaft war bis zur Einführung des allgemei- nen, gleichen und geheimen Männerwahlrechts 1907 von der Gesetzgebung ausgeschlossen; es liegt auf der Hand, dass hier Adel und Landwirtschaft ihre Interessen wahrten: Die Last hatte die Arbeiter*innenschaft durch ihre Beiträge und die In-dustrie durch ihre bescheidenen Zuschüsse zu tragen.  V.  DIE SOZIALGESETZGEBUNG FERDINAND  HANUSCHS – DIE BERATUNG DURCH KARL PRIBRAM Zur Innovation genügt der Wille der politisch Verant- wortlichen allein nicht. Es bedarf der Beratung und des Sach-verstandes von Expert*innen. Hier gelang Ferdinand Hanusch ein Glücksgriff: Er zog zur legistischen Arbeit – zur Kon-zeption und Formulierung der Gesetze – Karl Pribram her-an. Er ist heute als Universitätslehrer, Ökonom und Jurist fast vergessen, doch in seiner Bedeutung für die Sozialgesetzge-bung nicht zu unterschätzen. Er war als leitender Beamter, zuerst im Wirtschafts- dann im Sozialressort, mit allen Fein-heiten der öffentlichen Verwaltung vertraut, konnte als Uni-versitätslehrer Theorie und Umsetzung miteinander verbin-den und wusste als Pragmatiker gegensätzliche Interessenlagen auszugleichen.  Auf dem Gebiet der Theorie setzte er sich – vereinfacht  gesagt – mit der Rolle des Staates einerseits und den wirt-schaftlich handelnden Individuen andererseits auseinander. Zwischen dem staatliche Eingriffe befürwortenden Kollek-tivismus und dem auf die Aktivität und die Bedürfnisse des/der Einzelnen gerichteten Individualismus neigte er eher dem Wirtschaftsliberalismus im Sinne eines Adam Smith zu. So stellte er sich vehement gegen die autoritär-ständestaatli-che Ganzheitslehre von Othmar Spann wie auch gegen die Marx’sche Klassentheorie. Dennoch blieb für ihn eine aus-gleichende und umverteilende Sozialpolitik unerlässlich: Die kriegswirtschaftliche Organisation hatte bei gleichzeitigem Fortbestand des Privateigentums zu Regelungen geführt, die die Unternehmen in die Pflicht nahmen und hoheitlichen Beschränkungen unterwarfen. In kluger Voraussicht wollte Pribram weder eine Rückführung auf den Vorkriegszustand, noch eine radikale Neugestaltung der wirtschaftlichen Rah-


 ZUKUNFT | 21  menbedingungen. Er sprach sich für eine planmäßige Rege-lung des Wirtschaftsablaufs aus, aufbauend auf den während des Krieges entstandenen kriegswirtschaftlichen Struktu-ren und unter Miteinbeziehung unternehmerischer und ge-werkschaftlicher Zusammenschlüsse: Der liberalistische Indi-vidualismus habe, wenigstens in Mitteleuropa, als Grundlage für eine Ordnung und Neuordnung des Wirtschaftslebens ausgedient. Dies entsprach ganz der konsens- und kompromissorien- tierten Grundhaltung Ferdinand Hanuschs: Er wollte die an-gespannte Situation nicht noch durch letztlich unkontrollier-bare Kämpfe zwischen Interessengruppen erschweren. Sein politisches Ziel war, die Pribramsche Konzeption des Aus-gleichs zwischen Kollektivismus und Wirtschaftsliberalismus in Form der Sozialpartnerschaft umzusetzen. VI.  PRAGMATISMUS VS. THEORIE Wenngleich auch zu dieser Zeit die Diskussion um die  Fragen geführt wurde, ob die Sozialgesetzgebung das per se unsoziale System des Kapitalismus konserviere oder ob soziale Reformen das zielführende Mittel zur Besserung der Lage der Arbeiter*innen sei, vertrat in Österreich die Führung der So-zialdemokratie die pragmatische Richtung. Karl Renner und Ferdinand Hanusch verfolgten die realistische Sicht und ließen sich nicht auf radikale Spekulationen ein, obwohl auch sie zu-mindest zeitweise dem Druck sozialrevolutionärer Forderun-gen unterstanden. Das Scheitern der Räteregierungen in den Nachbarländern gab ihnen recht.  VII. ENTWICKLUNG DER SOZIALGESETZGEBUNG Die Sozialgesetzgebung lässt sich in drei Perioden eintei- len: In der ersten Periode – unmittelbar nach der Gründung der Republik bis zur Errichtung der Räterepublik in Ungarn im März 1919 – wurde versucht, die ärgsten Missstände mit Noterlässen und Abhilfemaßnahmen zu beheben. Der Zu-sammenbruch der Kriegsindustrie führte zu einem Heer von Arbeitslosen; eine staatliche Unterstützung sicherte zumindest für kurze Zeit eine Lohnfortzahlung. Die Einrichtung der in-dustriellen Bezirkskommissionen zur Arbeitsvermittlung or-ganisierte z. B. auch Transporte an neue Arbeitsplätze, die Be-schränkung der Arbeitszeit auf täglich acht Stunden sicherte bis zu einem gewissen Grad Arbeitsplätze in Fabriken, eben-so die Regelung der Sonn- und Feiertagsruhe. Die Regelung der Heimarbeit schützte vor extremer Ausbeutung.  Die zweite Periode fiel in die Zeit radikaler Strömun- gen im Gefolge der Räteregierungen in den Nachbarstaa-ten: Die kommunistische Partei gewann an Einfluss; Arbei-ter- und Soldatenräte mit hoher Machtfülle außerhalb eines gesetzlichen Rahmens wurden gegründet. Dieser revoluti-onäre Druck wurde mit vorher undenkbaren Eingriffen in das Wirtschaftssystem abgefangen: Mit der Verordnung Ha-nuschs vom 14. Mai 1919 über die zwangsweise Einstellung von Arbeiter*innen wurden gewerbliche Betriebe verpflich-tet, die Zahl der Arbeitnehmer*innen zu erhöhen – ein klei-ner, aber teilweise erfolgreicher Schritt zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Von den Plänen zur Sozialisierung – eine dringende Forderung der Arbeiter- und Soldatenräte – ist letztlich nur das Betriebsrätegesetz vom 15. Mai 1919 geblie-ben. Heute selbstverständlich, war damals die Beteiligung von Arbeiter*innen am betrieblichen Geschehen eine Konzession an die kommunistische Forderung zur Sozialisierung. Das Ar-beiterurlaubsgesetz – eine Woche (!) unbezahlten Urlaub für Arbeiter*innen – wurde ähnlich eingeschätzt. In diese Zeit fällt auch die Erlassung des Bäckereiarbeitergesetzes, des In-validenentschädigungsgesetzes und des Verbots der Nacht-arbeit von Frauen und Jugendlichen. Österreich war auch der erste Staat mit einer solchen, als radikal eingeschätzten Gesetzgebung. In der dritten Periode flaute nach der Niederlage der Rä- terepubliken in München und Ungarn auch der revolutionäre Schwung in Österreich und damit auch die Angst der Bürger-lichen davor ab. Großdeutsche und Christlichsoziale witterten Morgenluft und lieferten sich im Parlament mit den Sozialde-mokraten heftige Polemiken. Sie verhinderten oder verzöger-ten zumindest weitere Fortschritte. Das Gesetz über die Aus-weitung des Achtstundentages auf alle Betriebe kam nur mit Abstrichen zustande. Allerdings gelang der große Wurf der Einführung des Arbeitslosenversicherungsgesetzes: Die zuvor zu Gänze vom Staat getragene Unterstützung der Arbeitslo-sen war nicht mehr zu halten – es musste ein System der Fi-nanzierung außerhalb des Staatsbudgets und des Risikoaus-gleichs durch die Betroffenen gefunden werden. Die Kosten wurden je zu einem Drittel zwischen Unternehmer*innen, Arbeiter*innenschaft und dem Staat geteilt. Der Preis dafür war eine Mindestbeschäftigungsdauer von 20 Wochen pro Jahr und die Verkürzung der zuvor unbegrenzten Bezugsdau-er auf zwölf Wochen.  Einer der sozialpolitischen Höhepunkte dieser Periode war  die Gründung der Arbeiterkammern. Ferdinand Hanusch war 


 22 | ZUKUNFT  SOZIALSTAAT – NEU DENKEN?  VON INGRID NOWOTNY  bis zu seinem frühen Tod im September 1923 deren erster Di-rektor. Die Vertretung der Arbeiter*innenschaft auf Augenhö-he mit den Unternehmer*innen und den Arbeitgeber*innen hat in der damaligen Situation zur Konsolidierung beigetra-gen und ist nach wie vor eine tragende Säule im Gefüge des österreichischen Weges des sozialen Interessenausgleichs. VIII.  NACH 1920 Es erhebt sich die Frage, warum die Sozialgesetzgebung  unter Ferdinand Hanusch in manchen Grundstrukturen einer-seits noch heute besteht und anderseits kaum je so bekämpft wurde wie in der Zeit unmittelbar danach: Das Ergebnis der ersten Nationalratswahl am 17. Oktober 1920 bedeutete das Ende der Sozialdemokratischen Mehrheit und der „großen“ Koalition. Die Christlich-Sozialen erhielten 85 Mandate, die Sozialdemokrat*innen 69 und die Deutsch-Nationalen 28. Die Hochburg der Sozialdemokratie blieb Wien, wo der sozi-ale Fortschritt unter den Bürgermeistern Jakob Reumann und Karl Seitz bis zum gewaltsamen Ende 1934 beispielhaft für ganz Europa war. Im Bund bekämpften insbesondere Bun-deskanzler Johann Schober, der als ehemaliger Polizeipräsi-dent von Wien 1927 in die Menge schießen ließ, und Ignaz  Seipel, der „Prälat ohne Milde“, die Sozialgesetzgebung: Die Parolen, den „revolutionären Schutt“ wegzuräumen oder „die Revolution liquidieren“ führten schrittweise, langsam aber  sicher zur Katastrophe von 1934.  Dennoch: Warum konnte auch der reaktionärste und ka- pitalismusfreundlichste Druck der Christlich-Sozialen die so-zialen Fortschritte erst mit den Mitteln der Diktatur rückgän-gig machen? Zu groß war die Furcht vor dem Zusammenhalt der Arbeiter*innenschaft und auch vor der Reaktion der so-zial Ausgegrenzten in den eigenen Reihen. Auch die Vertre-tung der Unternehmer*innenschaft war nicht unbedingt auf der Seite der destruktiv-reaktionären Kräfte, sondern sah eher im Kompromiss das Mittel gegen Gewalt und Klassenkampf. Mit der Handelskammer hatte sich Hanusch leichter als mit der christlich-sozialen Regierung getan, zumal die Arbeiter-kammer schon in der Lage war, durch Gutachten, Berichte und Statistiken fundierte Grundlagen für Verhandlungen zu liefern. Die Weitsicht Hanuschs schlägt sich in der Konzeption  der Aufgaben der Arbeiterkammer nieder: Sie soll nicht nur individuellen Beistand, Schulung und Rechtsberatung bie-ten oder betriebliche Interessen fördern, sie soll sich auch in  Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik einbringen. Lohn- und Sozialpolitik sind nicht von den wirtschaftlichen Rahmen-bedingungen zu trennen. Es wurde erkannt, dass deren Ent-wicklung nicht allein vom Markt abhängt, sondern gerade in Krisenzeiten aktiv gesteuert werden kann und muss. Die per-sonellen und administrativen Ressourcen der Arbeiterkammer ermöglichten eine fundierte Argumentation gegen eine rest-riktive Sparpolitik auf Kosten der Sozialpolitik, oder besser für eine expansive Wirtschafts- und Finanzpolitik. Die Qualität der Grundlagen, insbesondere der Arbeits- und Lohnstatisti-ken, erhöhte die Akzeptanz der Gegenseite, sodass Lohnver-handlungen, Verhandlungen über Unterstützungen, staatliche Zuschüsse oder Index- und Preisfestsetzungen auf Augenhöhe geführt werden konnten – eine unabdingbare Notwendigkeit in Zeiten der Inflation und wirtschaftlichen Restrukturierung. Dieses über die Eigeninteressen der Arbeiter*innenschaft hi-nausgehende gesamtwirtschaftliche Verständnis der Arbei-terkammern ist bis heute geblieben – umso unverständlicher und verantwortungsloser die derzeitigen Tendenzen zu ihrer Schwächung und Untergrabung.  Letztlich geht auch das österreichische System des kollek- tiven Arbeitsrechtes – insbesondere der Lohnfindung durch Kollektivverträge und der betrieblichen Mitbestimmung – auf diese Zeit zurück. Vereins- und Versammlungsfreiheit so-wie die Koalitionsfreiheit bildeten den verfassungsrechtlichen Rahmen dazu. IX. AUSBLICK Die Langzeitfolgen von Corona sind nicht abzusehen. Ei- nes steht jedoch – wie eingangs schon bemerkt – fest: Der Markt wird die Folgen nicht regeln können; die Arbeitslo-sigkeit wird zu bekämpfen sein, sodass die Sozialpolitik mehr gefordert ist denn je. Das Hoffen auf eine gute Konjunktur, auf ein Ansteigen der Nachfrage nach Waren und Dienst-leistungen und damit auch nach Arbeitskräften ist berech-tigt, auch werden die Staatseinnahmen steigen und die Folgen der Staatsverschuldung brauchen nicht gefürchtet zu werden. Allerdings: Die Verteilung regelt sich nicht selbst. Das Wirt-schaftswachstum allein sichert noch nicht Wohlstand für alle.  Die eingangs angesprochene Chance der Corona-Krise  liegt nun darin, dem Sozialstaat wieder den Stellenwert zu-rückzugeben, den er für jede Krisenbewältigung hat: Nicht nur das Überleben zu sichern, sondern eine Grundlage für Wohlstand und Sicherheit für alle zu bieten. Die Sozialpart-


 ZUKUNFT | 23  nerschaft darf nicht mehr in Frage gestellt und eine Rück-kehr zu neoliberalem Wirtschaftsegoismus muss ausgeschlos-sen werden. Insofern wird auch die Naivität der Grünen nicht ausreichen, allein durch klimaschonende Umstrukturierung hohe Arbeitslosigkeit bekämpfen zu wollen, so sehr es not-wendig ist, das Konzept der Schaffung von „green jobs“ in alle Maßnahmen der Beschäftigungspolitik miteinzubeziehen.  In diesem Sinne muss die Sozialdemokratie wieder poli- tisches Gewicht bekommen – die Wähler*innen werden ihre Werte gerade in der Bewältigung der Folgen von Corona wie-der zu schätzen wissen.  LiteraturFischer, Heinz/Silvestri, Gerhard (1970): Texte zur österreichischen Ver- fassungsgeschichte. Von der Pragmatischen Sanktion zur Bundesver-fassung (1713–1966), Wien: Geyer-Edition.  Fischer, Heinz (Hg.) unter Mitarbeit von Andreas Huber und Stephan  Neugebauer (2018): 100 Jahre Republik. Meilensteine und Wende-punkte in Österreich 1918–2018, Wien: Czernin.  Hautmann, Hans (1973): Ferdinand Hanusch: der Staatssekretär (30. Ok- tober 1918 bis Oktober 1920), in: Staininger, Otto (Hg.): Ferdinand Hanusch (1866–1923): Ein Leben für den sozialen Aufstieg, Wien:  Europa, 75–104. Göhring, Walter/Pellar, Brigitte (2003): Ferdinand Hanusch. Auf bruch  zum Sozialstaat, Wien: ÖGB. Rathkolb, Oliver (2018): „Glauben Sie nicht, daß mit all diesen Dingen  die soziale Frage gelöst oder der sozialistische Staat errichtet werden kann“. Sozialpolitik und Frühformen der Konkordanzdemokratie, in: Konrad, Helmut (Hg.): Österreich 1918–1920: Die Anfänge der Re-publik Österreich im internationalen Kontext, Wien: Österreichische Nationalbibliothek, Haus der Geschichte Österreich, 61–64, online unter: https://tinyurl.com/w8ztjh39 (letzter Zugriff: 01.04.2021). Chaloupek, Günther (2019): Karl Pribram (1877-1973): Ökonom und    Pionier der österreichischen Sozialgesetzgebung, in: Wirtschaft und Gesellschaft 3, 403–419. INGRID NOWOTNY  ist Juristin und war nach ihrer Zeit als Universitätsassistentin an der  Universität Linz in Wien im Arbeits- und Sozialministerium im Bereich   Arbeitsmarktpolitik in leitender Funktion für Legistik,   Arbeitslosenversicherung und Ausländerbeschäftigung tätig.  Seit ihrer Pensionierung ist sie Vorsitzende der   SPÖ-Bildungsorganisation des Bezirks Wien-Hietzing.


 24 | ZUKUNFT  Zerstörte Leiber (2019) Acryl, Gips auf Leinwand  100 x 70 cm


 ZUKUNFT | 25  REINHARD SIEDER


 26 | ZUKUNFT  Schwarzer Ritter (2018) Acryl, Gips auf Leinwand  50 x 50 cm


 ZUKUNFT | 27  REINHARD SIEDER


 28 | ZUKUNFT  „LERNE EINFACH!“ DENKANGEBOTE ZUR BILDUNG  VON HEMMA PRAINSACK I.  Es gleicht einem Zauberwort, welches für eine Vielzahl  von Problemen und Herausforderungen, denen sich die Men-schenwelt im 21. Jahrhundert gegenübersieht, schier ohne Zögern oder Überlegungen als Losungswort herbei gespro-chen wird: Bildung. Jedoch, was soll Bildung sein? Als all-gemeine Erklärungen werden Erkenntnis, Wissen, Vernunft, Aufklärung oder sich auskennen, orientieren und aus Erfah-rung lernen zu können, angeführt. Einfach ausgedrückt: Bil-dung schafft kompetente Menschen, die sich selbstständig, mündig und ihrer selbst bewusst im Leben und in der Gesell-schaft zurechtfinden.  II.  Als einziges Lebewesen soll es das menschliche sein, wel- chem seine eigene Endlichkeit bewusst ist. Mit der Erkennt-nis, dass das Leben mit jedem Tag dem eigenen Sterben und seinem Ende näherkommt, wurde die grundlegende, und im-mer von Neuem unergründliche Frage nach dem Sinn des Le-bens geboren. In der Antike entstanden philosophische Denk-weisen über Seinslehre und zoon politikon, dem Menschen als an der Gesellschaft und Politik partizipierendem Wesen. III.  In der Überlieferung waren in der antiken Weissagungs- stätte von Delphi zwei Inschriften zu lesen, gleichsam als Auf-forderung und Anleitung, als guter, ehrenwerter Mensch zu leben: „Erkenne Dich selbst“ und „Nichts im Übermaß“. Geweiht war Delphi Apollon, dem Gott der Weissagung und der Künste, der Mäßigung und des Lichts. Dieses brauche der Mensch, um Schattenumrisse zu unterscheiden von lebendi- gen Dingen, um Gegenstände in Klarheit zu erkennen – aber auch um in einem aufgeklärten Zustand Ereignisse im Ver-hältnis zwischen Weitblick und Nahaufnahme zu betrachten. IV.  Die Frage, was Aufklärung für den Menschen bedeuten  kann, beantwortete Immanuel Kant 1784 damit, dass diese ein wirksames Mittel gegen Unmündigkeit sei. Unmündige Menschen agieren nicht selbstständig, wollen sich leiten las-sen und anderen leichtgläubig folgen, anstatt das eigene Le-ben selbst zu bestimmen oder die Konsequenzen für jegli-ches Agieren abwägen und folglich akzeptieren zu können. Der Philosoph merkte an, dass es bequem sei, unmündig oder auch halbwüchsig zu bleiben und die Verantwortung für das eigene Handeln und Entscheiden in die Hände anderer zu le-gen. Letztlich liefern sich die Bequemen mit dieser Verweige-rung eine Ausrede dafür, den Lebensweg nicht selbst zeichnen und beschreiten zu müssen. Bemerkenswert ist Kants Diagno-se über die Unmündigen, welche durchdrungen seien mit der Grundhaltung „Ich brauche nicht denken, wenn ich nur be-zahlen kann“ (Kant 1999: 20). Diese Worte schallen mit einer Wucht zurück in eine Gegenwart, in der schier alles zu Käuf-lichem gemacht wird. Sogar geistiges Eigentum für Studien-abschlüsse solcher, die Ämter besitzen, ohne sich diese ver-dient zu machen. V.  Wie können Bildung und Aufklärung hier entgegenwir- ken? Nach Immanuel Kant braucht es dazu Mut. Nämlich ge-hörigen, um zu lernen, sich seines eigenen Verstandes zu be-dienen und diesen auch angemessen anwenden zu können.  „Lerne einfach!“ Denk- angebote zur Bildung Was kann Bildung heute heißen?  HEMMA PRAINSACK  versteht diesen umkämpften Begriff als Auftrag nicht nur zum  Aufwachen, sondern vielmehr auch zum Aufstehen. In ihren Denkangeboten reflektiert sie über das Vermögen zur Selbstbe-stimmung und die Notwendigkeit eines zukunftsgewandten Bildungsbegriffs …


 ZUKUNFT | 29  Kant ruft „Sapere Aude!“ als Wahlspruch der Aufklärung aus. Mut bedarf es jedenfalls, den Verstand so zu bilden und bil-den zu lassen, dass er zum Diener von Handlungen wird, die ein Leben in Selbstbestimmung, Anerkennung, Gleichberech-tigung sowie der Liebe zum Lernen beständig fördern und so zum Gemeinwohl und solidarischem Miteinander beitra-gen. Um sich das geistige Vermögen derart anzueignen, dass es selbstständig und verhältnismäßig eingesetzt werden kann, braucht es vielerlei Anleitung und starke, überzeugende Vor-bilder, an denen man sich ein Beispiel nehmen will. Wesent-lich ist, nicht träge oder bequem zu werden, sich nicht auf bereits Angeeignetem auszuruhen, sondern das Bestehen-de immer wieder zu überprüfen, ob es auch im wechseln-den Kontext von Zeit, gesellschaftspolitischem Wandel und mit ändernden Weggefährt*innen seine Gültigkeit bewahrt. VI.  Gesagtes und Getanes, Geglaubtes und Geschehenes zu  hinterfragen, oder auch an deren Gültigkeit zu zweifeln, hat seit jeher die Geschichte der Menschen bewegt und diese geschrie-ben. „Gelobt sei der Zweifel!“ beginnt Bertolt Brecht deshalb sein Gedicht Lob des Zweifels (Brecht 1997a: 233). Brecht, einer der maßgeblichsten Theatermacher und schillerndsten Drama-tiker Deutschlands, hat an der Funktion bestehender Theater-traditionen gezweifelt. Die Aufgabe und das Wesen des The-aters hat er unaufhörlich hinterfragt und mit dem Epischen Theater eine neue Theaterform geschaffen. Als beständiger Kritiker an der Gesellschaftsordnung und Verteilung war Brecht auch scharfer Beobachter und Diagnostiker seiner Zeit. In Wi-derstandskraft der Vernunft untersuchte er den Missbrauch von Vernunft in faschistischen Staaten und teilte darin Thomas Hobbes’ Beobachtung, wonach die Geschäftsleute den Wissen-schaften den Garaus machten, wenn diese nicht ihren Interessen entsprechen würden (Brecht 1997b: 281). VII.  Wissen, aber eben auch Vorstufen wie Daten oder Infor- mation, scheinen bzw. sind durch neue technologische Mög-lichkeiten und Effekte von Digitalisierung bzw. Virtualität überall und jederzeit verfügbar. Das Übermaß dieses mitun-ter aber auch nur vermeintlichen Bildungsangebots stellt für die Betrachter*innen und Benutzer*innen eine Herausforde-rung dar, verlangt es doch die Kompetenzen des Unterschei-dens und Entscheidens – die Fertigkeit herauszufinden, was  tatsächlich von Nutzen ist bzw. wie und mit welchen intellek-tuellen Mitteln das jeweilige Wissen auch in Bezug auf Qua-lität und Kontexte gut eingeschätzt werden kann. Hier zeigt sich nicht zuletzt die Notwendigkeit zur Bereitschaft Ange-botenes und Beworbenes zu ignorieren, sich etwa in digita-len Welten also nicht ablenken und auf Abwege führen zu las-sen. In der Not eines inflationären Angebots liegt aber auch die Möglichkeit einer Wende hin zu einer Form gegenteiliger Gier: der Wissbegier. Um diese zu befördern, muss Wissen möglichst vermittelbar aufbereitet werden und, etwa auch in Bezug auf politische Prozesse, nachvollziehbar sein. VIII.  Vielleicht sollte das vielzitierte Credo Rosa Luxemburgs  für das Heute abgewandelt und aufs Neue verlebendigt wer-den, um eine permanente, produktive Befragung und Weiter-entwicklung der Bildung in all ihren Facetten zu befördern: Zu sagen was ist, bleibt die revolutionärste Tat. Im Erkennen, dass eben jegliches Tun Folge eigener Besinnung ist und somit im eigenen Verantwortungsbereich liegt, hält man bereits ein mächtiges Instrument gegen Unmündigkeit in Händen. Und Aufgabe der Bildung muss es sein, dieses Instrument mit dem Mut zum Zweifel zu paaren. Sodass, um erneut auf Brechts Gedicht zurückzukommen, im schönsten „aller Zweifel aber / Wenn die verzagten Geschwächten den Kopf heben und / An die Stärke ihrer Unterdrücker / Nicht mehr glauben!“ (Brecht 1997a: 233) können. LiteraturBrecht, Bertolt (1997a): Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 4: Ge- dichte 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Brecht, Bertolt (1997b): Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 6:  Schriften, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Kant, Immanuel (1999): Was ist Auf klärung? Ausgewählte kleine Schrif- ten. Herausgegeben von Horst D. Brandt. Mit einem Text zur Einfüh-rung von Ernst Cassirer, Hamburg: Meiner. HEMMA PRAINSACK  ist Theater- und Filmwissenschaftlerin und arbeitet im geisteswissen- schaftlichen Bereich der Erwachsenenbildung (Wiener Volkshoch- schulen). Nach langen Jahren am Burgtheater, bei den Salzburger  Festspielen und dem ORF forscht sie derzeit zur Filmgeschichte im  Umbruch zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus.


 30 | ZUKUNFT  „MEIN DRAMA HAT NICHT STATTGEFUNDEN“  VON KONRAD HEMPEL UND CLAUDIA LEHMANN „Mein Drama hat nicht  stattgefunden“ KONRAD HEMPEL  und  CLAUDIA LEHMANN  reflektieren ihre Erfahrungen, Heiner Müllers  DIE HAMLETMASCHINE  in der internationalen Hochschullehre als Textgrundlage zu verwenden. Eine Lese- und Denkeinladung – nicht nur für Stu-dierende. I.  Nach dem Siegeszug des Neoliberalismus und der Ver- schiebung ganzer Wirtschaftsbereiche durch die Globalisie-rung ist die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter auseinandergegangen. Die Bankenkrise 2008 hat diese Ent-wicklung noch befeuert. In einer nächsten weltumspannen-den Krise, der Covid-19 Pandemie, kehrt der Staat nach lan-ger Zeit als starker Akteur wieder auf die Spielfläche zurück und das könnte auch ein Signal zur Bewältigung der noch viel größeren Krise, des Klimawandels, sein. Aber wie sich zeigt, haben auch aktuell wieder die Reichen profitiert und die Armen verloren. Heiner Müller hätte diese vereinfach-te Beschreibung unserer Situation nicht gewundert. Er hät-te sicher darauf verwiesen, dass das Wesen des Kapitalismus eine Verbesserung der Verhältnisse der Armen nicht zulas-sen kann oder vorsieht und dies an der traumatisierenden Ge-schichte bewiesen. Was hat das aber mit der Nutzung sei-nes Stückes DIE HAMLETMASCHINE im künstlerischen Studium zu tun? Heiner Müller formulierte: „Und die Funktion von Kunst besteht für mich darin, die Wirklichkeit unmöglich zu machen – die Wirklichkeit in der ich lebe, die ich kenne.“ Hat diese Beschreibung der Funktion von Kunst heute noch Berechtigung? II.  Wie vielen Intellektuellen aus der DDR versagten Heiner  Müller die Worte nach dem Ende des Versuchs eine Utopie in eine reale Gesellschaftsform zu überführen. Was sollte man noch sagen, wenn (vermeintlich) alles gesagt werden darf. Das Theater war zu Zeiten des real existierenden Sozialismus Teil der Öffentlichkeit. Man ging dorthin, weil dort The-men verhandelt wurden, die sonst nirgendwo ein Sprachrohr  hatten und man las zwischen den Zeilen. Als Dramatiker*in hatte man eine wichtige Funktion und eben auch Einfluss auf das gesellschaftliche Geschehen. Man hatte wirkliche Gegner*innen und Befürworter*innen. Einem Interpretati-onsansatz zufolge beschäftigt sich Müller in seinem Stück DIE HAMLETMASCHINE auch mit der Lage des Intellektuellen in die-ser besonderen historischen Situation. Ohne die Tatsachen zu ignorieren, ironisiert Müller die schlechte Wirklichkeit, um sie für die Idee einer Alternative zu öffnen, schreibt sinnge-mäß wiederum der Literaturwissenschaftler Albert Meier und meint, dass man DIE HAMLETMASCHINE als „konstrukti-ven Defaitismus“ verstehen könne. Vielleicht musste Heiner Müller aber erst aus dem Schrift- stellerverband der DDR ausgeschlossen werden, um in der Be-arbeitung antiker Stoffe oder vorhandener Dramen eine neue Ausdrucksmöglichkeit zu finden. „Ich glaube auch sogar, ohne die Verbote meiner Stücke hier, hätte ich nicht das ma-chen können, was ich gemacht habe“ sagte er dazu. Offen-bar hat das Drama stattgefunden – auf vielen Ebenen – und Verbote wurden zur Inspirationsquelle. Um Inspiration geht es nicht zuletzt in der Kunst und in der künstlerischen Leh-re oder in einem Kunststudium. Es geht darum, den eige-nen künstlerischen Ausdruck zu finden und zu schärfen. Die Auseinandersetzung, die Verortung in einem neuen Kontext, das Experimentieren mit neuen Formen, all das kann dann schließlich auch zu künstlerischer Forschung werden. Zum Stück  DIE  HAMLETMASCHINE gibt es allerhand Deu-tungsversuche, Material und Anekdoten. Darum geht es aber nicht, vielmehr sollte im Studium der Text aus unterschiedli-chen Perspektiven, unter Einbringung der eigenen Erfahrun-gen, beleuchtet werden.


 ZUKUNFT | 31  III.  In dem Kontext unserer Zeit ist es sicherlich auch interes- sant über mögliche Rollenzuweisungen und schließlich über Genderperformativität zu diskutieren. „Ophelia schminkt Hamlet eine Hurenmaske“, die Schauspieler*innen haben ihre Gesichter an den Nagel in der Garderobe gehängt, Marx, Lenin und Mao treten als nackte Frauen auf, deren Schädel mit einem Beil gespalten werden. Wer ist Hamlet in einem Stück, in dem es heißt „Ich war Hamlet“? Wer kann Ophe-lia sein und wer darf überhaupt von wem verkörpert werden? Braucht man überhaupt einen Körper in einer Welt, in der die Verhandlungsorte in den virtuellen Raum verlagert werden? Wer darf welche Geschichte erzählen und auf welcher Bühne? Wie könnte das heute aussehen, wenn der „Hamletdarsteller“ mit seinen Daten die Computer füttert? Worum kann es ge-hen, wenn man DIE HAMLETMASCHINE nutzen möchte, um ein neues Werk zu schaffen? Der Text nimmt Bezug auf das Shakespeare’sche Werk  Hamlet, weist aber auch Motive aus Macbeth,  Richard  III.,  Dostojewskis  Schuld und Sühne oder aus anderen Stücken, auch von Müller selbst auf, verweist nicht selten auf sei-ne eigene Biografie – und nicht nur in diesem Zusammen-hang lohnt es sich unbedingt auch einen Blick auf das Werk von Inge Müller zu werfen. DIE HAMLETMASCHINE ist ein sehr kurzer Text, wenige Seiten in fünf monolithischen Blöcken mit Überschriften wie „FAMILIENALBUM“ oder „DAS EUROPA DER FRAU“. An sich eröffnen diese schon einen ungeheuren Assoziationsraum. Nach 1968, mit der Studentenbewegung in der Bun- desrepublik und vielen anderen Ländern und dem Ende des Prager Frühlings, nähern sich die ideologischen und politi-schen Auseinandersetzungen innerhalb der bestehenden un-terschiedlichen Systeme 1977 einem erneuten Höhepunkt. In der Bundesrepublik mit der RAF und dem sogenannten „Deut-schen Herbst“, in der DDR schon Ende 1976 mit der Auswei-sung Wolf Biermanns und dem Hausarrest für Robert Have-mann, 1977 den Übersiedlungen von Manfred Krug, Reiner Kunze und anderen in die BRD. Heiner Müller schrieb DIE  HAMLETMASCHINE 1977, im gleichen Jahr erfolgte die Erstveröffentlichung im Programmheft zu einer Ödipus-Auf-führung in München. Das war nicht nur ein mehrfach zu le-sender Kommentar zu einem vorhandenen Theaterstück, und damit auch ein Stück Theatergeschichte, sondern ein Kom-mentar zu dieser Zeit. IV.  Im Text ist zu spüren, wie die linken Utopien in den Müh- len der Realität gemahlen werden. Heute sind wir in vielerlei Hinsicht auf dem Sprung in eine neue Ära. Die herkömmli-chen Konstrukte müssen auf verschiedenen Ebenen überprüft werden und Konzepte für die Zukunft sind gefragt. Entschei-det man sich für einen Text, einen Themenkomplex oder ein Stück für die Lehre, so sollte, neben Fragen nach Ästhetik und Form, der eigene Zugang der Studierenden Platz finden können. Nicht zuletzt geht es ja darum, den eigenen Inhalt in einem bestimmten Kontext, in einer bestimmten Form, in einen Raum oder eben in die Welt zu bringen. Ein neues Kunstwerk zu schaffen, das einen Diskurs anstößt, im besten Fall über die Grenzen einer Hochschule hinaus. In Studienstrukturen, die immer mehr dem neoliberalen  Effizienzgedanken unterworfen werden, ist es wichtig sich mit Inhalten wie DIE  HAMLETMASCHINE  auseinander-zusetzen, um einer Öffnung für Alternativen Raum zu geben. Die Wirklichkeit muss unmöglich gemacht werden. Ohne Al-ternativen, ohne Widersprüche zuzulassen und sie vor allem sichtbar zu machen, Fragen nach dem zukünftigen Sein-Wol-len zu verhandeln, ist man der Logik eines alternativlos er-scheinenden Systems ausgeliefert. Insofern knüpft die Situati-on der Intellektuellen im damaligen repressiven Gefüge direkt an uns heute gegebene Verhältnisse an, in denen ein Mangel an Utopien, Alternativen und Möglichkeiten herrscht. LiteraturMüller, Heiner (2001): „DIE HAMLETMASCHINE“, in: Müller,    Heiner: Die Stücke 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 543–554. KONRAD HEMPEL  ist Bildender Künstler, Komponist und Musiker. Er lehrt u. a. an der  UDK Berlin und der Kunsthochschule Weißensee. CLAUDIA LEHMANN  ist promovierte Physikerin, Filmemacherin und Professorin an der  Universität Mozarteum Salzburg. Gemeinsam mit Konrad Hempel bildet  sie das Institut für Experimentelle Angelegenheiten IXA in Berlin:   www.experimentalaffairs.com.


 32 | ZUKUNFT  Waldgeister, 2019 Acryl, Gips auf Leinwand 100 x 80 cm


 ZUKUNFT | 33  REINHARD SIEDER Storyboard (2019)Acryl, Gips auf Leinwand  150 x 100 cm


 34 | ZUKUNFT  „SCHREIBEN HAT FÜR MICH MIT DEM WUNSCH NACH NÄHE ZU TUN“  DANIELA CHANA UND THOMAS BALLHAUSEN  I.  Thomas Ballhausen: Mit Neun seltsame Frauen hast Du ei- nen Erzählband vorgelegt, in dem die Themenfelder Bildung und Arbeit bzw. Arbeitswelt eine nicht unwesentliche Rol-le spielen. War das eine bewusste, planerische Entscheidung oder eine erst im Rückblick erkennbare Konstante? Daniela Chana: Meine Erzählungen handeln überwie- gend von jungen Frauen im urbanen Umfeld, ihren Bezie-hungen und ihrem Alltagsleben. Mir ist tatsächlich erst im Nachhinein aufgefallen, dass in fast jeder Erzählung auch Aspekte der Arbeitswelt verhandelt werden – vor allem die Schwierigkeit, im Berufsleben Fuß zu fassen, trotz sehr gu-ter Bildung. Das war überhaupt nicht beabsichtigt, wurde aber zwangsläufig zum Thema. In der ersten Erzählung des Bandes ist die Hauptfigur Tellerwäscherin, und gleich dar-auf, im nächsten Text, haben wir es mit zwei Dichterinnen zu tun, die hochgebildet sind und sich von anderen aushal-ten lassen, weil sie keine Möglichkeit sehen, mit ihren Talen-ten und Qualifikationen Geld zu verdienen. Noch später im Band gibt es eine Szene, in der sich zwei Schüler miteinander unterhalten, und der eine sagt, dass er zu Hause in der Fami-lie schon nur noch derjenige ist, der immer das Licht abdreht, weil er sich bereits auf das Stromsparen vorbereiten will. Er ist beunruhigt, weil er bei seinen Brüdern gesehen hat, dass ein erfolgreicher Studienabschluss schon lange kein Garant mehr dafür ist, später einen Job zu bekommen. Dieses Pro-blem taucht an verschiedenen Stellen im Buch auf, ich hät-te es aber nicht zum Hauptthema machen wollen, weil ich  es nicht mag, wenn in der Literatur zu viel gejammert wird. Ich finde es sehr schön, dass meine Texte oft als „leichtfüßig“ bezeichnet werden, obwohl auch ernste Themen darin vor-kommen. Es ist mir wichtig, unterhaltsam zu sein. Ein Werk, das nur genial, ernst und anspruchsvoll ist, aber keinen Ge-nuss und keine Freude bietet, wäre aus meiner Sicht mit ei-nem Mangel behaftet, und ich wäre unzufrieden damit und würde es verwerfen. II. TEXTAUSSCHNITT  THÁLEIA (KOMÖDIE) Wenige Wochen nachdem ich den Job als Tellerwäsche- rin angenommen hatte, verlor ich den Verstand. Anfangs ge-fiel mir die Atmosphäre in der Sterneküche. Ich genoss es, dass die ganze Zeit um mich herum Befehle gebrüllt wur-den, die mich nichts angingen, und der Chefkoch regelmäßig Wutanfälle bekam, die an die gesamte Küchencrew, nur nicht an mich gerichtet waren. Während der Chef de Cuisine vul-gäre Ausdrücke durch den Raum schrie und dabei mitunter Töpfe und Pfannen auf den Boden warf, sodass es laut schep-perte, stand ich seelenruhig und ungerührt im Kämmerchen neben der Küche und spülte das Geschirr. Es hatte nichts mit mir zu tun, wenn der Koch das Team als „unfähige Rind-viecher“ oder als „Säue und Eber ohne Geschmacksnerven“ beschimpfte. Ich stand da, polierte teure Weingläser und das Porzellan, das für die Spülmaschine zu heikel war, und nichts war schwierig, nichts strengte mich an. Die Arbeit war jeden Tag gleichbleibend einfach, es gab nichts, das ich falsch ma-chen konnte.  „Schreiben hat für mich  mit dem Wunsch nach  Nähe zu tun“ Autorin  DANIELA CHANA  im Gespräch mit  THOMAS BALLHAUSEN  über die Themenfelder Arbeit und Bildung in  ihrem Erzählband  Neun seltsame Frauen, über Schreiben als Beruf und Alltag als Abenteuer. – Ein Interview mit Textproben.


 ZUKUNFT | 35  Porträtfoto Daniela Chana© Alexander Peer, 2018 III.  T.B.: Literatur ist Arbeit, coole Arbeit, aber eindeutig Ar- beit. Wie hat sich der Schreib- und Gestaltungsprozess für Deine jüngste Publikation dargestellt? Was waren die Unter-schiede oder auch Ähnlichkeiten im Vergleich zu den Arbei-ten an Deinem Gedichtband Sagt die Dame? D.C.: Gedichte zu schreiben ist für mich immer das Na- heliegendste, Prosa hingegen kostet mich viel mehr Kraft und Mühe. Es ist ein völlig anderer Prozess. Für mich ist Lyrik ge-wissermaßen die natürlichste Ausdrucksform: Dieses Situati-ve, dieses Punktuelle, dieses Fokussieren auf einen Moment oder eine scheinbar kleine Beobachtung entspricht meiner Art zu denken. Mit einem Gedicht kann man etwas auf den Punkt bringen, ohne dass man rundherum so wahnsinnig viel aufbauen muss. Lyrik schreibe ich deshalb in jeder Lebenslage, in jeder Körperhaltung, in Zügen, Bussen, Flugzeugen, mit Kugelschreiber auf eine Serviette, mit Bleistift auf einen alten Zettel oder nur in Gedanken. Es ist eine Möglichkeit, in einer unruhigen Umgebung ganz für sich zu sein. Wenn ich Pro-sa schreibe, muss ich hingegen aufrecht am Schreibtisch sitzen, stundenlang am Laptop, mit Kaffeepause dazwischen, das fühlt sich dann viel mehr wie Arbeit an. In  Neun seltsame Frauen gibt es eine einzige Geschichte,  bei der ich die erste Fassung mit der Hand geschrieben habe, so wie ich es sonst nur bei Lyrik tue. Es ist die dritte Er-zählung in dem Band: Erato (Liebe). Interessanter Weise be-komme ich jetzt ständig die Rückmeldung von Leser*innen,  dass dieser Text heraussticht, dass er langsamer, ruhiger, trau-riger ist als die anderen, die sehr schwungvoll und leichtfüßig sind. Ich glaube, das hat damit zu tun: mit dem Schreiben per Hand. Ich stelle mir immer vor: Alle anderen Erzählungen in dem Band sind flotte Popsongs, und Erato ist die leise Balla-de dazwischen. T.B.: Das Strukturangebot von Neun seltsame Frauen ori- entiert sich an den griechischen Musen, reicht damit von der Astronomie bis zum Tanz, von der Komödie bis zur Lyrik. Warum hast Du Dich für den Rückgriff auf dieses antike Bil-dungsgut entschieden? Wie verhalten sich die Musen und die ihnen zugeordneten Künste zu den doch sehr unterschiedli-chen Figuren in den jeweiligen Erzählungen? Siehst Du hier einen Bezug zur Konvention der Anrufung der Musen? Was hat Dich bewogen bei jeder der Musen, die ja oft für mehrere Künste stehen, eine Zuordnung hervorzuheben? D.C.: Die neun Musen sind ein Ordnungsprinzip, das mir  geholfen hat, beim Schreiben meine Kreativität zu bündeln. Ich habe eine große Leidenschaft für Popmusik, vor allem für Singer-Songwriter. Was mich immer am meisten begeistert hat, ist die Idee des Konzeptalbums, also eines Albums, auf dem die einzelnen Songs eine zusammenhängende Geschich-te erzählen, ähnlich wie bei einem Musical oder einer Oper. Jeder Song kann für sich alleine stehen, aber wenn man das Album vom ersten bis zum letzten Song durchhört, zeichnet sich ein eigener Handlungsstrang oder eine Entwicklung ab. Für mich war immer klar: Wenn ich einen Erzählband veröf-fentliche, dann soll er sein wie ein Konzeptalbum. Ich woll-te keine zufällige Aneinanderreihung von Geschichten, die nichts miteinander zu tun haben, sondern ein stimmiges Gan-zes. Durch die neun Musen war zum Beispiel determiniert, dass es exakt neun Geschichten sein müssen, und es wurde lose ein thematischer Rahmen abgesteckt: Komödie, Lyrik, Liebe usw. Für den/die Leser*in muss nicht unbedingt im-mer ersichtlich sein, warum eine Geschichte einer bestimm-ten Muse zugeordnet ist, teilweise ist es ein sehr freies Spiel mit Assoziationen. Ich habe jede Muse auf einen oder maximal zwei Begrif- fe reduziert, und da habe ich sie relativ schamlos in den Dienst meiner Figuren und Geschichten gestellt – wie man das mit Musen eben so macht! Zum Beispiel steht Klio bei mir ex-plizit für Geschichtsschreibung und nicht einfach nur für Ge-schichte, weil es in dieser Erzählung darum geht, wie und von wem die Geschichte erzählt bzw. geschrieben wird.


 36 | ZUKUNFT  IV.  TEXTAUSSCHNITT ERATO (LIEBE) Caroline rafft die schmutzige Bettwäsche zusammen und  trägt sie ins Badezimmer. Das Putzen, Waschen und Aufräumen nach einem Männerbesuch beruhigt sie. Wenn das Geschirr sauber und die Bettwäsche frisch ist, wird die Fantasie wieder glaubhafter: Der Mann ist gerade in der Arbeit, die Kinder sind in der Schule. Manchmal wundert es sie schon ein bisschen, dass ihr diese Vorstellung um so vieles lieber ist als die Variante: Der Mann ist gerade nach Hause gekommen und die Kinder sind auch da. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ihre Kreativität dafür einfach nicht ausreicht; sie weiß eben nicht, wie das wäre. Würden sich alle die ganze Zeit im selben Raum aufhalten, oder wäre jeder eher für sich? Würden die Kinder still zeich-nen und sich gegenseitig ihre Buntstifte borgen, oder würden sie alle auf dem Sofa nebeneinandersitzen und sich einen Dis-ney-Film ansehen? Caroline kann sich das einfach nicht vorstel-len, ihr fehlen die Anhaltspunkte. Wenn sie abends fernsieht, kann sie sich schon vorstellen, dass da jetzt ein bis drei Personen danebensäßen, die ab und zu einen humorvollen Kommentar machen oder Schau mal sagen. Nur zu den Personen selbst fällt ihr nichts ein. Sie hat keine Ahnung, womit sich Kinder in ver-schiedenen Phasen ihrer Entwicklung beschäftigen. V.  T.B.: Eine der Musen ist Erato, die Liebliche oder auch  die Liebevolle. Innerhalb Deines Bandes steht sie für die wort-wörtliche  Liebe, was für mich auch mit der in Deinen Er-zählungen wesentlichen Ebene des Sinnlichen korrespondiert. Siehst Du da die Problematik einer simplifizierenden Zuord-nung zu den sogenannten leichten Themen innerhalb der Ge-genwartsliteratur, insbesondere in der Literatur von Frauen? Sehr schnell, so habe ich den Eindruck, kommt es da immer noch zu Verengungen, nicht zuletzt im Sinne von Verkäuf-lichkeit und Zuordenbarkeit.  D.C.: Damit habe ich überhaupt kein Problem. Wenn ir- gendjemand behauptet, Liebe wäre ein „leichtes“ Thema, dann wundert mich das aber sehr … Ich kann mir fast kein komplexeres Thema vorstellen als Liebesbeziehungen, deswe-gen interessieren sie mich so unendlich. Wenn es sein muss, werde ich sehr gerne die Anwältin der Liebesromane und Lie-besgedichte sein! Ich würde sie jederzeit vor jedem Tribunal dieser Welt verteidigen! In meinen Geschichten geht es immer wieder um das  Zwischenmenschliche, um Verführung und Anziehung, wie  und warum Nähe entsteht und ob sie auch wieder verloren gehen kann. Auch die ambivalente Dynamik, zu der es da kommt, wenn wir von jemandem fasziniert sind und gleich-zeitig Angst haben. Mir gefallen immer wieder die Missver-ständnisse im zwischenmenschlichen Bereich, die kleinen Fehlleistungen, das Aneinander-Vorbeireden in einem Dia-log, das Falsch-Hören oder Falsch-Interpretieren, zum Bei-spiel wenn jemand im Gespräch weiterredet und eine Frage beantwortet, die sein Gegenüber gar nicht gestellt hat oder umgekehrt. Deswegen schreibe ich sehr, sehr gern Dialoge, weil sie die Geheimnisse einer Beziehung offenlegen: Wer hört zu, wer redet einfach weiter, wer reagiert, wer stößt et-was an …? Am Beispiel der Liebesbeziehung kann man fast jedes Thema verhandeln. Es wäre ein riesengroßer Verlust für mich, wenn ich nicht mehr über Beziehungen schreiben dürfte, nur um angeblich anspruchsvoller zu wirken, und es käme mir auch wirklich albern vor. Sinnliche Eindrücke sind mir beim Schreiben sehr, sehr wichtig. In einem Text möch-te ich das pure Leben vor Augen haben: den Geschmack von Speisen und Getränken, den Duft von Blumen und Gewür-zen, die Kleidung einer Figur, die Architektur eines Ortes usw. Leser*innen haben mir schon öfter gesagt, dass ihnen meine Erzählungen vorkommen wie Filme, weil sie alles sehr plastisch vor sich sehen. Ich mag keine lieblosen, unmoti-vierten Beschreibungen wie „Sie aßen zu Abend“, ohne dass man erfährt, was die Figuren essen und wie es schmeckt. Der Text soll eher wie eine echte zweite Welt sein, die man be-treten kann und in der es alles gibt, was es im richtigen Le-ben gibt. Ich glaube, dass die Sinneseindrücke der Sinn des Lebens sind.   „SCHREIBEN HAT FÜR MICH MIT DEM WUNSCH NACH NÄHE ZU TUN“  DANIELA CHANA UND THOMAS BALLHAUSEN  DANIELA CHANA:  NEUN SELTSAME FRAUEN.  ERZÄHLUNGEN Innsbruck: Limbus 224 Seiten | € 18,–  ISBN 978-3-99039-195-2 Erscheinungstermin: Februar 2021


 ZUKUNFT | 37  VI.  TEXTAUSSCHNITT THÁLEIA (KOMÖDIE) Ich hatte meine eigene Kammer abseits des Geschehens,  ein bisschen wie eine Souffleuse im Theater. Jeden Abend kam der Chefkoch für ein paar Sekunden zu mir in die Kammer, um sich auszuschnaufen. Wenn er vor Zorn richtig getobt hatte und die schwierigsten Gänge endlich hinausgeschickt waren, versteckte er sich für eine Weile hinter der Wand ne-ben dem Spülbecken. Ohne mich zu beachten, schloss er die Augen und atmete tief durch. Dann nahm er stets eine kleine Schnapsflasche aus seiner Kochjacke und trank einen ordentli-chen Schluck, während ich zwei Meter neben ihm stand, mit dem Schwamm in der Hand. Anfangs schämte ich mich. Ich hielt den Atem an und traute mich kaum mehr, meine Hand im Spülbecken zu bewegen und ein Geräusch zu machen, weil ich erwartete, dass er plötzlich die Augen öffnen, mich ansehen und dann anschreien würde, weil ich Zeugin seiner schwächsten und verletzlichsten Sekunden geworden war. Erst nach einigen Wochen, nachdem sich das Spiel fünfzehn oder zwanzig Mal wiederholt hatte, begriff ich, dass der Koch mei-ne Anwesenheit ignorierte, weil ich für ihn keine Bedeutung hatte. Ich war niemand, für den es sich lohnte herumzuschrei-en oder Pfannen und Töpfe auf den Boden zu werfen. Es gab keine Leistung, die mir ein Gesicht verlieh. Ich erfand keine genialen Saucen, an denen man meine Persönlichkeit able-sen konnte, oder dekorierte Teller in einer unverwechselbaren Handschrift. Es gab keinen Geschmack oder kein Gewürz, das man mir zuordnen konnte, sondern nur einen Stapel sauberer Teller, Gläser und Tassen, die darauf warteten, wie ein leeres Blatt Papier von jemand anderem beschrieben zu werden. Ich war für das ständige Löschen zuständig und für das Bereitstel-len, mein Job war nur ein Platzschaffen für andere. Nachdem ich das begriffen hatte, fiel es mir weniger  schwer, mit diesen intimen Momenten des Kochs umzuge-hen. Während er neben mir stand und durchatmete und sei-nen Schnaps trank, klapperte ich weiter mit den Tellern und Gläsern im Spülbecken und täuschte meinerseits vor, ihn zu ignorieren. Es war ja auch nichts Besonderes, dass er trank. In der Küche tranken alle die ganze Zeit. Alle tranken den Wein, der für die Saucen verwendet wurde, sodass man ständig fluchte, die Flasche sei schon wieder leer. Hemmungslos wur-de mitunter sogar der teure Wein aufgemacht, der für die Gäste bestimmt war, und dann irgendwo in der Buchhaltung falsch eingetragen. Ganz co-abhängig hielt die gesamte Küchencrew beim Lügen zusammen, damit fehlender Alkohol nicht auffiel. Die Kellner tranken sogar die Reste aus den Weingläsern, die von Restaurantgästen zurückgeschickt wurden. VII.  T.B.: Deine Erzählungen bestechen nicht zuletzt durch  eine Aufwertung des Alltags, der als eine Form von Abenteuer erfahrbar wird. Du schreibst über Routinen und Sicherheiten – auf eine einnehmende, nicht selten sehr humorvolle Weise. Siehst Du da eine Herausforderung und Aufgabe für Dich als Autorin? Berühren sich auch auf dieser Ebene Deine bisher erschienenen Veröffentlichungen, vielleicht sogar Deine aktu-ellen und künftigen Projekte? D.C.: Es gibt doch nichts Spannenderes als den Alltag an- derer Leute! Meine Lieblingsszenen in Filmen sind auch im-mer die, in denen jemand bügelt oder die Wäsche aufhängt oder beim Frühstück eine Zeitung liest. Wenn hingegen je-mandem ein Abenteuer passiert, schlafe ich immer vor Lan-geweile ein – das ist mir zu weit weg vom Leben. Meiner Lektorin ist einmal aufgefallen, dass in fast jedem meiner Tex-te irgendjemand das Geschirr abwäscht. Mich interessiert, wie Menschen den Alltag bewältigen, die ganz gewöhnli-chen Dinge, die doch insgesamt alle schwierig und abenteu-erlich genug sind. Schreiben hat für mich sehr stark mit dem Wunsch nach Nähe zu tun. Ich möchte jemandem nahe sein, also mache ich daraus eine literarische Figur und folge ihr in ihren Alltag, bis ich sie besser kenne als irgendjemanden sonst. Das wird wahrscheinlich immer mein Zugang zum Schrei-ben sein. So war es schon bei Sagt die Dame und bei allen Tex-ten von mir, die in Zeitschriften oder Anthologien erschienen sind. Aktuell arbeite ich an einem Roman, und auch hier war der Ausgangspunkt, dass ich gewisse Figuren und Beziehungs-konstellationen näher kennenlernen wollte: Was kochen sie, was sagen sie einander vor dem Schlafengehen, wie verhalten sie sich in bestimmten Situationen? VIII.  T.B.: Diese Einblicke in Deine Poetik erinnern auch an  das vieldiskutierte Feld eines weiblichen Schreibens, wobei das ja, was nicht vergessen werden darf, nicht einfach eine eindeu-tig geschlechtliche Zuordnung meint. Wie ist Dein Verhältnis zum weiblichen Schreiben als Autorin, aber auch als Leserin oder Literaturwissenschaftlerin? In Deinen Interessen kom-men ja so unterschiedliche Positionen wie Tori Amos oder Shirley Jackson zusammen. D.C.: Ich bin nicht der Typ, der sich an aufgeregten De- batten beteiligt. Viel lieber orientiere ich mich an positiven Vorbildern, von denen ich immer viele gefunden habe, und 


 38 | ZUKUNFT  „SCHREIBEN HAT FÜR MICH MIT DEM WUNSCH NACH NÄHE ZU TUN“  DANIELA CHANA UND THOMAS BALLHAUSEN  versuche, die zu vermitteln, ganz freundlich, entspannt und ohne jeden Vorwurf. Ich glaube, dass man damit viel mehr für die Sache tut. In meinen literaturwissenschaftlichen For-schungen standen bisher immer Autorinnen im Fokus, weil ich das Gefühl hatte, aus deren Werken und Lebensgeschich-ten mehr für mich lernen zu können. Außerdem wollte ich nie über etwas schreiben, worüber es schon Unmengen von Quellen gibt. Es ist mir lieber, mit meinen eigenen Gedanken einen neuen Diskurs zu beginnen, statt in einen bereits be-stehenden einzusteigen. Nach demselben Kriterium habe ich auch immer die Textgattungen ausgewählt, über die ich ge-forscht habe: Cabaret, Lyrik, Songtexte – also ein bisschen die „vergessenen“ Gattungen. T.B.: Wie erlebst und erfährst Du Deine Positionierung  als Autorin innerhalb der Gegenwartsliteratur? Wie ist Deine Sicht auf den österreichischen oder auch internationalen Lite-raturbetrieb? Welche Herausforderungen und Ungleichheiten – oder gar Ungerechtigkeiten – fallen da auf bzw. prägen viel-leicht ja auch Deine Arbeit? D.C.: Die größte Herausforderung besteht sicher darin,  dass Literatur generell so ein Nischendasein fristet und es des-wegen sehr schwer ist, mit dem Schreiben Geld zu verdie-nen. Das betrifft alle gleichermaßen, männliche wie weibli-che Autor*innen, bis auf ein paar wenige Glückspilze. Umso mehr finde ich es schade, dass viele Autor*innen scheinbar solche Scheu vor dem Begriff „Unterhaltung“ haben und dadurch den elitären Charakter der Literatur noch verstär-ken – als ob Unterhaltung nicht auch intelligent sein könn-te. Bei verschiedenen Poesiefestivals, bei denen ich im Laufe der Jahre aufgetreten bin, hatte ich immer wieder das Ge-fühl, dass meine Texte deutlich fröhlicher sind als die der an-deren Autor*innen. Viele scheinen zu glauben, dass sie ih-rem Text mehr Gewicht verleihen, wenn sie sich besonders ernst und tragisch geben, als ob Humor und Anspruch ei-nander ausschließen würden. Im Zuge meiner Forschungen zur Geschichte des Cabarets habe ich die Methoden unter-sucht, mit denen etwa die Exilcabarets in den 1930er-Jahren ernste Themen humorvoll verarbeitet haben – freilich ging es damals auch ganz wesentlich darum, die Zensur zu umge-hen, um überhaupt auftreten zu können. Mich hat das sehr fasziniert, wie zum Beispiel in Erika Manns Pfeffermühle tief-traurige Themen zu schwungvollen Liedern und Sketchen verarbeitet wurden, wie Märchen und Fabeln herangezogen wurden, um das Ganze erträglicher zu machen. Das halte ich für eine große und wertvolle Kunst, die viel mehr gewürdigt  werden sollte. Literatur soll doch Menschen erreichen und nicht nur einem kleinen Kreis vorbehalten sein. DANIELA CHANA  ist Autorin und Literaturwissenschaftlerin. Ihr Gedichtband   Sagt die Dame (2018) war Teil der renommierten Auswahl   Lyrik-Empfehlungen 2019 der Deutschen Akademie für Sprache und  Dichtung. Die im Interview erwähnte Studie  Erika Mann und die ‚Pfeffer- mühle‘. Dadaismus und die Anfänge des Cabarets in der Schweiz (2016)  ist im Verlag danzig & unfried (Wien) erschienen. Der Abdruck der Textab- schnitte aus dem Erzählband  Neun seltsame Frauen erfolgt mit   freundlicher Genehmigung durch den Limbus Verlag (Innsbruck).  THOMAS BALLHAUSEN  lebt als Autor, Kulturwissenschaftler und Archivar in Wien und   Salzburg. Er ist international als Herausgeber, Vortragender und Kurator  tätig. Soeben erschien sein neues Buch  Transient. Lyric Essay (Edition Melos).


 ZUKUNFT | 39  Pure Painting II (2019) Galerie & Atelier Landerl, Berggasse 29 REINHARD SIEDER


 40 | ZUKUNFT  Textil (2019) Acryl, Gips auf Leinwand  100 x 70 cm


 ZUKUNFT | 41  REINHARD SIEDER


 42 | ZUKUNFT  Tabaco (2019)  Acryl, Gips auf Leinwand  100 x 70 cm


 ZUKUNFT | 43  REINHARD SIEDER


 44 | ZUKUNFT  CODA. EIN POSTSKRIPTUM  VON THOMAS BALLHAUSEN UND BIANCA BURGER Bildung und ihre Kontexte gesamtgesellschaftlich zu re- flektieren ist eines der erklärten Kernanliegen der ZUKUNFT. Es gibt jetzt und auch weiterhin eine absolute Notwendig-keit, diesem Themenbereich einen möglichst großen media-len Resonanzraum zu geben. In einer Gesellschaft, die Gefahr läuft, immer nur die Stärksten zu stärken und die Schwächsten zu schwächen, wird die Beschäftigung mit der Bildung ein-mal mehr zur politischen Aufgabe, die sich permanent und eben auch immer wieder neu stellt. Es gilt den grundsätz-lichen, freien Zugang zu Bildung zu erhalten – die Zielset-zung dabei kann aber eben nicht nur Ausbildung sein, son-dern eben auch Bildung im übergeordneten Sinne, die eine Gemeinschaft mündiger Bürger*innen anstrebt. Die allgemeine Situation – und das meint auch, aber eben  nicht nur Corona – hat Lernende wie Lehrende verstärkt un-ter Druck geraten lassen. In diesen Tagen ist nicht weniger Arbeit zu leisten, nein, vielmehr andere Arbeit und eben auch anders. Dass das Ergebnis nicht selten der Abbruch von Aus-bildung, Weiterbildung oder auch Fortkommen innerhalb  von Bildungs- und Kultureinrichtungen ist, hat nicht mehr nur mit der Schwere von Lernstoff oder dem sogenannten work load zu tun; die nur zu nachvollziehbaren Gründe sind vielmehr verstärkt Dauerüberlastung sowie schlicht Resigna-tion angesichts der Umstände und Bedingungen, unter de-nen gelernt, gelehrt und gearbeitet werden soll. Darüber hin-aus wollen wir im Rahmen dieses Postskriptums noch weitere Herausforderungen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – angesprochen wissen. So hat uns das Thema der Digitalisierung erst vor eini- gen Ausgaben unter medienpädagogischen Gesichtspunkten beschäftigt. Digitalisierung – ob nun im Rahmen der Erfas-sung, der Schaffung oder auch der analytischen Durchdrin-gung – wird in den kommenden Jahren noch verstärkt prägen, was eine Schule, ein Campus, eine Einrichtung der Erwach-senenbildung oder eben auch eine politische Diskussionszeit-schrift ist. Hier wäre es ja durchaus möglich – um auf Ge-danken aus Bryan Alexanders jüngster Monografie Academia Next zurückzugreifen – den Campus der Zukunft als über- Coda. Ein Postskriptum THOMAS BALLHAUSEN  und  BIANCA BURGER  reflektieren in ihrer  Coda aktuelle Herausforderungen für den Bil- dungs- und Kulturbereich, die sich nicht zuletzt in Form gefährlicher Radikalisierung gesellschaftlicher Debatten und repres-siver Strategien der Exklusion zeigen. Ein Aufruf zum ernstgemeinten Dialog … Die Vita activa, menschliches Leben, sofern es sich auf Tätigsein eingelassen hat, bewegt sich in einer Menschen- und Dingwelt, aus der es sich niemals entfernt und die es nirgends transzendiert. Jede menschliche Tätigkeit spielt in einer Umgebung von Dingen und Menschen; in ihr ist sie lokalisiert und ohne sie verlöre sie jeden Sinn. Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben


 ZUKUNFT | 45  greifend wirksamen Wissens-Hub zu konzipieren und nicht nur als Verräumlichung dichotomer, kybernetischer Dysto-pien à la „Exzellenz vs. Auslöschung“. Semiautomatisierung kann in diesen Kontexten, das muss hier erneut betont wer-den, aber immer nur als Unterstützung laufender und wei-terzuentwickelnder Prozesse verstanden werden, nie als deren vollumfänglicher Ersatz. Die technologische Herausforderung wirkt somit auch auf  die Relationen von Produktion und Verteilung von Wissen. Aktuelle Debatten zeigen verstärkt, dass Bildungskomponen-ten oder auch Forschungsergebnisse auf ihren Warenwert li-mitiert werden – die Formen der Veröffentlichung in Bildung und Wissenschaft sind, um ein Beispiel herauszuheben, davon ganz besonders betroffen. Hätte man hier doch eigentlich ein solides Instrument der Verteilung von Wissen und Erkennt-nissen, leidet es trotz aller Bemühungen rund um nicht zu-letzt politisch gewollte Strategien zu open access, an den wirt-schaftlichen Eigeninteressen der beteiligten Konzerne. Auf jeden Ansatz der Öffnung folgt eine Gegenentwicklung – und nun sind nicht mehr nur Druck von Veröffentlichungen kos-tenpflichtig, sondern eben auch die sofortige freie Verfügbar-keit mit öffentlichen Mitteln geförderter Forschung oder gar die Prüfung eingereichter Ergebnisse zwecks Publikation. Es entbehrt nicht einer gewissen Perfidie, dass just dieser Bereich auch häufig wesentlich zur Evaluierung der Lehrenden heran-gezogen wird – nicht zuletzt jener Lehrenden, die auf befris-tete Verträge angewiesen sind und zugleich einen Großteil der Lehre erbringen. Der schon genannte Bryan Alexander wid-met seine zuvor erwähnte Studie auch deshalb ganz bewusst diesem Segment der Lehrenden: „To all adjunct faculty, who do more than anyone, with less than anyone, to build the fu-ture of higher education“. Mit dieser Zueignung ist ja eine humanitäre als auch wirt- schaftliche Krise angesprochen, die das akademische System auf globaler Ebene bei nicht im jeweiligen System dauerhaft verankerten Lehrbeauftragten verursacht hat. Die gegenwär-tigen legistisch-diskursiven Herausforderungen für die Bil-dung sind vielgestaltig: Das adaptierte österreichische Univer-sitätsgesetz – ebenfalls schon Thema in der ZUKUNFT – mit seinen neuen Mindestanforderungen an Studierende, die Schwächung universitätsinterner Gremien und vor allem mit seinen negativen Auswirkungen auf Lehrende, die von be-fristeten Verträgen oder Drittmittelprojekten abhängig sind, greift massiv in Lebensrealitäten und -entwürfe unterschied-lichster Generationen ein. Es wird offensichtlich, dass die ge- wählte Vorgehensweise nicht der richtige Weg ist, um Ge-nerationengerechtigkeit innerhalb des Bildungssystems oder Nachwuchsförderung zu gewährleisten. Mit der eigentlich notwendigen Erhaltung von Perspektiven, muss darüber hi-naus auch die Freiheit der wissenschaftlichen bzw. wissen-schaftlich-künstlerischen Forschung abseits von moralischen Wertungen mitgemeint sein und bleiben. Hier zeigt sich ei-nerseits eine technologisch aufgerüstete, nicht selten empör-te Öffentlichkeit in einer selbstgewählten richterlichen Rolle, andererseits eine wohl tendenziell produktiver einzustufende Befragung von Traditionen, Modellen und Methoden durch Expert*innen innerhalb des jeweiligen Diskurses. Der Bedarf nach einer erweiterten, sensiblen Moderation zwischen die-sen beiden Haltungen und den daran gekoppelten Modi der Kommunikation, welche die potenziellen Nachteile einer di-rekten Verquickung von Politik und Wissenschaft mitbedenkt, ist offensichtlich. Eine durchaus verwandte Verzahnung dieser beiden Be- reiche zeigt sich in den jüngsten, eher als hypertroph ein-zuschätzenden, Weiterentwicklungen der prinzipiell wich-tigen und gesellschaftlich relevanten political correctness. Abseits der notwendigen Wirkungsfelder, wie z. B. der Kri-tik an systemischem Machtmissbrauch, der Beförderung von Integration und Gleichberechtigung, sowie der ge-lebten sprachlichen Verfeinerung angesichts gesellschaft-licher Transformationen, zeichnen sich hier mögliche, durchaus reale Bedrohungen für den gesamten Bildungs-, Kultur- und Vermittlungsbereich ab: So gilt es zu befürch-ten, dass Dogmatismus und fehlgeleitetes Gerechtigkeits-denken an die Stelle aufgeklärter Kritik und kritizistischen Nachvollzugs im Sinne Kants rücken; dass Diskursunter-drückung und ausgeprägte, instrumentalisierte Beschwer-dekultur realen Dialog und die entsprechende Teilhabe daran verengen, wenn nicht gar verunmöglichen; dass ha-bituelle Exklusionsstrategien und auch die sogenannte cancel  culture der Ausbildung von kultureller Homogenisierung und der Entwicklung präskriptiver ästhetischer Normen des ver-meintlich Zulässigen Vorschub leisten. Mit diesen Entwick-lungen verbindet sich nicht nur die Gefährdung des gesam-ten Projekts der political correctness, das vermehrt als isoliertes akademisches Schauringen der jeweils rhetorisch Korrektes-ten oder Lautesten bar jeder übergreifend politischer Wirk-samkeit wahrgenommen werden könnte – vielmehr sus-pendiert sich eine aufgeklärte politische Linke durch solche autoritären Haltungen perspektivisch ganz generell selbst.


 46 | ZUKUNFT  Die ZUKUNFT will deshalb auch dahingehend am Diskurs  teilhaben, um für eine qualitätsvolle, konstruktive Auseinan-dersetzung und die Erhaltung von Vielfalt sowie (philoso-phischer) Differenz einzustehen. Eine wirklich sozialdemo-kratische Diskussion – auch im Sinne von Progressivität und Erhaltung tiefenhistorischer Traditionen im 75. Jahr ihres Er-scheinens – muss für den Erhalt der ernstgemeinten Ausei-nandersetzung und Beschäftigung Position beziehen. Die Erhaltung bzw. Wiedererlangung der notwendigen Diskursfä-higkeit bedeutet für uns ein Bekenntnis zur Bildung, die auch auf supranationaler Ebene wirkt, um für europäische Wer-te zu sensibilisieren. Auf die Wirklichkeit von Unterrichts-fächern und Fachbereichen übertragen meint das z. B. Ge-schichtsunterricht, Sprachenvielfalt oder auch Sexualkunde. Bildung ist ein politisches Instrument der Deeskalation, der Option gegen Radikalisierung, Segregation, oder die Gefähr-dung demokratischer Prinzipien. Dies gilt es zu erhalten und zu befördern. THOMAS BALLHAUSEN  lebt als Autor, Kulturwissenschaftler und Archivar in Wien und Salz- burg. Er ist international als Herausgeber, Vortragender und Kurator   tätig. Soeben erschien sein neues Buch  Transient. Lyric Essay   (Edition Melos). BIANCA BURGER  ist Redaktionsassistentin der ZUKUNFT und hat sich nach ihrem   geisteswissenschaftlichen Studium der Frauen- und Geschlechter- geschichte sowie der historisch-kulturwissenschaftlichen Europa- forschung in den Bereichen der Sexualaufklärung und der Museologie  engagiert. Die Historikerin und Kuratorin hat in ihrer Arbeit einen sexual- geschichtlichen Schwerpunkt, arbeitet aber auch zu   regionalgeschichtlichen sowie interdisziplinären Themen. Ausgewählte LiteraturAlexander, Bryan (2020): Academia Next. The Future of Higher Educa- tion, Baltimore: John Hopkins University.  Arendt, Hannah (2020): Vita activa oder Vom tätigen Leben. Herausgege- ben von Thomas Meyer, München: Piper. Barberi, Alessandro (2019): Diskurspragmatik, Medienkompetenz, Eman- zipation und Freiheit. Dieter Baackes „Kommunikation und Kom-petenz“. Eine diskursanalytische Tiefenanalyse, Wien: new academic press.  Bollenbeck, Georg (1994): Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines  deutschen Deutungsmusters, Frankfurt am Main: Insel.  Bourdieu, Pierre (1988): Homo academicus, Frankfurt am Main: Suhr- kamp. de Weck, Roger (2020): Die Kraft der Demokratie. Eine Antwort auf die  autoritären Reaktionäre, Berlin: Suhrkamp. Fisher, Mark (2018): k-punk. The Collected and Unpublished Writings of  Mark Fisher (2004–2016). Edited by Darren Ambrose. Foreword by Simon Reynolds, London: Repeater. Fourest, Caroline (2020): Generation Beleidigt. Von der Sprachpolizei zur  Gedankenpolizei. Über den wachsenden Einfluss linker Identitärer, Berlin: Edition Tiamat. Jörg, Kilian (2020): Backlash. Essays zur Resilienz der Moderne, Ham- burg: Textem.  Mills, C. Wright (2019): Die Machtelite. Herausgegeben von Björn Wendt,  Michael Walter und Marcus B. Klöckner, Frankfurt am Main: West-end. Müller, Heiner (2005): Schriften. Herausgegeben von Frank Hörnigk,  Frankfurt am Main: Suhrkamp. Muray, Philippe (2020): Das Reich des Guten, Berlin: Matthes & Seitz.Pluckrose, Helen/Lindsay, James (2020): Cynical Theories. How Activist  Scholarship Made Everything About Race, Gender, and Identity – and Why This Harms Everybody, Durham, NC: Pitchstone.  Reckwitz, Andreas (2019): Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie  und Kultur in der Spätmoderne, Berlin: Suhrkamp. Stegemann, Bernd (2018): Die Moralfalle. Für eine Befreiung linker Poli- tik, Berlin: Matthes & Seitz. Willis, Ellen (2014): The Essential Ellen Willis. Edited by Nona Willis  Aronowitz, Minneapolis: University of Minnesota Press. CODA. EIN POSTSKRIPTUM  VON THOMAS BALLHAUSEN UND BIANCA BURGER


 ZUKUNFT | 47  REINHARD SIEDER Arbeitsplatz im Atelier Landerl (2019)


 48 | ZUKUNFT  ZUR ABSCHAFFUNG DER MILIZÜBUNGEN  VON FRIEDRICH KLOCKER 1. EINLEITUNG Der Feind von außen hat weitgehend ausgedient, die Fol- ge: Das österreichische Bundesheer sichert im Rahmen eines Assistenzeinsatzes nunmehr seit fast einem Jahrzehnt die Gren-ze gegen illegale Migration, bewacht Einrichtungen wie Bot-schaften, wird aktuell in Zeiten der Corona-Krise in Postver-teilzentren eingesetzt und übernimmt wesentliche Aufgaben bei den Massentestungen, wird also für Einsätze herangezo-gen, die mit dem Begriff „Landesverteidigung“ im eigentli-chen Sinn nur bedingt in direkter Korrelation stehen. Eines zeigt sich aber in dieser Situation mit erschreckender Deut-lichkeit: das Bundesheer ist materiell, vor allem aber personell derart ausgedünnt, dass es einer Reihe von Maßnahmen be-darf, die erforderliche Personalstärke für Einsätze anzuheben, um überhaupt derartige Aufgaben wahrnehmen zu können.  Zur Erinnerung: nachdem in den 1960er-Jahren das ös- terreichische Bundesheer unter Führung von ÖVP-Vertei-digungsministern derart abgewirtschaftet wurde, dass selbst die konservative Tageszeitung Die Presse abschätzig von einer „Operettenarmee“ sprach, die ihre zentrale Aufgabe, nämlich die militärische Landesverteidigung, kaum mehr wahrnehmen konnte. Verbunden mit diesem Zustand war ein dramatischer Glaubwürdigkeitsverlust der Landesverteidigung in der eige-nen Bevölkerung, der sich klar und deutlich in einer erschre-ckend niedrigen Zustimmung zum Bundesheer ausdrückte. 2.  MILIZSYSTEM UND RAUMVERTEIDIGUNG Es scheint unbestritten, dass die Reformen unter Bun- deskanzler Kreisky, dem die militärische Landesverteidigung wichtig war, wie auch der seinerzeit hochgeachtete Gene-ral Bach in einer bemerkenswerten Denkschrift aus dem Jah- re 1973 zum Ausdruck brachte, mit der Umwandlung eines stehenden Heeres auf ein Milizsystem, verbunden mit einem neuen Konzept der Landesverteidigung, genannt Raumver-teidigung, das Bundesheer aus dieser tiefen Sinn- und Ver-trauenskrise führten. Die Zustimmungsraten zur Landesver-teidigung stiegen auf noch nie dagewesene Werte – über 80 % der österreichischen Bevölkerung konnten sich mit dieser Form der militärischen Landesverteidigung identifizieren und unterstützten dieses Konzept, zu dessen „Vätern“ auch Gene-ral Spannocchi, der in diesem Zusammenhang neben vielen anderen zu nennen ist, gehörte. Zu den herausragenden Grundlagen dieser sicherheitspo- litischen Konzeption gehört zweifellos auch der Landesver-teidigungsplan, in Kraft getreten unter Bundeskanzler Sino-watz, der nicht nur die aktive Neutralitätspolitik Österreichs auf eine sehr breite Basis stellte, indem die militärische Kom-ponente der Landesverteidigung gleichrangig durch die wirt-schaftliche, die zivile und die geistige Landesverteidigung er-gänzt wurde. Im Blick auf diesen Landesverteidigungsplan müssen wir, hinsichtlich seiner Erarbeitung, aufseiten der SPÖ beispielsweise Karl Blecha und Walter Mondl als wesentliche Akteure und aufseiten der ÖVP beispielsweise Professor Felix Ermacora und Dr. Heinrich Neisser erwähnen. Der ursprünglich angepeilte personelle Rahmen des ös- terreichischen Bundesheeres – bestehend aus einer „Bereit-schaftstruppe“ auf der einen und der Miliz auf der anderen Seite, sollte rund 300.000 Mann betragen. Dieser Personal-stand wurde nie erreicht, er wurde dann im Einklang mit den politischen und sicherheitspolitischen Entwicklungen in Eu-ropa nach und nach reduziert und beträgt aktuell gerade ein-mal 14.000 Berufssoldat*innen und rund 25.000 Soldat*innen  Zur Abschaffung   der Milizübungen Der aktuelle Einsatz der Miliz im Rahmen der Covid-Pandemie verdeutlicht, wie  FRIEDRICH KLOCKER  aufzeigt, die  strukturellen Defizite und Probleme des Bundesheeres, die sich aus der Tatsache der Abschaffung der regelmäßigen Miliz-übungen ergeben …


 ZUKUNFT | 49  der Miliz. Dazu kommen etwa 8.000 Zivilbedienstete (siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Bundesheer). Das Milizsystem wurde über eine lange Zeit vor allem von  Teilen des Berufskaders abgelehnt – teilweise sogar heftig be-kämpft. Es kann daher als markante politische Leistung ange-sehen werden, dass auf Initiative des Milizverbandes Österreich (MVÖ) der damalige ÖVP-Verteidigungsminister Lichal die Ver-ankerung der Miliz als Soldat*innenstand und als Wehrform im Wehrgesetz, und zwar im Verfassungsrang (siehe: 341- Bundesverfassungsgesetz: Bundesverfassungsgesetz vom 23. Juni 1988, mit dem das Bundesverfassungsgesetz in der Fas-sung von 1929 geändert wird; 4. Art. 79 Abs. 1), herbeiführ-te. Grundlagenarbeit, aber auch nachhaltiges Werben in der Öffentlichkeit für diesen Reformschritt kommt, wie erwähnt, zweifellos dem MVÖ unter Federführung seines Präsidenten Manfred Grubauer zu, der sich mit großem Einsatz bemüh-te, diese gesetzliche Regelung herbeizuführen, um auf diese Weise das Milizsystem abzusichern und zu stärken. Eine ganz wesentliche Rolle nahm der MVÖ ebenso bei  weiteren substanziellen gesetzlichen Regelungen zur Gleich-stellung von Berufs- und Milizsoldat*innen ein. Beispielswei-se durch Initiativen des MVÖ, die, um ein Beispiel für viele an-dere zu nennen, die sozial- und zivilrechtliche Absicherung von Milizsoldat*innen bei Übungen und bei Einsätzen und danach sicherstellte. 3.  MILIZ IM WEHRGESETZ UND VERFASSUNG Eine auch nach außen sichtbare Aufwertung der Miliz war  sicherlich die gemeinsame Ausmusterung der aktiven Berufs-offiziere und der Milizoffiziere des gleichen Jahrgangs – erst-mals im Jahre 1978, Jahrgang „Flitsch Tolmein“ – im Rahmen einer Feier in der Militärakademie in Wr. Neustadt, die vor allem auch die Bedeutung der Miliz für die Landesverteidi-gung unterstreichen sollte. Es steht wohl außer Zweifel, dass schon aufgrund der  rechtlichen Bestimmungen, das österreichische Bundes-heer nach den Grundsätzen eines Milizsystems einzurichten ist. Präzise legt daher der § 1, Abs.(4) des Wehrgesetzes fest: „Dem Milizstand gehören Wehrpflichtige außerhalb des Prä-senzstandes an, die den Grundwehrdienst vollständig geleistet haben und nicht in den Reservestand versetzt oder übergetre-ten sind (Wehrpflichtige des Reservestandes).“ Aus diesen ge-setzlichen Bestimmungen lässt sich zweifellos die Verpflich- tung zu Milizübungen für das Funktionieren des Milizsystems und die militärische Landesverteidigung an sich ableiten, wo-bei aus dem § 28 WG klar und deutlich hervorgeht, dass das Element der Freiwilligkeit lediglich als systemische Ergän-zung, keinesfalls als das tragende Prinzip der Miliz anzuse-hen ist. Dieses Faktum geht auch aus den Erläuterungen zum Wehrrechtsänderungsgesetz 1988 klar und unmissverständlich hervor, bilden doch die regelmäßigen Milizübungen den sys-temimmanenten Bestandteil des Milizsystems. 4.  DAS AUSSETZEN DER MILIZÜBUNGEN Eine Zäsur in dieser Hinsicht, manche sprechen sogar von  einem Anschlag auf das verfassungsrechtlich abgesicherte Mi-lizprinzip, stellt zweifellos die Aussetzung der „Milizübungen“ durch den ÖVP-Verteidigungsminister Platter dar. Anstelle der verpflichtenden, regelmäßigen Milizübungen tritt grundsätz-lich das Prinzip der Freiwilligkeit. Eine konkrete Auswirkung dieser Entscheidung von Minister Platter konnte die brei-te Öffentlichkeit jüngst wahrnehmen, als Teile des Bundes-heeres im Rahmen der Bemühungen zur Eindämmung der  COVID-19-Pandemie mobilisiert werden mussten, weil nicht genügend zivile Kräfte zur Verfügung standen. Erstmals in der 2. Republik wurde dabei einerseits auf das  Instrument der „außerordentlichen Übungen“ (Anmerkung: diese spezielle Form der Aufbietung von Soldat*innen wur-de im Gefolge des Einmarsches der Sowjets in der Tschecho-slowakei gesetzlich verankert, um umfangreich militärische Kräfte aufbieten zu können, ohne eine Mobilmachung mit den problematischen außenpolitischen Konsequenzen aus-rufen und in Kauf nehmen zu müssen) zurückgegriffen, an-dererseits wurden auch 3000 Milizsoldat*innen ab Mai 2020 einberufen. Ein weiteres Manko, das sich rasch auftat, bestand und be- steht zweifellos darin, dass die früher organisch gewachsenen Milizeinheiten nur rudimentär und unregelmäßig mit Infor-mationen über ihren Truppenkörper, über aktuelle Entwick-lungen, über mögliche Einsätze und Ereignisse versorgt wur-den. Für viele Milizsoldat*innen, die fest im Berufs- und Familienleben stehen, führte folglich die in Rede stehende Einberufung daher zu nicht übersehbaren Unsicherheiten, da und dort zu klarer Ablehnung. Gerade die oftmals mangeln-de Kommunikation zwischen dem Bundesheer und seinen Milizsoldat*innen, die zumeist keinerlei Informationen dar-über besaßen, ob nun konkret eine Einberufung bevorstand 


 50 | ZUKUNFT  oder nicht, brachte für jene Milizsoldat*innen, die in wichti-gen, leitenden und zentralen beruflichen Verwendungen ste-hen, sehr schwierige Situationen mit sich. Dieses Vorgehen des Bundesheeres war völlig unbefriedigend und ist eine Fol-ge, die sich aus der Aussetzung der Milizübungen ergibt. 5.  DIE INTERDEPENDENZ VON MILIZ UND  GESELLSCHAFT Viele Milizsoldat*innen beklagen sich, dass die Kommu- nikation zwischen Bundesheer und ihrer Milizeinheit, bis zur Entscheidung von Minister Platter zur Aussetzung der Mi-lizübungen, völlig anders, weil sehr befriedigend ausgesehen hat. Bis zum Abwürgen dieser lebendigen, von breiten Teilen der Bevölkerung getragenen Miliz und dem Ersatz durch eine „Freiwilligenmiliz“, gab es – vor allem initiiert und gefördert vom seinerzeitigen Büro für Wehrpolitik und dem Arbeitsstab Miliz, (z. B.: Generalmajor Dr. Semlitsch, Brig. Dr. Schnei-der, Brig. Vogel oder auch Brig. Danzmayer, der im Kabinett des ehemaligen Vizekanzlers Riegler tätig war, um nur eini-ge herausragende Persönlichkeiten in diesem Kontext zu nen-nen) – eine ganze Reihe von Publikationen in den einzel-nen Truppenkörpern, die die beorderten Milizsoldat*innen über all das am Laufenden hielten, was in der Landesverteidi-gung im Allgemeinen und in der eigenen Einheit im Beson-deren geschah. Gleichsam als Leuchtturmprojekt in diesem Zusammen- hang darf auf die Publikation Miliz Impuls verwiesen werden, die in Abstimmung zwischen dem „Milizverband“, dem Ar-beitsstab Miliz und dem Büro für Wehrpolitik regelmäßig an alle beorderten Milizsoldat*innen erging. Mit der Abschaf-fung der Milizübungen und der Umstellung auf eine „Frei-willigenmiliz“ wurde auch dieses Instrument einer lebendigen Miliz weitgehend beseitigt. Daher darf nicht wundern, wenn – wie vorhin erwähnt – ein großes Informationsdefizit bei je-nen Milizsoldat*innen bestand, die gegebenenfalls der ange-kündigten Einberufung Folge zu leisten hatten. Diese Interaktion zwischen Bundesheer und Miliz ging  über den formalen Informationscharakter weit hinaus, sie stärkte den Zusammenhalt, sie förderte die Identifikation und nicht zuletzt die Leistungsfähigkeit der Miliz insgesamt. Ge-rade in Zeiten, in denen die digitale Kommunikation zum alltäglichen Standard gehört, erhebt sich die Frage, was der Grund sein mag, weshalb es die Verantwortlichen im Bun-desheer bislang verabsäumen, auf diese Weise die (interakti- ve) Kommunikation sowie die permanente Informations-weitergabe an die beorderten Milizsoldat*innen aufrecht zu erhalten. Die Aufrechterhaltung dieser sinnvollen Praxis hät-te gerade in Zeiten, in denen das rasche Aufbieten militäri-scher Kräfte notwendig ist, geholfen, die notwendige Vorbe-reitungsphase zur Aufbietung der Miliz so kurz und effizient wie möglich, zu halten. All dies ist beim „Corona-Einsatz“ als deutliches Manko zu Tage getreten. Es war nicht zuletzt der MVÖ unter seinem Präsiden- ten Grubauer, der sich vehement für die Einbindung der Milizsoldat*innen in die Milizarbeit des Verteidigungsminis-teriums einsetzte, nicht nur, um die Belange der militärischen Landesverteidigung insgesamt, sondern vor allem um die In-tegration des Heeres in die Gesellschaft im Konkreten voran-zutreiben (siehe auch: Peter Pirkers 30 Jahre Milizverband – Bei-träge zu einem Kulturwandel in der Landesverteidigung im Trauner Verlag, 2011). Zu den Forderungen des MVÖ im Rahmen des von diesem propagierten „Linzer Modells“ gehörte unter an-derem daher folgerichtig:  •  Einbindung der Gruppenkommandant*innen in die Mi- lizarbeit als Träger*innen und Vermittler*innen des Miliz-gedankens und der permanenten Verbindung mit den be-treffenden Milizeinheiten,  •  die konstitutive Mitwirkung von zivilen Behörden und  Institutionen bei der Milizarbeit, und •  die Ermöglichung des Aufbaus einer Kommunikati- onsstruktur auf Gruppen-, Zugs-, Kompanie-, Batail-lons- und Regimentsebene, um eine ständige, lebendi-ge Verbindung zwischen den Kommandanten und ihren Milizsoldat*innen sicher zu stellen. Noch einmal: Die grundsätzliche Frage, die einer Klärung  bedarf, wäre aber, ob die Aussetzung der „Milizübungen“ im Einklang mit den einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen steht oder ob diese politische Entscheidung nicht einen Ver-fassungsbruch darstellt. Sicher scheint, dass diese Entschei-dung letztlich allen langjährigen Bemühungen zum Ausbau und zur Stärkung des Milizprinzips entgegenläuft, also eine Schwächung der militärischen Landesverteidigung insgesamt bedeutet. Ist die „Freiwilligenmiliz“, die sich aus der Ent-scheidung der Abschaffung der Milizübungen ergibt, tatsäch-lich jene Wehrform, die das Wehrgesetz normiert, in dem das Milizprinzip als Personenstand und als Wehrsystem klar fest-gelegt ist und in den dazugehörigen Erläuterungen ausgeführt wird? Eine inhaltliche Betrachtung wird wohl den Schluss  ZUR ABSCHAFFUNG DER MILIZÜBUNGEN  VON FRIEDRICH KLOCKER


 ZUKUNFT | 51  zulassen, dass die politischen Entscheidungsträger in diesem Kontext eher dem Prinzip huldigen: „Wo kein Kläger, da kein Richter“? In den schon erwähnten Erläuterungen zur Änderung des  Wehrgesetzes 1978 heißt es folglich:  „Im Wehrgesetz 1978 sollen insbesondere die organisato- rische Grundstruktur dieses Milizsystems verankert und mit dem neuen „Milizstand“ ein Rechtsstatus für Wehrpflichti-ge außerhalb des Präsenzstandes geschaffen werden, der den besonderen Bedürfnissen dieses Milizsystems Rechnung trägt. Da sich das Milizsystem nicht in organisatorischen Kriterien erschöpft, sondern eine Gesinnung voraussetzt, die Landes-verteidigung als eine Gemeinschaftsaufgabe zu verstehen, be-darf es zur Bewältigung dieser Aufgabe einer entsprechenden Leistungsbereitschaft des einzelnen.“ Auch, wenn im Zusammenhang mit dem Milizprinzip  von der Möglichkeit der Freiwilligkeit von Leistungen ge-sprochen wird, bedeutet das keinesfalls, dass das Milizsystem überwiegend – oder gar ausschließlich – auf dem Prinzip der Freiwilligkeit der Soldat*innen des Milizstandes zu beruhen habe. 6.  MILIZSYSTEM VERSUS FREIWILLIGENMILIZ Ganz im Gegenteil: Eine ausschließliche Freiwilligenmi- liz haben die Gesetzgeber*innen mit den vorhin zitierten No-vellen keinesfalls intendiert. Es ist wohl unbestritten, dass mit dieser „Freiwilligenmiliz“ eine substanzielle Schwächung der militärischen Landesverteidigung insgesamt einhergeht – in qualitativer Hinsicht ebenso wie auch in quantitativer. Die-ses strukturelle Defizit hat sich deutlich beim Einsatz von Milizsoldat*innen im Kampf gegen die ab Frühjahr 2020 er-folgte Ausbreitung des Coronavirus („COVID-19-Pandemie in Österreich“) unter Beweis gestellt. Für die Indienststellung ab Mai 2020 erfolgte die Einbe- rufung von 3000 Personen, das sind rund zehn Prozent al-ler Milizsoldat*innen. Einberufen wurden nur Jägerkompa-nien (zu je rund 200 Personen) und keine ganzen Bataillone. Der Einsatzpräsenzdienst für jene, die damit länger als ge-plant beim Bundesheer bleiben mussten, wurde schließlich am 31. Juli 2020 beendet. Tatsächlich mobilisiert wurden nur 1.400 Dienstpflichtige, welche zur Grenzsicherung, zu Ob-jektschutzaufgaben wie Botschaftsbewachung, zur Unterstüt- zung beim Schutz kritischer Infrastruktur, als Ergänzung bei den Landespolizeidirektionen und für gesundheitsbehörd-liche Aufgaben an den Grenzübergängen eingesetzt waren. 600 Soldat*innen wurden bereits Anfang Juni 2020 entlassen, Ende Juli 2020 folgten die letzten 800 (siehe: Aussendung des BMLV). Neben der Mobilisierung der Miliz wurde der außer-ordentliche Präsenzdienst angeordnet. Es steht außer Zweifel, dass die eingesetzten Soldat*innen,  egal, ob sie dem Präsenz-, dem Miliz- oder dem Berufsstand angehörten, hervorragende Leistungen erbrachten und sub-stanziell mithalfen, die Auswirkungen der Corona-Krise zu mildern. Das spricht für die nach wie vor hohe Professionali-tät des Bundesheeres und ebenso für die Flexibilität, die Im-provisationsfähigkeit und das Engagement aller Beteiligten. Das lässt hoffen. Und könnte die Chance eröffnen, beispiels-weise eine „Neuauflage“ jener konstruktiven Modelle der Zusammenarbeit des Bundesheeres im Allgemeinen und der Miliz im Speziellen mit Wirtschaft und Arbeitnehmer*innen voranzutreiben. Es sei in diesem Zusammenhang etwa an die zahlreichen Partnerschaften zwischen Wirtschaft und Miliz(-Einheiten) erinnert, die es sehr erfolgreich in der Vergan-genheit gab, die nicht nur für die Integration von Bundes-heer und Gesellschaft standen, sondern auch – wie im Buch  30 Jahre Milizverband Österreich, Beiträge zu einem Kulturwandel in der Landesverteidigung ausführlich dargestellt wird – die Effi-zienz der Landesverteidigung insgesamt zu steigern im Stan-de waren. Wenn in der aktuellen Situation Verteidigungsmi-nisterin Tanner dieses Thema anspricht, so kann sie sich auf Modelle stützen, die seinerzeit, also vor Abschaffung der Mi-lizübungen vor allem mit Hilfe des MVÖ schon längst bestan-den haben. FRIEDRICH KLOCKER  war fast 20 Jahre Sekretär des Bundesparteivorstandes der SPÖ,   Büroleiter mehrerer Parteivorsitzender und BGF, Milizsprecher und  Wehrexperte der SPÖ, Vizepräsident des Milizverbandes Österreich,   sowie Generalsekretär der Kreisky Kommission für Beschäftigungs- fragen in Europa. Nach dem Ausscheiden aus der SPÖ Parteizentrale   war er in verschiedenen leitenden Funktionen in der   gemeinnützigen Wohnungswirtschaft tätig.


 52 | ZUKUNFT  DIE REFIGURATION DES ABSTRAKTEN  VON REINHARD SIEDER Dass das künstlerische Bild ‚nur‘ in den Augenblicken  seiner Produktion und Betrachtung sinnfällig und somit „real existent“ wird, habe ich an anderer Stelle (Zukunft, Nr.03/2021) argumentiert. Wie aber gewinnt das subjek-tiv bleibende Bild für die Gesellschaft Sinn und Bedeu-tung? Tritt die Gesellschaft über die Bildautor*innen und die Bildbetrachter*innen gleichsam in das Kunstwerk ein? Wird sie vom Bild mit repräsentiert? Wenn die Gesellschaft, wie Bourdieu u. a. sagten, ein System aller Systeme und somit von diversen und antagonistischen Interessen, Meinungen, Praktiken, politischen Deutungen, Kämpfen und Lösungen ist, erlangt dann auch ein abstraktes Bild der späten Moder-ne einen ‚bedeutenden‘, wenn auch marginalen Platz in der Gesellschaft? Das Fundament bildnerischer Künste ist ohne Zweifel die  Erfindung von Zeichen an Höhlenwänden, an Hauswänden und so fort. Die Bilder Scratched Lines und  Storyboard  gehen gleichsam an den prähistorischen Anfang zurück. In beiden Fällen ist es – entgegen dem herkömmlichen Verständnis von Kunst – das imperfekte, atavistische Zeichen mit einem limi-tierten Einsatz von Farbe. In den Bildern Birken,  Textil und Tabaco werden mit derselben Technik Linien, Farben und Formen erzeugt, in denen die Farblichkeit bedeutsam hin-zutritt und trotz oder sogar aufgrund der Abstraktheit Ge-genstände erkennbar macht. Was die Betrachter*innen und Gestalter*innen hier vor allem berührt, ist die haptische Qua-lität: Die brüchige Rinde der Birken ist beinahe zu tasten, ob-schon sie eben nicht abgemalt ist. Textil präsentiert ein Ge-webe, das stärker ist als der einzelne Faden; es überlebt auch lange Zeit unter der Erde und auch ohne Licht. In den Bildern Sgraffito,  Zerstörte Leiber,  Schwarzer Rit- ter  und  Waldgeister  setze ich menschliche Akteur*innen als Erzeuger*innen von Imaginationen voraus. Hier wird der kommunikative Charakter und die Imagination fordernde Kapazität aller bildenden Kunst selber zum Thema. Sgraffito kann als ein Stück zeichenhaft gestalteter Mauer im öffent-lichen Raum imaginiert werden, an der sich Zeichen set-zende Menschen kommunikativ und kulturell präsentieren. In Zerstörte Leiber bin ich es selbst, der ein Bild quasi zerstört hat. Nur Reste von Körperteilen sind noch zu erahnen. In Schwarzer Ritter verschiebe und vermenge ich Acryl auf feuch-tem Gips auf eine dynamische Weise, die unzählbare Figu-ren erzeugt. Betrachter*innen entdecken davon umso mehr, je länger sie das Bild nach bedeutenden Formen durchsuchen. Waldgeister kann man sehen, ohne sich der eigenen Wahrneh-mung jemals ganz sicher zu sein. Es mag vom psychischen Zustand der Betrachter*innen abhängen, was sie sehen. Die Refiguration des Abstrakten stellt also den Sinngewinn und das Ereignis der Erhabenheit her. Wozu aber dieses Versteck- und Suchspiel einer abstrakten Kunst? Warum zeige ich nicht of-fen und deutlich, was gezeigt und erkannt werden soll? Zum einen gewährt die Abstraktion einen weitaus größe- ren Spielraum des Erkennens und des Betrachtens als das kon-krete Kunstwerk. Abstraktion räumt den Betrachter*innen den Status von Sinnstifter*innen ein, die ihre imaginäre Ka-pazität (Cornelius Castoriadis) einsetzen und pflegen. Diese ist übrigens nicht nur die Voraussetzung der Aneignung ab-strakter Kunst, sondern auch der Teilnahme an Politik, die sich auch auf ein fragliches, noch nicht Bestehendes bezie-hen muss. Damit verflacht, zum anderen, die Hierarchie zwi- Die Refiguration des  Abstrakten REINHARD SIEDER  gibt mit seinem Beitrag  Die Refiguration des Abstrakten Einblick in die Produktionsbedingungen  der Bildstrecke dieser Ausgabe der ZUKUNFT. Er verlängert damit auch seine Reflexionen und seine Bildstrecke aus der Ausgabe 03/2021 und fügt sie so in allen Wortbedeutungen in ein abgerundetes Bild ein.


 ZUKUNFT | 53  schen den Künstler*innen und ihrem Publikum. Die Aura des Kunstwerks bleibt kein Geheimnis der Künstler*innen, und die Betrachter*innen bleiben keine zur frommen Andacht an-gehaltenen Untertanen. REINHARD SIEDER  ist Sozial- und Kulturhistoriker und Sozialwissenschaftler.   Er war a. o. Universitätsprofessor an der Universität Wien und   arbeitet seit seiner Pensionierung im Jahr 2015 als Vortragender,   Autor und bildender Künstler in Wien und Tenerife.  Link: https://www.reinhard-sieder.at/ Reinhard Sieder  ©  Mario Lang


 54 | ZUKUNFT  VERANSTALTUNGSANKÜNDIGUNG Die Sendungen zu den monatlichen Schwerpunkten der  ZUKUNFT finden am letzten Dienstag des Monats in Koopera-tion mit der Wiener Bildungsakademie statt und werden auf der Facebook-Seite, dem Youtube-Kanal und dem Twitch-Kanal der WBA übertragen. 27.04.2021 – BILDUNG – ELITEN – SELEKTION   Das Bildungssystem entscheidet in unserer Gesellschaft  in großem Maßstab über die soziale Flugbahn unserer jun-gen Mitbürger*innen. Dabei wollen wir festhalten, dass ein elitäres und selektives Bildungssystem, dass die Schwächsten schwächt und die Stärksten stärkt, einer Demokratie nicht würdig ist. So stellen wir folgende Fragen in den Raum, die wir an diesem Abend eingehend diskutieren wollen: Welche sozialen und ökonomischen Ungleichheiten entstehen durch das gravierend elitäre und selektive Bildungssystem (in Euro-pa aber auch weltweit)? Wie lässt sich also die gravierende so-ziale Ungleichheit (auch angesichts des digital divide) abbauen? Welche sozialen und ökonomischen Ungleichheiten entste-hen durch das gravierend elitäre und selektive Bildungssystem (in Europa aber auch weltweit)? 25.05.2021: LGBTIQ – VIELFALT ALS SOZIALE FRAGE Die Frage nach sexueller und geschlechtlicher Vielfalt steht  seit jeher auf der Agenda linker und progressiver Debatten – in den letzten Jahren hat diese Frage aber an besonderer Be-deutung gewonnen. Während neoliberale Logiken versuchen, durch Pinkwashing den Kampf für ein freies, selbstbestimmtes Leben zu vereinnahmen, müssen wir umso mehr darüber dis-kutieren, wie Vielfalt und soziale Fragen hinter gemeinsamen politischen Projekten verbunden werden können. Mit dieser Diskussion möchten wir gemeinsam mit der SoHo Wien, pa-rallel zur diesbezüglichen Ausgabe der ZUKUNFT, einen Fokus auf die aktuelle Situation der LGBTIQ-Community und queer-feministischer Kämpfe legen. Die Anfänge der modernen LGBTIQ-Bewegung liegen nicht umsonst in vielfältigen sozia-len Auseinandersetzungen seit den Stonewall-Protesten 1969 – wir stellen daher zur Debatte, wie PRIDE und Regenbogen-fahne auch heute als wichtiger Bestandteil der sozialen Frage begriffen werden können! 22.06.2021: ERZÄHLUNGEN DES POLITISCHEN In den letzten Jahrzehnten war oft vom Zusammenbruch  der großen Erzählungen die Rede. Dabei war etwa an die Großerzählung des (Austro-)Marxismus gedacht, der indes gerade angesichts der Corona-Krise wieder an Aktualität ge-winnen könnte. Wie sehen im Bereich politischer Ideologien also die großen Erzählungen des (Demokratischen) Sozialis-mus, des Liberalismus, des Konservatismus oder des Neofa-schismus aus? Die thematische Ausgabe der ZUKUNFT eröffnet dabei eine breite Palette von Bezügen, die sich damit beschäf-tigen, welche (Meta-)Erzählungen hinsichtlich der Politik existieren und welche heute noch relevant sind. Nähere Informationen und die Links zur jeweiligen Veran-staltung unter: https://diezukunft.at/veranstaltungen/ Auf dem Weg in die ZUKUNFT! AUCH IM V A VERLA G ERSCHIENEN Die Online-Diskussionssendung für Politik, Gesellschaft und Kultur.  Ein moderierter Diskussionstalk mit den Redakteur*innen, Autor*innen und Künstler*innen der ZUKUNFT … Welche ZUKUNFTsthemen bewegen die Redaktion (der ZUKUNFT)? Welche ZUKUNFTsthemen haben Autor*innen (der ZUKUNFT)? Welche ZUKUNFTsthemen berühren Künstler*innen (der ZUKUNFT)?


 ZUKUNFT | 55  HEFTBESTELLUNG Kupon ausschneiden& einsenden an: VA Verlag GmbHKaiser-Ebersdorferstrasse 305/31110 Wien ICH BESTELLE "ROTE PHILATELIE"7,90 € INKL. MWST ZZGL. VERPACKUNG UND VERSAND 2,00 € NAME: _________________________________________________________________ STRASSE: _______________________________________________________________ ORT/PLZ: _______________________________________________________________ TEL.: ______________________________ E-MAIL: _____________________________UNTERSCHRIFT: _______________________ ODER BESTELLUNG PER E-MAIL AN DEN VERLAG: OFFICE@VAVERLAG.AT SOLANGE DER VORRAT REICHT AUCH IM V A VERLA G ERSCHIENEN Eine philatelistische Zeitreise zu 75 Jahren WGBDER WELTGEWERKSCHAFTSBUND (WGB) FEIERT HEUER SEINEN 75. GEBURTSTAG. MANCHE FORDERUNGEN DER ERSTEN JAHRE NACH SEINER GRüNDUNG SIND NACH WIE VOR AKTUELL. DIESEM JUBILäUM LIEGT DIE IDEE DER VORLIEGENDEN BROSCHüRE ZU GRUNDE. DIE KURZE ABHANDLUNG DER SEHR UMFANGREICHEN GESCHICHTE DES WGB BASIERT VOR ALLEM AUF DER ERZäHLUNG DER 17 WELTKONGRESSE DES WGB, SIE STELLEN HIER DIE MEILENSTEINE DER ENTWICKLUNG UND DER GEZEIGTEN BRIEFMARKEN DAR.


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