09/2020DIGITALISIERUNG UND MEDIENKOMPETENZSEIT 19465,– Euro P.b.b. Abs.: Gesellschaft zur Herausgabe der Zeitschrift ZUKUNFT,Kaiserebersdorferstrasse 305/3, 1110 Wien, MZ 14Z040222 M, Nr. 09/2020Im Zeichen der StraßeStefanie FridrikDigitaler HumanismusAlexander SchmölzSozialdemokratie 2.0Georg KollerDer Teufel muss ein Wiener seinSabrina Schmidt


 EDITORIALAngesichts von Robotik, Künstlicher Intelligenz und der Au-tomatisierung unserer Arbeits- und Lebenswelten stehen uns in der Wissens- und Informationsgesellschaft des 21. Jahrhun-derts mehrfach Fragen der Digitalisierung und der Medien-kompetenz vor Augen. De facto werden wir auch durch die COVID-19-Pandemie tagtäglich und ganz praktisch auf diese für die Zukunft unserer Demokratie(n) mehr als wichtigen Berei-che gestoßen. Deshalb hat sich die Redaktion der ZUKUNFT dazu entschlossen mit der Ausgabe 09/2020 dem Thema Di-gitalisierung und Medienkompetenz einen eigenen Schwerpunkt zu widmen. Dabei soll es angesichts des Digitalen um die Rolle und Funk-tion von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) und virtuelle Welten genauso gehen wie im Blick auf den Problembereich der Medienkompetenz um die damit ver-bundenen Fähigkeiten, die wir Menschen benötigen, um mit (digitalen) Medien kritisch umgehen zu können. Wir konn-ten in diesem Rahmen mehrere hochkarätige Autor*innen für die ZUKUNFT gewinnen, die ausgehend von den notwen-digen Updates der Sozialdemokratie und der Medientheorie Marshall McLuhans über Fragen des Digitalen Humanismus bis hin zu medienethischen Fragen der Gerechtigkeit das Schwerpunktthema beleuchten.Ganz in diesem Sinne diagnostiziert der einleitende Artikel von Georg Koller, dass die Sozialdemokratie angesichts der Herausforderungen von Digitalisierung und Medienkompe-tenz dringend einige Updates nötig hat. Diese könnten darin bestehen, digitale Medien als grundlegende Produktionsbe-dingungen einer kommenden Demokratie zu begreifen, in der die prinzipiellen Fähigkeiten, diese Medien kritisch zu nutzen, bei allen Bürger*innen gegeben wären. In diesem Zusammenhang stellt der Autor die Kritikbegriffe von Im-manuel Kant und Michel Foucault vor: Sapere aude! Lernen wir doch – gerade im Umfeld der Sozialdemokratie – un-seren Verstand ohne (digitale) Leitung eines anderen zu ge-brauchen …Auch Stefanie Fridrik, die sich in ihren bisherigen Forschun-gen mit den Herausforderungen adäquater Vermittlungsarbeit, zeitgemäßer kuratorischer Prinzipien und ihrer medienpäda-gogischen Umsetzung auseinandergesetzt hat, trägt einen deut-lich themenbezogenen Text bei: Aufbauend auf ihren eigenen Lehr- und Arbeitserfahrungen hat sie einen kompakten „Ba-siskit“ zur reflektierten Auseinandersetzung mit Graffiti und Street Art im Unterricht zusammengestellt und erläutert u. a. wie etwa die mit Instagram verbundene Medienkompetenz für die Graffitiszene von Bedeutung ist. Ihr Beitrag Im Zeichen der Straße stellt zentrale Begriffe vor und erläutert Aspekte der Di-gitalisierung anhand österreichischer Beispiele.Medientheoretiker*innen und -wissenschafter*innen wis-sen genau, dass die sog. School of Toronto mit Harold Adams Innis und Marshall McLuhan ihre wichtigsten Vertreter hat-te. Deshalb freut sich die ZUKUNFT mit dem Beitrag von Jens Holze eine luzide Einführung in das Gesamtwerk McLuhans präsentieren zu können, die ausgehend von seiner These der Extensions of Man den Aufbau dieser Medientheorie auf dem Weg vom elektrischen zum digitalen Zeitalter erläutert. Dabei diskutiert der Autor auch eingehend die Re-Tribalisierung im globalen Dorf (engl. global village), referiert die magischen Kanäle und führt so zum Ende hin auch Problemlagen der aktuellen Demokratietheorie vor Augen.Digitalisierung und MedienkompetenzALESSANDRO BARBERI UND THOMAS BALLHAUSEN


 ZUKUNFT | 3  Derartige Fragen der Digitalisierung stellen sich in brisanter Weise angesichts der aktuellen Diskussionen zu Anti-, Post- oder Transhumanismen. Deshalb geht Alexander Schmölz mit seinem Beitrag Fragen nach den Spezifika der Conditio Humana nach und arbeitet die (historisch entstandenen) Un-terschiede des Verhältnisses zwischen Mensch, Gott, Natur und Maschine heraus. Dabei wird nachdrücklich betont, dass zu den Errungenschaften der (klassischen) Aufklärung die Erfindung des rationalen Denkens und des logischen Ope-rierens im Sinne der Entmythologisierung der Natur zählt. Angesichts von Emotionen, Schmerzen oder Krea(k)tivität in-sistiert dieser wichtige Beitrag im Sinne eines Digitalen Hu-manismus auf einfachster Ebene darauf, dass Menschen keine Maschinen sind.Mit Der Teufel muss ein Wiener sein legt Sabrina Schmidt dann ihre gleichermaßen durchdachte wie auch im wortwörtlichen Sinne spielerische Reflexion über ausgewählte Quellen der ös-terreichischen Sagenwelt vor: Schmidt, die in den Bereichen Computerspiel und Literaturwissenschaft arbeitet und forscht, lädt zu einer unterhaltsamen Abenteuerreise ein, bei der wir auch als Leser*innen inter-aktiv Entscheidungen treffen und den Handlungsverlauf beeinflussen. Aufbauend auf ihren Kenntnis-sen als Spiele-Entwicklerin entfaltet die Autorin eine Ausein-andersetzung mit der Kunst des Erzählens, die selbst wiederum auf die Mittel und Möglichkeiten der digitalen Literatur zu-rückgreift und so direkt mit Medienkompetenz verbunden ist.Auch im Zentrum von Politiken des Erzählens steht – ganz in diesem Sinne – das Medium Comic und die Strategien einer auf Medienkompetenz basierenden Aneignung und Emanzi-pation.  Thomas Ballhausen rekonstruiert, ausgehend von der Auseinandersetzung mit dem international renommierten Künstler Moebius (1938–2012), die revolutionären Umbrüche innerhalb der sogenannten Neunten Kunst, die auf 1968 folgen sollten: Ausgehend von Frankreich wurden neue Zeitschriften gegründet, die einerseits eine interessierte Öffentlichkeit er-reichten und andererseits den internationalen Austausch unter den Künstler*innen ermöglichten. Das radikale Frühwerk von Moebius, das nun auch in deutscher Sprache wieder zugäng-lich ist, spielte dabei eine zentrale Rolle – eben weil darin Konventionen und Traditionen befragt, unterlaufen oder auch weiterentwickelt wurden.Angesichts unseres Themas rundet dann Christian Swertz diese Ausgabe der ZUKUNFT mit seinem abschließenden Beitrag ab, in dem er aus Sicht der Medienpädagogik untersucht, wie Digitalisierung und Medienkompetenz angesichts der Interne-tapokalypse vermittelt werden können. Dabei bespricht er auch die Rolle und Funktion der Digitalen Grundbildung und leuchtet das medienpädagogische Verhältnis von Macht, Gehorsam und Solidarität aus, um zu einem kritischen und selbstbestimmten Umgang mit (digitalen) Medien aufzurufen. Dabei blickt er auch auf den Bereich der österreichischen Sozialpartnerschaft und wirft in der Folge und abschließend brisante (medien-)ethische Fragen nach der Gerechtigkeit auf.Danken wollen wir an dieser Stelle Claudia Ungersbäck, die der Redaktion der ZUKUNFT mehr als freimütig – und zum wiederholten Male – eine Reihe von Kunstwerken für die Bildstrecke zur Verfügung gestellt hat und damit das äs-thetische Profil dieser Ausgabe abrundet. Suchen Sie doch auch im visuellen Raum dieses Hefts Figuren des Digita-len und besuchen Sie parallel dazu – ganz medienkompe-tent – die Online-Präsenz dieser herausragenden Künstlerin:  https://www.claudiaungersbaeck.com/Insgesamt hofft die Redaktion der ZUKUNFT, Ihnen angesichts der Problembereiche von Digitalisierung und Medienkompe-tenz und unter den schwierigen (digitalen) Bedingungen der COVID-19-Pandemie anregende und kritische Argumente für weitere Diskussionen zu liefern und verbleibt mit herzlichen und freundschaftlichen Grüßen …Sapere Aude!ALESSANDRO BARBERIist Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent. Er lebt und arbeitet in Wien und Magdeburg. Politisch ist er in der SPÖ Landstraße aktiv. Weitere Infos und Texte online unter:  https://lpm.medienbildung.ovgu.de/team/barberi/THOMAS BALLHAUSENlebt als Autor, Kulturwissenschaftler und Archivar in Wien und Salzburg. Er ist international als Herausgeber,  Vortragender und Kurator tätig.




InhaltIMPRESSUM Herausgeber: Gesellschaft zur Herausgabe der Zeitschrift »Zukunft«, 1110 Wien, Kaiserebersdorferstraße 305/3 Verlag und Anzeigenannahme: VA Verlag GmbH, 1110 Wien, Kaiserebersdorferstraße 305/3, office@vaverlag.at Chefredaktion: Caspar Einem, Ludwig Dvořak (geschäftsführend) Redaktion: Alessandro Barberi, Bernhard Bauer, Elisabeth Felbermair, Senad Lacevic, Philipp Oberhaidinger, Armin Puller, Thomas Riegler, Michael Rosecker, Jennifer Sommer, Artur Streimelweger, Anna Vukan Gastredakteur: Thomas Ballhausen Cover: Claudia Ungersbäck, brytex 42.0 x 50.0 cm, 2018 (c) Claudia Ungersbäck6     Sozialdemokratie 2.0   VON GEORG KOLLER12    Im Zeichen der Straße   VON STEFANIE FRIDRIK18    Digitale Fragmentierung   VON JENS HOLZE24    Hat der Digitale Humanismus eine Zukunft?   VON ALEXANDER SCHMÖLZ30    Der Teufel muss ein Wiener sein   VON SABRINA SCHMIDT38    Politiken des Erzählens   VON THOMAS BALLHAUSEN44    Gerechtigkeit durch Medienkompetenz   VON CHRISTIAN SWERTZCLAUDIA UNGERSBÄCK, BRYTEX42.0 X 50.0 CM, 2018(C) CLAUDIA UNGERSBÄCK


 6 | ZUKUNFT Dass die Sozialdemokratie ihre einstige Größe nicht zuletzt verloren hat, weil sie eine gänzlich selbstverschuldete  Unmündigkeit an den Tag legt, bringt GEORG KOLLER angesichts der digitalen Ausbeutung des Spätkapitalismus dazu, einen Aufruf zu formulieren …Sozialdemokratie 2.0 oder eine Theorie der Unmündigkeit in Zeiten der PandemieI. VORWORT(E)Zweierlei Dinge sollen am gegebenen Titel auffallen: Ers-tens das inzwischen in den allgemeinen Sprachgebrauch ein-sickernde Idiom vom Upgrade einer Software und zweitens Kants Idee der Unmündigkeit, wie sie sich in seiner Schrift Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? darstellt:„Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedie-nen. Sapere aude !“ (Kant 2017: 53)Parallel dazu wäre Foucaults Aufsatz Was ist Kritik? zu nennen, in dessen Rahmen er schreibt: Kritik ist „die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden“ (Foucault 1992: 12). Um dem Impetus der beiden Philosophen gerecht zu werden, sei bemerkt, dass Kant imperativ-definitorische Absichten ver-folgte und Foucault historisch-deskriptive. Anders ausge-drückt: Kant wollte Kritikfähigkeit (diese ist hier als Mündig-keit zu verstehen) als Akt eines rationalen Geistes begreifbar machen, während Foucault (der Historiker unter den Philo-sophen) definierte, was Mündigkeit (d. h. Kritikfähigkeit) bis-her gewesen war. Wir könnten auch sagen: Kant wollte sich als Geburtshelfer der Vernunft verstehen, Foucault hingegen als ihr Pathologe.Durch die Vereinigung dieser beiden Standpunkte lässt sich bemerkenswerter Weise eine Wesensbeschreibung der österrei-chischen Sozialdemokratie ableiten: Denn sie ist eine Unto-te! Aus historischen Errungenschaften, die mitunter älter sind als die Urnen unserer Großeltern, stabilisiert und nährt sie sich nur mehr von der zuverlässigen Unzuverlässigkeit der politi-schen Gegner*innen, die ihrerseits nur mehr – und das pro-grammatisch – über die eigenen Füße stolpern. Dabei streift die österreichische Sozialdemokratie die dadurch emittierten Wähler*innenstimmen des politischen Systems Österreichs kaum mehr ein. Denn diese gehören pseudo-innovativen Pro-jekten wie der türkisen ,Liste Kurz‘, welche auf Kosten poli-tischer Kompetenz – welche die ÖVP zumindest hatte – me-diale Schelmenstücke betreibt. Diese politische Konstellation beschert uns einen Bundeskanzler, der mehr eine populisti-sche Methode als ein Mensch zu sein scheint, nicht besonders kompetent ist, sich selbst und andere aber – ganz im Sinne des Autoritarismus – sehr gut im Griff hat. Von großkoalitionären Persönlichkeiten wie Erhard Busek oder Heinrich Neisser sind Homunkuli wie Kurz oder Blümel längst meilenweit entfernt.SOZIALDEMOKRATIE 2.0 ODER EINE THEORIE DER UNMÜNDIGKEIT IN ZEITEN DER PANDEMIE VON GEORG KOLLER


 ZUKUNFT | 7 Bedenkt man dabei wie viele klassische schwarze Macht-faktoren (Bünde etc.) hier zurückstecken mussten, um aus Schwarz Türkis werden zu lassen, begreift man wie tiefgrei-fend diese Wende der ÖVP war. Schon Emile Durkheim wuss-te, dass der Konservatismus eine der flexibelsten Geisteshal-tungen ist. Der Ruf nach Erneuerung der Sozialdemokratie ist aber inzwischen eine Göttin der Weisheit, welche – ge-messen an ihren Dienstjahren – relativ kurz vor der Pensionie-rung stehen müsste. Denn während wir gegenwärtig eine ÖVP 4.5 erleben, kämpft die SPÖ noch mit den Regressionsbugs der Version 2.0.Der österreichischen Sozialdemokratie kann so ein Up-grade wie der ÖVP nie gelingen. Das Gute ist: Das muss es auch nicht. Es würde reichen, sich mit kantschem Mut da-rauf zu besinnen, dass dem sozialdemokratischen Gedanken eine zutiefst philanthropische Geisteshaltung zugrunde liegt, wobei der Sozialismus (und damit auch die Sozialdemokratie) im Verhältnis zum konservativen Wirtschaftsliberalismus über ein relativ stabiles (sozialstaatliches) Theoriegebäude verfügt (Honneth 2017).Dabei besteht der Weg zu demokratisch errungenen Er-folgen nicht in der Abwandlung (eigentlich Korrumpierung) dieses Theoriegebäudes, sondern in dessen flexibler Applika-tion auf die aktuellen Erfordernisse der Gesellschaft. Eben dies geschieht aber nicht. Wo rote Regionalfürsten in jüngerer Zeit Wahlerfolge verbuchten (ich nehme hier u. a. den Wie-ner Bürgermeister Ludwig explizit aus) geschah dies mitun-ter im blinden Abkupfern (rechts-)populistischer Muster, die einer Sozialdemokratie eigentlich fremd sein müssten. Dieses Kopieren vorgegebener politischer Muster führt um den Preis einer politischen Konturlosigkeit nur zu Pyrrhussiegen, die längerfristig schädlicher sind als jede verlorene Regionalwahl.„Mit linken Themen lässt sich heute keine Wahl gewin-nen“, ist das offen verlautbarte Credo solcher Regionalfürsten. Das ist aber nur dann zutreffend, wenn wir die Deutungsho-heit darüber was links ist, den politischen Gegner*innen über-lassen. Ebendies zu tun ist jene „selbstverschuldete Unmün-digkeit“ von der Kant spricht – nämlich, sich ohne wirkliche Not – der geistigen Leitung des politischen Gegners auszulie-fern. Manche werden sagen: Dies ist politischer Pragmatismus, dessen Fehlen zu Machtverlust und demokratischer Bedeu-tungslosigkeit führt. Doch ist es nicht eher blinde Praxis? Und was ist blinde Praxis denn anderes als eine schlechte Theorie? Ein nachhaltiger politischer Erfolg der Sozialdemokratie kann dementgegen nicht darin bestehen, die eigene Geisteshaltung zu bekämpfen, sondern sie flexibel und kreativ einzusetzen.II.  MEDIENKOMPETENZ UND DER MÜNDIGE EINSATZ SOZIALDEMOKRATISCHER GESINNUNGIn diesem Zusammenhang kann betont werden, dass es nicht notwendig ist, den Wähler*innen nach dem Maul zu reden, sondern deren lebensweltliche Probleme zu erkennen und zu benennen. Dabei sollte es unerheblich sein, welcher gesellschaftspolitischen Schicht das betroffene Subjekt ent-springt. Im plakativen Extremfall darf es sich hier durchaus auch um eine gebildete, alternde Millionärswitwe handeln, die als Digitalisierungsverliererin zusehen muss, wie sie den sozialen Anschluss verliert. Auch sie gehört zu einer rand-ständigen, zusehends marginalisierten Gruppe und verdient Aufmerksamkeit. Gemäß der demografischen Kurve werden Globalisierungs- und Digitalisierungsverlierer*innen, egal welcher gesellschaftlichen Schicht, zwischen social und digital divide immer zahlreicher. Müssen wir wirklich warten, bis äl-tere Menschen, die z.  B. ihre Bankgeschäfte nicht von zu-hause aus regeln können, ausgestorben sind, oder können wir ihnen eine Alternative anbieten? Es ist sicherlich kein über-mütiger Gedanke, die Sozialdemokratie darauf zu verpflich-ten, hier soziale und demokratische Konzepte zu entwickeln, die über die unmittelbaren Erfordernisse des Arbeitsmarktes hinausgehen. Festzuhalten bleibt also, dass es in allen Alters-gruppen und sozialen Schichten Globalisierungs- und Digita-lisierungsverlierer gibt. Es kann daher – ja müsste eigentlich – ein Ziel jeder sozialen Gesinnung sein, die Bevölkerung mit diversen basalen Medienkompetenzen zu versorgen.Dies wäre ein Anspruch, der nicht bloß den Notwendig-keiten des bereits implementierten Bildungssystems entspricht, sondern zukunftsbestimmend darüber hinausgeht. Gerade in den ökonomisch schwächeren Schichten etabliert sich z. B. das Phänomen,  nur mehr ein Smartphone bedienen zu können. Das mag nicht eben rückschrittlich klingen, ist es aber, wenn man keine adäquatere Mensch-Maschinen-Schnittstelle mehr bedienen, geschweige denn, warten kann. Wenn es eine politi-sche Strömung gibt, die hier positiv-egalitäre Konzepte liefern sollte, dann ist es die Sozialdemokratie. Einer politischen Strö-mung, die einst – mit großer Wirkmächtigkeit – ausgehend von der Analyse (technologischer) Produktionsbedingungen Arbeiter*innenbildungsvereine geschaffen hat, kann – ja muss – sich dieser Dinge annehmen, um ihre Wurzeln zukunftswei-send zu vertreten.


 8 | ZUKUNFT SOZIALDEMOKRATIE 2.0 ODER EINE THEORIE DER UNMÜNDIGKEIT IN ZEITEN DER PANDEMIE VON GEORG KOLLEREine Digitale Grundsicherung der Bevölkerung sollte hier da-zugehören. An dieser Stelle sei daran erinnert, was für sagen-hafte Summen an staatlichen Verwaltungsausgaben insbeson-dere die wirtschaftsliberalen politischen Mitbewerber*innen in den letzten Jahrzehnten einsparen wollten. Hätte das, was im Alltag oft die ‚linke Reichshälfte‘ genannt wird, das Digi-talisierungsproblem zur hauseigenen Sache gemacht, so wäre sie nicht nur ihr verstaubtes Image längst losgeworden, son-dern könnte auch den politischen Mitbewerber*innen bei dessen utopischen Einsparungszielen wohlwollend unter die Arme greifen.Ansätze zu diesem Gedanken, wie etwa der Digi-Bonus zum AK-Bildungsgutschein, existieren, sind aber rein arbeits-marktorientiert. Ein öffentliches Schulwesen definiert sich aber nicht als Arbeitsmarkt und zeigt gerade angesichts der COVID-19-Krise, wie groß hier die Erfordernisse tatsächlich sind. Im Rahmen dessen gilt es, Medienkompetenz(en) al-lererst zu erringen, um sie dann schichtenübergreifend in alle Bereiche der Bevölkerung zu tragen. Nebstbei ein klassisches Beispiel dafür, was es bedeuten kann, den Weg aus der selbst-verschuldeten Unmündigkeit zu finden.III.  SOZIALDEMOKRATIE UND REALITÄT AM  BEISPIEL DER SCHEINSELBSTSTÄNDIGKEITAuch angesichts der Scheinselbständigkeit muss nicht viel erörtert werden: Was zu diesem Problem gesagt werden kann, liegt auf der Hand. Die Sozialdemokratie hat es aufs Gröblichs-te vernachlässigt, die Gruppe der freien Dienstnehmer*innen und jener die auf Werkvertragsbasis arbeiten zu betreuen. Die Repräsentation des Prekariats und des Kognitariats ist schlicht nicht vorhanden. Denn im Grunde sind dies Arbeiter*innen (des Geistes und der Hand) die – etwa als Ich-AG – neben den möglichen Unzulänglichkeiten eines Angestelltendaseins auch noch den Aufwand der unternehmerischen Selbstständigkeit zu bewältigen haben. Je nach Sachlage kann sich dies zwar auszahlen, wird aber in allzu vielen Fällen Gegenstand eines neuen Prekariats: Das Kognitariat, wie schon Marx es sach-lich vorweggenommen hat. Für die Wirtschaftskammer sind diese Dienstleister Arbeiter*innen, für die Arbeiterkammer Unternehmer*innen. Und so ist niemand zuständig.Ungeachtet der gesellschaftlichen Positionierung dieser Gruppe an Erwerbstätigen, hätte es schon lange ein Auftrag der Sozialdemokratie sein müssen, hier einen gewissen Be-treuungsinstinkt aufzubauen. Die Kompetenzen und instituti-onellen Voraussetzungen einer solchen Betreuung sind ja be-reits vorhanden. Wer Arbeitnehmer*innen und Angestellte beraten kann, kann dies auch für Einpersonenunternehmen (EPU) leisten. Hätte die Sozialdemokratie hier in der Vergan-genheit auch nur ein Mindestmaß an politischer Präsenz ge-zeigt, so wären ihr allein ob der COVID-19-Krise, die gerade diese Bevölkerungsgruppe so hart trifft, zigtausende Verbün-dete sicher gewesen. EPUs oder das Digitalisierungsproblem sind dabei nur zwei Themengebiete, welche die Sozialdemo-kratie, Kraft ihrer vorhandenen Theorie, federführend, und ohne eine fadenscheinige Mimikry populistischen Treibens, besetzen könnte.IV.  MARX’ GESPENSTER … ODER … WER HAT ANGST VORM ROTEN MANN?Die Angst der Sozialdemokratie vor dem Kommunis-musbegriff ist so alt wie sie selbst. Einst hat man es dem politischen Gegner überlassen, alles was an ‚kommunisti-schem‘ Gedankengut anzustreifen schien, zu stigmatisieren. Dies führte schon vor über hundert Jahren zu der Grotes-ke, sich ausgerechnet von der ureigenen Schwesternideolo-gie der Arbeiter*innenbewegung mehr zu fürchten als vor rechtskonservativem Gedankengut, Austrofaschismus und Nationalsozialismus.Auf die relativ übersichtlichen, historischen Wurzeln die-ses ideologischen Reflexes kann hier nicht näher eingegan-gen werden. Mit Otto Bauer hatten Kommunismus und So-zialdemokratie aber auf jeden Fall dieselben präzisen Ziele, nämlich die Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Es liegt in unserer Hand demokratisch zu definieren, wie weit diese Ver-gesellschaftung gehen soll. Wer eine Privatisierung des Ge-sundheitswesens und anderer öffentlicher Bereiche (Bildung, Wohnen etc.) ablehnt, muss sich aber sagen lassen dürfen, dass hier im Sinne des öffentlichen Eigentums eine Vergesellschaf-tung von Produktionsmitteln sowohl bereits vorliegt als auch erstrebenswert erscheint. (Allenfalls könnte man hier über den Begriff des Produktionsmittels streiten.) Wozu sich heute also noch vor dem Begriff ‚Kommunismus‘ fürchten ohne alle As-pekte des Kommunitären demokratisch durchzudiskutieren? Gerade nach dem Niedergang des Realsozialismus – der kom-munistische Zustände, im Sinne von Marx und Engels, nie-mals erreicht hat – sind die Kommmunist*innen fast (!) nur mehr dazu da, belächelt zu werden. Aber muss sich das mün-dige politische Subjekt wirklich davor fürchten belächelt zu werden?


 ZUKUNFT | 9 Kommunist*innen sind in unseren Breiten keine nennens-werte politische Größe mehr. Mit Hinblick auf das Nach-wuchsproblem der Sozialdemokratie sei aber darauf hinge-wiesen, dass der Sozialismus- und der Kommunismusbegriff (auch in Wortfügungen wie creative commons, common wealth, commonism etc.) unter jungen Mitbürger*innen von erstaun-lich integrativer Wirkung ist. Der Umstand, dass im Pool die-ses potenziellen Nachwuchses kaum jemand auch nur die Untertitel von Marx’ und Engels Hauptwerken nennen könn-te, ist zwar bedauerlich, ändert aber nichts an der symboli-schen Bedeutung – symbolisches Kapital im weiteren Sinne (Bourdieu 1983) –, die der Begriff Kommunismus für viele jun-ge Menschen hat. Der Umstand, dass dem so ist, resultiert nicht bloß aus der naiven Anfälligkeit junger Leute für Uto-pien, sondern auch daraus, dass eine planwirtschaftlich struk-turierte Gesellschaft eigentlich schlüssiger und rationaler er-scheint als das allumfassende (theologische) Konzept einer unsichtbaren Hand, welche die Märkte ausgleicht. (Hier sei an-gemerkt, dass der aktuelle Neoliberalismus Adam Smith längst rechts überholt hat.)Die absolut zulässige Frage ist bloß, wie – und inwieweit – wir auf die tatsächliche Ordnungskraft jener Hand verzichten können. Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass Marx und Engels – etwa im Kommunistischen Manifest (Marx/Engels 1972) – die Dynamik des Kapitalismus mehr angepriesen als verdammt haben. Den beiden Philosophen ging es schließlich darum, die effektiven Vorzüge des kapitalistischen Produkti-onssystems ins Gemeinwohl zu überführen.Ist es wirklich gefährlich, wenn z.  B. aus dem wirren zerstrittenen Haufen, den man gemeinhin ‚das dritte Lager‘ nennt, der Vorwurf an die Sozialdemokrat*innen erschallt, Kommunist*innen zu sein? Im Gegenteil, solch ein Vorwurf wäre, im Hinblick auf jüngere Wähler*innenschichten, von ernst zu nehmender Werbewirksamkeit. Sollte dieser Vor-wurf nämlich tatsächlich von gefährlicher, stigmatisieren-der Wirkung für die Sozialdemokratie sein, so wäre dem Ro-ten Wien dringend anzuraten, den Karl-Marx-Hof in „Bau der Eisenstädter Erklärung“ umzubenennen. Wozu also auf Jungwähler*innen verzichten, die sich erneut mit der System-kritik von Marx und Engels identifizieren können? Politisch betrachtet, ist das wahrhaft selbstverschuldete Unmündigkeit im kantschen Sinne.Egal was man vom Begriff des Kommunismus halten mag, oder welche Vorstellungen man damit verbindet, er war und ist eine Ideologie des vernetzten und gemeinsamen Denkens. Egal ob man den Begriffsrealismus des marxschen Klassenbe-griffs teilen mag oder nicht, Klassenunterschiede abzubauen bedeutet (u. a.) Menschen in gegenseitiger Wechselwirkung – gerade unter digitalen Bedingungen – kommunitär mitein-ander zu verbinden. Dies gilt sowohl für die Lohn-, die Bil-dungs- als auch die Digitalisierungsschere. Und niemals war der Vernetzungsgedanke stärker als unter den Bedingungen moderner Kommunikationsmittel. Wenn auch unter anderen Vorzeichen, verstand Kant unter Mündigkeit eindeutig kollek-tives und also vernetztes Denken. Und ohne vernetztes Den-ken werden sich auch die heutigen soziökonomischen Proble-me nicht lösen lassen.V. SCHLUSSDie aktuelle Pandemie darf hier als virulent gewordene Spitze gegen den entfesselten Wirtschaftsliberalismus verstan-den werden. Wo COVID-19 nicht gerade rechtspopulistisch ig-noriert oder verschwörungstheoretisch verbrämt wird, re-agieren die Staaten der Welt mit Maßnahmen, die irgendwo zwischen teilverstaatlichtem Kapitalismus und hysterisch er-zwungener Planwirtschaft schwanken. Ökonomisch globali-siert, aber sozial segmentiert, wuseln die unsichtbaren Hände wohlhabender Staaten konzeptlos herum und schütten Grä-ben zu, wo sie andere aufreißen. Genau der Staat, den manche noch bis vor Kurzem wegprivatisieren wollten, ist nicht nur der ökonomisch, sondern (mit Hinblick auf das Gesundheits-wesen) auch logistisch überstrapazierte Bürge einer Politik, die mehr den Reichtum verwalten wollte als die Gesellschaft.„Mehr privat, weniger Staat“, lautete das Credo. Der Staat ist doch – im Verhältnis zur Privatwirtschaft – träge, undy-namisch und unzuverlässig? Merkwürdig wenige behaupten aber, dass man die Probleme der Pandemie in die treuen Hän-de der Privatwirtschaft legen sollte! Jetzt wo es um Gesund-heit, Leib und Leben geht, ist der Staat aber nicht mehr bloß jene ‚ancilla ökonomiae‘ als den ihn der Wirtschaftsliberalis-mus positionieren wollte, sondern soll sich als flexibel, durch-setzungsstark und vor allem großzügig erweisen. Ist es nicht bemerkenswert, dass die Wirtschaft nun händeringend nach dem zur Dienstmagd degradierten Stadthalter ruft? Die Epidemie wird abklingen. Populismus und geradezu re-ligiös übersteigerter Wirtschaftsliberalismus aber sicher nicht. Für die österreichische Sozialdemokratie bedeuten diese Be-merkungen, sich von der Bewunderung für fleischgewordene 


 10 | ZUKUNFT Persuationsstrategien wie Haider, Kurz oder auch Dietrich Mateschitz abzuwenden. Man muss diese Strategien nicht ein-mal bekämpfen, sondern sich der nachhaltigen Bewältigung sichtbarer Probleme widmen. Wenn die österreichische So-zialdemokratie mehr sein will als die archäologische Genese eines foucaultschen Begriffes, muss sie ihre pathogene Anpas-sungsfähigkeit gegenüber dem Zeitgeist abstreifen und sich einer klaren Programmatik und Ideologie widmen …Sapere aude!GEORG KOLLER ist Schriftsteller und Angestellter im öffentlichen Bildungsbereich.  Er lebt und arbeitet in Wien.SOZIALDEMOKRATIE 2.0 ODER EINE THEORIE DER UNMÜNDIGKEIT IN ZEITEN DER PANDEMIE VON GEORG KOLLERLiteraturBourdieu, Pierre (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Kreckel, Reinhard (Hg.) (1983): Soziale Ungleichheiten, Soziale Welt Sonder-band, Vol. 2, Göttingen: Schwartz, 183–198.Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik? Berlin: Merve.Honneth, Axel (2017): Die Idee des Sozialismus: Versuch einer Aktualisierung, Ber-lin: Suhrkamp.Kant, Immanuel (2017): Beantwortung der Frage: Was ist Auf klärung? In: ders. Werkausgabe in 12 Bänden, Band 12, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 51–61.Engels, Friedrich/Marx, Karl (1972): Manifest der kommunistischen Partei, Berlin: Dietz.


 ZUKUNFT | 11 Claudia Ungersbäck (2018) Stillife RythmDigital Print, 42.0 x 50.0 cm© Claudia UngersbäckCLAUDIA UNGERSBÄCK


 12 | ZUKUNFT Die Kunstvermittlerin STEFANIE FRIDRIK stellt in ihrem Text einen „Basiskit“ zur kritischen Vermittlung von Graffiti und Street Art vor. Zahlreiche ihrer Beispiele stammen aus Österreich und erweitern unsere Medienkompetenz(en)…Im Zeichen der StraßeIM ZEICHEN DER STRASSE VON STEFANIE FRIDRIKI. VORBEMERKUNGVor knapp zwei Jahren habe ich begonnen, einen Kurs zum Thema „Kunst in Wien“ für US-amerikanische Stu-dierende zu lehren. Die Teilnehmer*innen sollen in die-sem Unterrichtsformat mittels Exkursionen an repräsentati-ve Plätze der lokalen Kunstgeschichte herangeführt werden. Oberste Priorität haben dabei Besuche in einigen der wich-tigsten Wiener Museen. Wenngleich Museen als „Hüter“ von Kulturerbe und „Tempel“ diskursiver Intervention zen-trale Agenten des kulturellen Lebens einer Stadt sind, dräng-te sich mir die Frage nach anderen Orten der öffentlichen Kunsterfahrung auf. Graffiti und Street Art prägen ohne Zweifel die urbane Landschaft und Identität einer Stadt. Akteur*innen dieser Kunst- und Ausdrucksformen grei-fen radikal in das sich laufend wandelnde Stadtbild ein und eignen sich dadurch – gefragt oder ungefragt – öffentlichen Raum an. Entgegen der sukzessiven Domestizierungs- bzw. Kommodifizierungstendenzen durch die Eingliederung in museale Praktiken und Vermarktungsstrategien agiert gera-de die Graffiti-Community außerhalb institutioneller Rah-men. Dieser Form selbstermächtigten Handelns entnehme ich wesentliche Überlegungen für meine eigene Ambition, den Themenkomplex Graffiti und Street Art – mit einem klaren Fokus auf Ersterem – für den Unterricht vermittelbar zu machen. Deren kontroverser Status erfordert im Kontext der Lehre eine gewisse Sensibilität, was eine ernsthafte an-thologische sowie terminologische Aufarbeitung in meinen Augen nur umso notwendiger macht. Im folgenden Text re-flektiere ich den aktuellen Stand meines Versuchs, sich the-matische Kompetenzen anzueignen, ohne sich kultureller Ausprägungen zu bemächtigen.II. BEGRIFFLICHKEITENBeginnen wir doch mit einigen Definitionsfragen. Was versteht man eigentlich unter Graffiti bzw. Street Art? Ist das nicht das Gleiche? Auch wenn eine definitive Grenzziehung hier weder machbar noch sinnvoll ist, lässt sich dennoch fest-stellen, dass Graffiti-Writing, anders als Street Art, primär auf Buchstaben und Schriftzügen aufbaut. Der Begriff subsumiert eine Vielzahl von Ausprägungen. Kritzeleien auf Häuserfassa-den, Parkbänken, Toilettenwänden oder Wahlplakaten ohne künstlerische Intention zählen ebenso dazu, wie aufwendig designte Gesamtkompositionen, sogenanntes Style-Writing, aus Schrift und comicartigen Figuren. Als oftmals ungebetener Gast begleitet uns diese Ausdrucksform, diese Aneignung und Invasion sowohl öffentlicher als auch privater Flächen, überall in unserer urbanen Lebenswelt. Man stößt dabei auf eine brei-te semantische Skala, die Botschaften des politischen oder zi-vilen Widerstandes, der Diskriminierung oder Solidarisierung gleichermaßen umfasst, wie persönliche Nachrichten oder die unzähligen Graffiti-Namen von Einzelpersonen und Crews. Bei den für diesen Aufsatz gewählten Namen folge ich hin-sichtlich ihrer Schreibweise den Vorgaben der Künstler*innen selbst. Da es bei Graffiti-Writing ganz wesentlich um die Ver-breitung genau dieses Namens, am häufigsten in Form von Tags, geht und den gesetzlichen Vorgaben dabei nicht un-bedingt gefolgt wird, führen viele als Writer*innen ein Un-dercover-Leben. Dies gilt vor allem für jene in der Graffiti-Community, die Tagging bzw. Bombing praktizieren, also ihre Signatur als Tags so schnell wie möglich an so vielen Orten wie möglich hinterlassen. Erst kürzlich geisterte die Nach-richt von der Festnahme des vielgesuchten und bis dahin uni-dentifizierten Taggers GECO in Rom durch die Medien.


 ZUKUNFT | 13 Ganz anders stellt sich die Situation für Street Art-Künstler*innen dar, für die der Wiedererkennungswert ih-res Stils und dessen Identifikation mit ihrer Person essenzielle Faktoren sind. Die meisten treten als Künstler*innen öffent-lich in Erscheinung und werden als solche in Ausstellungen re-zipiert und mit Auftragswerken bedacht. Häufig kommt es in ihrem Schaffen auch zu Überschneidungen mit kommerziel-len Bereichen, wie Fashion, Graphic Design und Werbung. Street Art entstand mit dem erklärten Ziel, Kunst auf die Straße zu bringen und den öffentlichen Raum als Open-Air-Galerie zu nutzen. Dabei geht es stark um die Eigenvermarktung der Künstler*innen, was ihnen zuweilen äußerst gut gelingt – so hat es Shepard Fairey beispielsweise immerhin bis in The Simp-sons geschafft. In ihren Werken, meist großflächige Wandgemäl-de oder Murals, treten figurale Darstellungen und Szenen, bun-te Gesichter und animalische Wesen oder Pflanzenwelten an die Stelle der Schriftzüge. Street Art-Künstler*innen setzen häu-fig wiederkehrende Motive oder Charaktere ein und schaffen sich durch den Einsatz signifikanter Techniken ihre stilistische Signatur. Was einem Banksy seine Stencils, sind einem She-pard Fairey seine Sticker und Poster, einer Swoon ihre aufwen-dig gezeichneten, mit Kleister aufgeklebten Drucke und einem Vhils sein Meisel und die Putzschicht der Wände. Der Einfalls-reichtum dieser Künstler*innen scheint schier unerschöpflich.III. URSPRÜNGEWir können also festhalten, dass die Bezeichnungen Graf-fiti und Street Art nicht synonym zu verstehen, jedoch eng miteinander verknüpft sind, nicht zuletzt da es sich in beiden Fällen vorrangig um urbane Phänomene handelt. Ihre Ab-grenzung zueinander ist keineswegs statisch, aber das ist der städtische Raum ja auch nicht. Es kommt laufend zu Über-lappungen, sei es bei den Motiven, den Techniken oder den künstlerischen Werdegängen der Akteur*innen selbst. Graffi-ti an sich folgt allerdings keinem ästhetischen Diktum und er-hebt auch keinen ausnahmslos affirmativ-künstlerischen An-spruch. Ein Blick zurück in die Anfänge der zeitgenössischen Graffiti-Bewegung verdeutlicht auch warum.Die Geschichte dieser Form von Graffiti, die auch als „Hip Hop-Graffiti“ bezeichnet wird, fällt mit der Genese des Ame-rican Graffiti zusammen. In diesem Zusammenhang möch-te ich darauf hinweisen, dass es sich bei der im Folgenden er-läuterten Entwicklung um ein westliches Narrativ handelt, das ich aus westlicher Perspektive beleuchte. Graffiti und Street Art sind schon lange globale Kunst- bzw. Ausdrucksformen und es wäre vermessen, dafür ausschließlich einen zeitlichen und geografischen Ausgangspunkt determinieren zu wollen. Für den Moment begeben wir uns dennoch in die USA, je-doch nicht in die Graffiti-Hochburg New York, sondern nach Philadelphia. Dort machte Mitte der 1960er Jahre der jun-ge Darryl McCray von sich reden, als er mit dem Tag CORN-BREAD die Stadt kaperte. Mit der Sprühdose bewaffnet, baute er sich durch die inflationäre Verbreitung seines Pseudonyms auf jeder Oberfläche, die sich ihm anbot, über Jahre hinweg den Ruf des „ersten Bombers“ auf. Und damit ist wirklich jede Oberfläche gemeint, denn was ihm 1971 schließlich eine Verhaftung einbrachte, war der Schriftzug „Cornbread lives!“ auf dem Elefanten des Zoos von Philadelphia. McCray ver-körperte mit seiner „tagging as a fulltime job“-Haltung die primäre Motivation der frühen Generation von Graffiti-Writer*innen, nämlich das Streben nach Berühmtheit, Res-pekt und „street cred“.Der Name CORNBREAD sollte so vielen Einwohner*innen Philadelphias wie möglich – die Exekutive eingeschlossen – ein Begriff sein. Und eben darin eröffnet sich ein Paradoxon, das der zu Grunde liegenden Intention dieser Bewegung in-härent ist. Bei diesem angestrebten „fame“ handelt es sich zwangsläufig um den Ruhm eines Phantoms, einer Sichtbar-keit bei gleichzeitiger Anonymität, da man sich im Bereich der Illegalität bewegte. Tagging bzw. Bombing gehen dabei weit über eine territoriale Markierung im Sinne eines „Ich war da!“ hinaus, sondern repräsentieren eine radikale, intervenierende und zum Teil destruktive Form eines „Hier bin ich!“.IV. GENESEAus dem Schatten der gesellschaftlichen Marginalisierung tretend, eigneten sich vor allem (aber nicht ausschließlich) Graffiti-Schriftzug PATRIARCHAT ABTREIBENauf einer Hauswand, Palffygasse, 1170 Wien, November 2020© Stefanie Fridrik


 14 | ZUKUNFT IM ZEICHEN DER STRASSE VON STEFANIE FRIDRIKjunge Männer aus sozial benachteiligten Schichten urbanen Raum an und nutzten dessen Infrastruktur kompromisslos für ihre Zwecke. Folgen wir dem weiteren Verlauf des gän-gigen Narrativs der Graffiti-Evolution, so verlagert sich mit den 1970er Jahren der Fokus nach New York. Genauer ge-sagt, in das Verkehrsnetz der New Yorker U-Bahn. Invasions-artig bedeckten Tags die Häuserfassaden, U-Bahn-Stationen und die Garnituren der New York Subway, was zwar in der Natur von Bombing liegt, zugleich aber den Geltungsdrang der Writer*innen untergrub. Das Alleinstellungsmerkmal war anhand eines einfachen Tags bald nicht mehr gegeben, was das Style-Writing und damit einen regelrechten „style war“ auf den Plan rief. Wo also die Steigerung der Quantität nicht mehr genügte, musste zusätzlich eine Steigerung der Qualität her, um dem Bedürfnis nach Distinktion Rechnung zu tragen.Ausgestattet mit Sprühdosen und einer guten Portion Ri-valität entwickelten die Writer*innen ihre Schriftzüge suk-zessive weiter, griffen auf progressive Linienführung und Or-namentierung zurück und fügten verschiedene Icons hinzu. Schließlich bildeten sich immer komplexer werdende, poly-chrome Stile heraus – am bekanntesten wohl der ikonische Wild Style – die nicht nur wesentlich mehr Vorbereitung er-forderten, sondern auch immer schwieriger zu entziffern wurden. 1975 wurde Lonny Wood, alias PHASE 2, zum ers-ten „King of Style“ ernannt. Trainwriting, vor allem ein so-genannter Wholetrain oder Wholecar, galt zu dieser Zeit zwar noch immer als Königsdisziplin, doch verlagerten Graffiti-Künstler*innen ihre Arbeit gegen Ende der 1970er mehr und mehr auf zum Teil sogar legale Wände, was ihnen ermög-lichte, elaboriertere Designs auszuführen. Schuld daran war aber auch die rigorose Vorgehensweise von Seiten der MTA (Metropolitan Transportation Authority), die keine Kosten und Mühen scheute, um Graffiti zu entfernen und ihre Züge überwachen zu lassen.Dem „Krieg“ innerhalb der Graffiti-Szene, der riva-lisierende Writer*innen zu wahren Höchstleistungen an-spornte, wurde von kommunaler Seite ab 1978 mit dem „Buff“, einem leistungsstarken Hochdruckreiniger, be-gegnet. Dies machte folglich auch die fotografische Do-kumentation umso bedeutender. Auf diese Weise hielten die Writer*innen nicht nur Trophäen ihres Wagemuts in den Händen und konnten diese einander präsentieren, ihre ephemeren Pieces, kurz für Masterpieces, blieben so auch der Nachwelt erhalten. Im prä-digitalen Zeitalter dienten die analogen Fotografien zusammen mit den Blackbooks, den Skizzenbüchern der Graffiti-Künstler*innen, außerdem der globalen Verbreitung dieser künstlerischen Ausdrucksform. In Europa begann sich die Jugendkultur ab Anfang der 1980er verstärkt mit Graffiti auseinanderzusetzen und spä-testens 1983 etwa hatte es sich fest etabliert. Die Entwick-lung in Wien war zwar nicht von so maßgeblicher Bedeu-tung wie jene in Berlin, München, Paris oder Amsterdam, 1984 sorgte aber eine Sprühaktion für größeres Aufsehen. In der Straßenbahn-Remise der Wiener Linien in Erdberg ließ man eine Garnitur der Straßenbahnlinie J von zwei amerikanischen Graffiti-Künstlern gestalten, einer davon kein geringerer als der „King of Style“ PHASE 2. Laut des Magazins WIENER, das die Aktion initiiert hatte, befand sich die bemalte Straßenbahn im Anschluss mehrere Mo-nate im Einsatz. Für viele angehende Writer*innen hier-zulande, darunter der Künstler Martin Schlager a.k.a. Ske-ro, bedeutete dies die erste Möglichkeit, Trainwriting live zu sehen. V. BEGEGNUNGSeither ist die Bewegung nicht nur europa- sondern welt-weit enorm angewachsen und hat sich durch das Zutun des Internets mittlerweile auch sehr gut vernetzt. Instagram ist, wie für so vieles, ein gängiger Kommunikations- und Re-präsentationskanal für Writer*innen, Crews und natürlich auch Street Art-Künstler*innen. Der mediale Hype um die-se Kunstrichtungen, der seit einigen Jahren zu verzeichnen ist, lässt Kommunalverwaltungen aber zuweilen völlig unbeein-druckt. Mancherorts begegnet man Writer*innen zwar offe-ner und strafrechtlich liberaler, anderswo herrscht wiederum eine Zero-Tolerance-Policy vor, unter der auf Kriminalisie-rung und Sanktionierung gesetzt wird, um dem unliebsa-men Phänomen des „Graffitivandalismus“ beizukommen. Die Piece des Wiener Writers ALLEStation Wien Matzleinsdorfer Platz, 1050 Wien, November 2020(c) Stefanie Fridrik


 ZUKUNFT | 15  ZUKUNFT | 15 Stadt Wien gibt sich hier kulant. Auch wenn Sprayen bzw. Malen auf nicht-autorisierten Flächen – dazu zählen natürlich auch bewegliche Flächen wie Züge – nach wie vor illegal ist, sorgt man mit dem Projekt WienerWand (Stadt Wien, MA 13) seit 2005 für die Einrichtung legaler Wände, von denen mitt-lerweile 22 in Wien existieren. Laut der Webseite des Projekts sind diese zwar an Nutzungsbedingungen gebunden, ansons-ten aber von der Community selbst verwaltet, da man davon überzeugt sei „dass Toleranz und eine von allen Seiten getra-gene Diskussion der bessere Weg sind“. Entgegen landläufiger Annahmen sind am Wiener Donaukanal, der als Graffiti-Hot-spot der Hauptstadt gilt, lediglich drei Wandflächen zum Be-sprühen freigegeben. Das restliche Geschehen wird als Kava-liersdelikt geduldet.Dieser verhältnismäßig offene Zugang der Stadt zur Graf-fiti-Kultur korreliert mit dem Umstand, dass die Wiener Sze-ne überschaubar ist und harmonisch agiert. Verschärfte Ri-valität und aggressive Praktiken kommen, wenn, dann nur vereinzelt vor. Dies berichtet zumindest Stefan Wogrin, der wohl als Experte auf diesem Gebiet gelten kann. Neben sei-ner Forschungsarbeit zur österreichischen Graffiti-Geschichte, gründete der Kunsthistoriker 2001 mit Spraycity eines der ers-ten Dokumentationsarchive für Graffiti-Writing Österreichs. Mit Standort in Wien, umfasst das Archiv laut dessen Websei-te ca. 300.000 Bilddokumente der fotografischen Dokumen-tation von Werken aus ganz Österreich. Die Webseite stellt nicht nur rund 70.000 dieser Fotos online zu Verfügung, son-dern bietet mit der Graffiti Map Vienna auch einen interakti-ven Stadtplan mit eingetragenen Standorten von Graffiti- und Street Art-Arbeiten – eine unentbehrliche Quelle für For-schung und Lehre. Ähnliches gilt für die Webseite Vienna Mu-rals – Street Art Guide Vienna, die 2016 von Thomas Grötsch-nig kreiert wurde. Der Fokus liegt hier auf Werken der Street Art, wobei in den meisten Fällen neben deren Locations, auch die Namen der Artists in der Stadtkarte verzeichnet sind.An dieser Stelle möchte ich noch auf zwei weitere Pro-jekte aus der „Street Art-Ecke“ verweisen, die in Wien ihren Anfang nahmen und nicht nur die Szene, sondern auch das Stadtbild maßgeblich mitprägen. Das Festival Calle Libre, 2014 von Jakob Kattner ins Leben gerufen, ist Wiens größtes Fes-tival seiner Art. Jedes Jahr werden dafür, in der ganzen Stadt verteilt, mehrere Hauswände zur Verfügung gestellt und von designierten Künstler*innen gestaltet. Heuer waren es Sieben an der Zahl, teils privat, teils behördlich genehmigt. Im Jahr 2018 gesellte sich das Hands Off The Wall-Festival dazu, das sich selbst als „Europe’s Leading Street Art and Graffiti Festival For Women“ bezeichnet. Dessen Initiatorin, die Künstlerin Chinagirl Tile, stellt sich damit gegen den Gender Gap in der Street Art-Szene, indem die Teilnahme Künstler*innen vor-behalten ist, die sich als Frau identifizieren oder ein für Frauen relevantes Thema bearbeiten. Für 2020 weitete sich der Radi-us des Festivals bis nach München aus.VI. ERSCHLIESSUNGWas ich bisher beschrieben habe, ist ein kurzer, ortsspezifi-scher Überblick über ein äußerst heterogenes und kontrover-ses Kulturphänomen. Die Komplexität dieser künstlerischen – oder eben nicht-künstlerischen – Erscheinungsformen ergibt sich nicht zuletzt aus den diversen disziplinären Blickpunk-ten, von denen aus man sie betrachten und bewerten kann. Graffiti und Street Art sind für die Urban und Cultural Stu-dies ebenso interessant, wie für die Politik- und Rechtswis-senschaft, die Soziologie, die Kultur- und Sozialanthropologie oder eben die Kunstgeschichte. Auffallend ist, dass sich wis-senschaftliche Aufsätze aus dem angelsächsischen Raum deut-lich häufiger mit juristischen Fragestellungen auseinanderset-zen und gerade Graffiti viel enger mit Bandenkriminalität und -gewalt verknüpft wird als in Europa.Für den von mir verfolgten pädagogischen Ansatz kam ich nicht umhin, der Kunsthistorikerin in mir Rechnung zu tragen und ein entsprechendes Instrumentarium heranzuzie-hen. Ich konnte als Lehrende die Erfahrung machen, dass so-wohl die historiografische Einordnung als auch eine termi-nologische bzw. stilistische Kategorisierung von Lernenden als Hilfestellungen für die Erschließung des Feldes wahrge-nommen werden. Letzterer kommt vor allem die Homogeni-tät des Graffiti-Jargons entgegen. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass das fachspezifische Vokabular aus der (anglophonen) Szene selbst kommt und international verstanden und ange-wandt wird. Sich mit Begriffen wie Tag, Piece und Bombing vertraut zu machen, ist also ein erster notwendiger Schritt. Ebenso lohnt sich ein Blick in die Stilentwicklung des Graffi-ti-Writing. Der schon erwähnte Wild Style stellt nämlich nur einen von vielen „Styles“ dar, die ab den frühen 1970er Jah-ren entstanden sind.Ausgestattet mit einem solchen „Basiskit“ lässt sich eine Werkbetrachtung und -analyse im klassischen Sinne auch au-ßerhalb des gewohnten institutionellen Rahmens einer Aus-stellung, bei der grundlegende Informationen im Preis der 


 16 | ZUKUNFT Eintrittskarte inkludiert sind, vornehmen. Im Idealfall erfolgt diese in situ als Exkursion oder Stadtspaziergang, beispielswei-se am Wiener Donaukanal. Erweiterte Routen können an-hand der interaktiven Stadtpläne zusammengestellt werden, eine Aufgabe, die durchaus auch an die Kursteilnehmer*innen selbst übergeben werden kann. Ist ein Lehrausgang nicht mög-lich – gerade in Zeiten des Online-Unterrichts – lässt sich al-ternativ mit Google Street View arbeiten. Große Abschnitte des Donaukanals sind auf diese Weise erfasst und über Goog-le Maps abrufbar, wobei man berücksichtigen muss, dass die derzeit verfügbaren Bilder schon im Februar 2019 aufgenom-men wurden.VII. UMGEBUNGDerartige digitalisierte Darstellungsweisen sind nützliche Hilfsmittel, die eine „Ortsbegehung“ jedoch keinesfalls erset-zen können. Die Zweckmäßigkeit fotografischer Dokumenta-tion für die Generierung von Nachvollziehbarkeit und Histo-rizität von Graffiti und Street Art ist und bleibt unumstritten. Tatsächlich verschleiert digitale Archivierung, die ständig und überall verfügbar ist, aber auch reale transformatorische Pro-zesse. Erst die Besichtigung vor Ort macht den ephemeren Charakter dieser Kunstformen wieder sichtbar, da man erst so sieht, was eben nicht mehr zu sehen ist. Eine solche Spurensu-che eröffnet zentrale diskursive Räume, die wiederum das pä-dagogische Potenzial dieses Themenfeldes fundieren. Das gilt zum Beispiel für die – häufig werkimmanente – Bedeutung von Graffiti und Street Art für das urbane Setting, und umge-kehrt. Nur ohne die Einschränkung von Abbildungsbegren-zungen lässt sich dieser Aspekt erschließen.Auch das invasive und schwer zu kontrollierende Aus-maß wird erst durch ein Ausgesetztsein erkennbar. Denn, sind wir uns ehrlich, Tagging und Graffiti-Writing sind weder ein singuläres noch unproblematisches Phänomen. Bei aller Be-geisterung dafür ist es in vielen Fällen schlichtweg illegal und kann drastische Konsequenzen für die Verantwortlichen ha-ben. Gerade im Lehrbereich müssen solche Faktoren kontex-tualisiert und diskutiert werden, ohne dabei in das simplifizie-rende dichotome Denkmuster Kunst versus Vandalismus zu verfallen. Auch die Tendenzen im Kunstbetrieb, sich die Äs-thetik des Illegalen und die Sexiness des Anarchischen anzu-eignen bzw. im urbanen Marketing, eine „gezähmte“ Form von Graffiti und Street Art für eine Gentrifizierung nutzbar zu machen, gilt es gleichermaßen kritisch zu hinterfragen.VIII. ZWISCHENBILANZBetrachtet man die Graffiti-Bewegung vor dem Hinter-grund ihrer zuvor geschilderten Ursprünge, offenbart sich eine gegenhegemoniale Praxis, die sich sowohl einem schein-liberalen, bürgerlichen Wertekanon als auch einer schemati-schen Konflikteliminierung entzieht. Die Diskursivität unge-löster Konflikte ist ihr inhärent und stellt uns vor allem vor viele offene Fragen, u. a. zur Sichtbarkeit und Selbstermäch-tigung im öffentlichen Raum oder der Legitimation künstle-rischer Ausdrucksformen. In ein dialogisch angelegtes Lehr-konzept eingebettet, kann die Vermittlung des Feldes Graffiti und Street Art eine bereichernde Reflexion urbaner Prozesse darstellen. Und wie die Arbeit mit Lernenden mir gezeigt hat, stößt das Thema sowohl bei Jugendlichen als auch Erwachse-nen auf große Resonanz.Empfohlene Linkshttps://www.callelibre.at/https://www.handsoffthewall.com/https://spraycity.at/http://www.viennamurals.at/https://www.widewalls.ch/magazinehttp://wienerwand.at/index.phpSTEFANIE FRIDRIKist Kunstwissenschaftlerin und Kulturvermittlerin. Sie fragt nach den Möglichkeiten von Wissens- und Kunstvermittlung als kritische,  antirassistische Praxis und setzt sich mit zugrundeliegenden  kulturpolitischen Prozessen auseinander.IM ZEICHEN DER STRASSE VON STEFANIE FRIDRIK


 ZUKUNFT | 17 LiteraturBaudrillard, Jean (1978): Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen, Berlin: Merve.Danysz, Magda (2016): A Street Art Anthology. From Graffiti to Contextual Art, Barcelona: Promopress.Friedmann, Florian (2019): „Sie nannten ihn Maisbrot“. Zeit Online, 05.02.2019, on-line unter: https://www.zeit.de/kultur/kunst/2019-02/street-art-cornbread-graffiti-begruender-kuenstler-philadelphia (letzter Zugriff: 23.11.2020).Gaulhofer, Karl (2020): „Sind die Sprayer nun Schurken oder Stars?“, Die Presse, 17.11.2020, online unter: https://www.diepresse.com/5898426/sind-die-sprayer-nun-schurken-oder-stars (letzter Zugriff: 23.11.2020).Hasley, Mark/Pederick, Ben (2019): „The game of fame. Mural, graffiti, erasure“, in: City 14 (2010), 82–98.Hasley, Mark/Young, Alison (2002): „The Meanings of Graffiti and Municipal Ad-ministration“, in: The Australian And New Zealand Journal Of Criminology 35 (2002), 165–186.Hermann, Katia: „Street Art And Graffiti Words. The Ultimate Glossary“, online unter: https://berlinstreetart.com/graffiti-words/ (letzter Zugriff: 20.11.2020).Karadensky, Karina: „Graffiti und Street Art im Zeichen der Krise. ‚Es warad wegen Corona“, Wien Museum Magazin, 19.04.2020, online unter: https://magazin.wien-museum.at/graffiti-und-street-art-im-zeichen-der-krise (letzter Zugriff: 23.11.2020).Kikol, Larissa (Hg.) (2019): Graffiti NOW. Ästhetik des Illegalen. (=KUNSTFO-RUM International 260 (o. J.) 2019). Alden Riggle, Nicholas (2010): „Street Art. The Transfiguration of the Common-places“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 68 (2010), 243–257.Ringhofer, Anneliese/Wogrin Stefan (2020): „Die Kunst der Straße. Graffiti in Wien“, online unter: https://wiener-online.at/2018/05/02/die-kunst-der-strasse-graffiti-in-wien/ (letzter Zugriff: 20.11.2020).Ross, Jeffrey Ian (2016): Routledge Handbook of Graffiti and Street Art, New York: Routledge.Ross, Jeffrey Ian/Lennon, John (2018): „Teaching about graffiti and street art to un-dergraduate students at U.S. Universities: Confronting challenges and seizing oppor-tunities“, in: Journal of Interdisciplinary Studies in Education 6 (2018), 1–18.Versteeg, Chris (2019): Einleitung, in: Alessandra Mattanza: Street Art. Legendäre Künstler und ihre Visionen, München/London/New York: Prestel, 16–22.CLAUDIA UNGERSBÄCKClaudia Ungersbäck (2020) untitled momentsFine Art Print, 30.0 x 21.0 cm© Claudia Ungersbäck


 18 | ZUKUNFT I. EINLEITUNGWenn die 1990er Jahre als der Aufstieg der digitalen Netz-medien mit dem Internet als grundlegender Infrastruktur und dem  World Wide Web als dominanter Applikation betrachtet werden können und wenn die 2000er und frühen 2010er Jah-re als deren Transformation zu einem Social Web interpretiert werden können, während der einige wenige global agieren-de Player wie Google, Facebook, Microsoft, Apple oder Amazon ihre Dominanz im Netz haben verfestigen können und mit-tels ihrer großen Plattformen sich im Alltag von Milliarden von Menschen verewigt haben, dann sind die letzten 10 Jahre womöglich der Zeitraum in dem die sich daraus ergebenden Konsequenzen für Individuum und Gesellschaft anhand vie-ler Phänomene erfahrbar, verstehbar und empirisch erfassbar geworden sind.Der ungebremste Optimismus aus der Gründerzeit des WWW ist damit auch längst einer bisweilen ungesunden Mi-schung aus Technologiepessimismus und diffusem Misstrau-en gewichen. Die digital-vernetzte Welt aber ist da und sie wird nicht wieder verschwinden. Die ohnehin schon kom-plexe mediale Umgebung des späten 20. Jahrhunderts, selbst nur eine Station im anhaltenden Prozess der Mediatisierung (vgl. Krotz 2007) transformiert sich in eine digitale Mediali-tät (vgl. Jörissen 2014), also eine Welt, die immer mehr und immer komplexer von Medientechnologien und da eben pri-mär von digitalen Medientechnologien durchzogen ist. Aus der Perspektive einer Strukturalen Medienbildung (vgl. Jörissen und Marotzki 2009), einem pädagogischen Forschungspro-jekt, dass sich in den letzten 20 Jahren insbesondere mit dem Einfluss von digitalen Medien auf Konzepte von Lernen und Bildung beschäftigt hat, erfahren wir unsere Umwelt, insofern sie sich nicht unmittelbar auf unsere physische Umgebung be-schränkt, über (meist digitale) Medien.II.  EXTENSIONS OF MANUnsere fünf menschlichen Sinne sind zeitlich und ört-lich stark begrenzt, mittels der die Welt umspannenden elek-trischen Netze aber reichen sie in Echtzeit um den gesam-ten Globus und auch zurück in die Vergangenheit, solange von dieser Fragmente erhalten sind und digitalisiert vorlie-gen. Sich die Effekte von Medien bewusst zu machen ist Ge-genstand diverser wissenschaftlicher Disziplinen, insbesondere der Medienwissenschaft. Die ersten Bemühungen dazu gehen aber insbesondere zurück auf den kanadischen Literaturwis-senschaftler Herbert Marshall McLuhan, der sich – unter an-derem durch die Vorarbeiten von Harold Adams Innis ins-piriert – gezielt damit beschäftigte, wie Medien (verstanden als Erweiterungen menschlicher Fähigkeiten und Sinne in die Welt) sich auf Gesellschaften und Kulturen aber auch auf das Individuum „auswirken“:DIGITALE FRAGMENTIERUNG – DIE IMPLOSION DISKURSIVER RÄUME VON JENS HOLZEDer medienkompetente Beitrag von JENS HOLZE fasst für die Leser*innen der ZUKUNFT die grundlegenden Thesen des kanadischen Medientheoretikers Herbert Marshall McLuhan zusammen, diskutiert dabei die Re-Tribalisierung im Global Village und führt so Problemlagen der aktuellen Demokratietheorie vor Augen.Digitale Fragmentierung – Die Implosion  diskursiver Räume


 ZUKUNFT | 19 „Because all media, from the phonetic alphabet to the computer, are extensions of man that cause deep and lasting changes in him and transform his environment. Such an ex-tension is an intensification, an amplification of an organ, sen-se or function, and whenever it takes place, the central ner-vous system appears to institute a self-protective numbing of the affected area, insulating and anesthetizing it from con-scious awareness of what’s happening to it.“ (McLuhan und Zingrone 2005: 226). Dazu entwirft er in den Büchern Die mechanische Braut und  Die Gutenberg Galaxie zunächst eine Mediengeschich-te in vier Zeitaltern, die er primär als Mosaik von Aphoris-men und Metaphern verfasst (vgl. McLuhan 1962) und dann 1964 in Understanding Media oder zu Deutsch Die magi-schen Kanäle einem breiten Publikum zugänglich macht. Folgt man der Argumentation von Jana Mangold (2018) dann han-delt es sich bei McLuhan auch gar nicht um eine dedizier-te Person als Autor, sondern vielmehr um ein Netzwerk an Ideengeber*innen und Denker*innen, die im Austausch von und mit McLuhan zu dessen Sonden, der mcluhanistischen Form des Gedankenexperiments, beitrugen und deren Ide-en letztendlich so eng mit denen McLuhans re-mixed wer-den, dass eine klare Trennung nur aufwändig möglich zu sein scheint. Dabei kann man einerseits von einer Toronto -School sprechen, da hier viele der relevanten Protagonist*innen zu finden waren, andererseits geht dieses Wissensnetzwerk auch weit über einen einzelnen Standort hinaus. Für diese These spricht auch, dass McLuhan bis auf wenige Ausnahmen sei-ne Bücher immer mit Kollaborationspartnern wie Edmund Carpenter, Quentin Fiore oder gar seinem Sohn Eric verfasst hat. Sein reger Austausch mit hunderten Personen ist auch in zahlreichen Briefen dokumentiert, die posthum veröffentlicht worden sind (vgl. McLuhan et al. 1987).III.  VOM ELEKTRISCHEN ZUM DIGITALEN   ZEITALTERMcLuhan war folglich wohl eher ein Broker in einem weitverzweigten Wissensnetzwerk lange vor dem Internet und damit selbst Symptom seiner Welt der elektrischen Me-dien. Denn laut McLuhans Mediengeschichte wird das vier-te und aktuelle Zeitalter mit dem Aufkommen der elektri-schen Medien begründet, also Telefon, Telegrafie, Fernsehen und Radio. Diesen attestiert er nicht nur die sprunghafte Be-schleunigung dank Kommunikation in Lichtgeschwindigkeit. Er geht von einer grundlegenden Transformation der visu-ellen Buchkultur aus, die insbesondere in westlichen Gesell-schaften des Gutenberg-Zeitalters vorherrsche.Dominant beschäftigt er sich dabei mit den Alltagsmedi-en der 1950er und 1960er Jahre, aber auch die aufkommende Computertechnologie hat er bereits im Blick. In seinem Play-boy-Interview des Jahres 1969 orakelt er beispielsweise: „The computer thus holds out the promise of a technolo-gically engendered state of universal understanding and uni-ty, a state of absorption in the Logos that could knit mankind into one family and create a perpetuity of harmony and peace. … Psychic communal integration, made possible at last by the electronic media, could create the universality of conscious-ness foreseen by Dante when he predicted that men would continue as no more than broken fragments until they were unified into an inclusive consciousness. In a Christian sen-se, this is merely a new interpretation of the mystical body of Christ; and Christ, after all, is the ultimate extension of man.“ (McLuhan und Zingrone 2005: 253)Dieses universelle Bewusstsein des zeichenorientierten Men-schen, hängt an der Technologie des universalen Zeichens, dem binären Zeichensystem, welches jedes Alphabet, jedes Wort, je-des Bild und jeden Ton als Reihe von Nullen und Einsen, von Strom-An und Strom-Aus, darstellen kann. Gleichzeitig wird laut McLuhan durch neue Medien auch immer Altes wiedergewon-nen. Für das elektronische Zeitalter, das wie es aktuell scheint auch als das digitale Zeitalter gelten kann, prophezeit er die Ab-kehr vom visuellen Raum und die Rückkehr zum akustischen Raum, der ohne Zentrum und Begrenzungen auskommt, wobei damit nicht nur der Tausch des Ohrs gegen das Auge (McLuhan 1962: 31f) rückgängig gemacht werde, sondern ein fundamen-tales Ungleichgewicht der Sinne insgesamt, bei denen das Se-hen alles andere überragt. Diese Dominanz des Visuellen kann in ein sinnliches Äquilibrium überführt werden, bei dem alle Sinne wieder teilhaben (McLuhan und Zingrone 2005: 229f).MARSHALL MCLUHAN DIE MECHANISCHE BRAUTAmsterdam: Verlag der Kunst258 Seiten | € 15,00ISBN: 90-5705-021-8Erscheinungstermin: November 1996


 20 | ZUKUNFT IV.  RE-TRIBALISIERUNG IM GLOBAL VILLAGEMcLuhan assoziiert dies mit dem Begriff der Re-Tribalisie-rung, einer Rückkehr zur Sinneswelt der Stammeskulturen, bei denen eben das besagte Gleichgewicht der Sinne noch ausge-prägt war, bevor erst das geschriebene und dann das gedruckte Wort die Macht übernahmen und damit andere Vergemeinschaf-tungsformen wie Imperien und Nationalstaaten ermöglichten. Durch die elektronischen Medien entstehe aber wieder das, was McLuhan als Globales Dorf (im Orig. Global Village) beschreibt (vgl. McLuhan 1962: 31, McLuhan 1992: 113):„The effect of extending the central nervous system is not to create a world-wide city of ever-expanding dimensions but rather a global village of ever-contracting size. “The urb it orbs,” Joyce noted. […] The speed of information movement in the global village means that every human action or event involves everybody in the village in the consequences of every event. The new human settlement in terms of the contracted global village has to take into account the new factor of total involvement of each of us in the lives and actions of all. In the age of electricity and automation, the globe becomes a com-munity of continuous learning, a single campus in which eve-rybody, irrespective of age, is involved in learning a living.“ (McLuhan 1970: 40f)In der Tat sind in den letzten Jahrzehnten einige von diesen Prophezeiungen eingetroffen. So hat sich der Globus zweifel-los durch Prozesse der Globalisierung und der Digitalisierung merklich verkleinert, auch wenn dies zweifellos alles andere als ein schmerzfreier Prozess ist. Die aktuellen Entwicklungen zei-gen allerdings auch auf, dass dabei nicht unbedingt nur ein stär-keres Gemeinschaftsgefühl entstanden ist, sondern das gleich-zeitig oder vielleicht sogar in stärkerem Maße ein Prozess der Fragmentierung eingesetzt hat, der dazu führt, dass vermeint-liche gesellschaftliche Gemeinsamkeiten auf den Prüfstand kommen und hinterfragt werden. Die Fragen nach dem „rich-tigen“ Wirtschaftssystem, dem „richtigen“ politischen System, nach Gleichberechtigung der Geschlechter in einer wachsen-den Geschlechterpluralität, nach der Rolle von Religion, nach den Errungenschaften der Aufklärung, der Wissenschaft und letztendlich die moderne Frage nach der Wahrheit, alle die-se Themen sind aktuell wieder in teils erbittert geführten De-batten präsent und stellen den vermeintlichen politischen oder gesellschaftlichen Konsens (so es ihn jemals gab) in Frage. Und dabei werden nicht nur Meinungen und Einschät-zungen in Frage gestellt, sondern immer mehr die ihnen zu-grundeliegenden Fakten. Institutionen und Systeme, die bislang eben diese Fakten verbreitet haben, bekommen Kon-kurrenz von Institutionen und Systemen für alternative Fak-ten, die nicht objektiven Kriterien von Wahrheit genügen müssen, sondern vielmehr dem Gefühl einer kritischen Mas-se entsprechen. Wir erleben damit eine beispiellose Fragmen-tierung von Gesellschaften entlang aller denkbarer Grenzen: Ökonomisch zwischen arm und reich, politisch zwischen links und rechts, kulturell, ideologisch, religiös, technologisch und so weiter. Was ist geschehen? Lag McLuhan falsch? In seinem letzten Buch Laws of Media versuchten Mar-shall und sein Sohn Eric die gesammelten Erkenntnisse zu den Effekten von Medien systematisch zu ordnen und erschufen damit die sogenannten Medientetrade. Demnach bringt jedes Medium Effekte in vier Dimensionen in die Umgebung ein, in der es entsteht: Jedes Medium hat eine verstärkende (en-hance), veraltende (obsolesce), zurückgewinnende (retrieve) und eine umkehrende (reverse oder flip) Dimension (McLuhan und McLuhan 1988: 129). Ich will insbesondere die letzte Dimen-sion der Umkehrung in den Blick nehmen. Hierzu schrei-ben sie: „When pushed to the limits of its potential (another complementary action), the new form will tend to rever-se what had been its original characteristics“ (McLuhan und McLuhan 1988: 99).Meine These sei daher, dass die kontinuierliche Verbrei-tung des Internets und seiner Dienste über die letzten Jahre als der bislang letzte Schritt in der Evolution elektronischer Me-dien die Menschheit so nah zu einander gebracht hat, dass sich diese Funktion nun beginnt in das Gegenteil zu verkehren: sie fragmentiert oder sie ermöglicht die Fragmentierung des gemeinsamen Bewusstseins. Viele aktuelle Beobachter*innen greifen dieses Phänomen in unterschiedlichen Perspektiven auf, unter anderem Felix Stalder in seiner Kultur der Digitali-tät oder Andreas Reckwitz in seiner Gesellschaft der Singularitä-ten. Meist werden digitale Medien aber lediglich als Symptom (spät-)moderner Transformationsprozesse untersucht, nicht aber als deren Voraussetzung.V.  DIE MAGISCHEN KANÄLE UND DAS ENDE   EINER DEMOKRATIE?In Die Magischen Kanäle hebt McLuhan dutzende Male auf die elektronischen Medien als implosive Kraft ab, also eine Explosion, die nicht Fragmente nach außen verteilt, sondern aufgrund hohen Außendrucks nach innen. Eine mögliche In-terpretation wäre: Die Menschheit kann sich auf dem runden DIGITALE FRAGMENTIERUNG – DIE IMPLOSION DISKURSIVER RÄUME VON JENS HOLZE


 ZUKUNFT | 21 Planeten nicht länger vor sich selbst verstecken, weil selbst die Katastrophen auf der gegenüberliegenden Seite aufgrund der engen auch digital getriebenen Vernetzung spürbare globa-le Konsequenzen haben, denen wir nicht entrinnen können. Besonders greifbar scheint dies mit Blick auf die Klimakri-se zu sein, zu der alle Menschen in unterschiedlichen Gra-den beitragen und von der letztendlich alle betroffen sind oder sein werden. McLuhan stellt einen dynamischen Prozess in Aussicht, der alles erfasse. Die Veränderung, so schreibt er im-mer wieder, sei die einzige Konstante im elektronischen Zeit-alter (z.  B. McLuhan et al. 1987: 253). Als er im Playboy-Interview gefragt wird, „ob“ die etablierte Demokratie das Globale Dorf überleben werde können, antwortet McLuhan unmissverständlich: „No, it will not. The day of political democracy as we know it today is finished. Let me stress again that individu-al freedom itself will not be submerged in the new tribal so-ciety, but it will certainly assume different and more complex dimensions. The ballot box, for example, is the product of li-terate Western culture – a hot box in a cool world – and thus obsolescent. The tribal will is consensually expressed through the simultaneous interplay of all members of a community that is deeply interrelated and involved, and would thus consi-der the casting of a ‘private’ ballot in a shrouded polling booth a ludicrous anachronism. The TV networks’ computers, by ‘projecting’ a victor in a Presidential race while the polls are still open, have already rendered the traditional electoral pro-cess obsolescent.“ (McLuhan und Zingrone 2005: 252)Beinahe lassen sich die aktuellen Wahlen in den USA als Echo eben dieser Einschätzung wahrnehmen. McLuhan ruft hier zunächst nur das Ende der Form der Demokratie seiner Zeit aus, und man kann kaum widersprechen, dass auch de-mokratische Systeme und Institutionen sich seit 1969 spürbar verändert haben. Er ruft aus meiner Sicht aber nicht das Ende der Werte einer deliberativen Demokratie aus. Er verweist vielmehr darauf, dass elektronische und damit auch digitale Medien ganz andere Beteiligungsmöglichkeiten an öffentli-chen Diskursen erschließen werden. Und er weist auch darauf hin, dass das, was wir unter dem Begriff deliberative Demo-kratie verstehen, sich verändern muss und dann gegebenen-falls ein anderes Label tragen wird. Ein anderes Verständnis von Privatheit oder Individualität, das hier impliziert wird, eine Tendenz zu globalem Bewusstsein, eine Rückkehr zu tribalen Formen, die Unmittelbarkeit eines Globalen Dorfes, dies wird auch politische Systeme zu Veränderungen zwingen, wenn sie nicht selbst Gefahr laufen wollen, obsolet zu werden. VI. CONCLUSIOEinige Ausläufer sehen wir womöglich schon. Nur als Bei-spiel: demokratiefeindliche Kräfte in demokratisch gewählten Parlamenten, das ist mittlerweile eine Realität geworden, die viele sich nicht hätten träumen lassen. Öffentliche Diskurse gibt es weiter, aber nicht die eine Öffentlichkeit mit dem einen kon-sensualen Set an Fakten. Dadurch entstehen Teilöffentlichkeiten und fragmentierte Diskursräume, die immer weniger miteinan-der verbunden sind. Das ist nicht eine Konsequenz der Techno-logien selbst, sondern der Service-Umgebungen, die diese her-stellen und die für uns vielfach „unsichtbar“ erscheinen:„So ‚the medium is the message‘ is not a simple remark, and I’ve always hesitated to explain it. It really means a hid-den environment of services created by an innovation, and the hidden environment of services is the thing that changes peo-ple. It is the environment that changes people, not the tech-nology.“ (McLuhan und Zingrone 2005: 241)Und hier lässt sich auch die Brücke zu Fragen von Bil-dung spannen: Wenn uns die Umgebungen, die digitale Me-dien aufspannen, aktuell noch größtenteils unsichtbar bleiben und wir nur langsam anhand ihrer Effekte ihrer Konsequen-zen gewahr werden, dann besteht die Gefahr, dass unser der-zeitiger Umgang damit in breiter Ignoranz fußt. Wir sollten also Vorsicht walten lassen bei den laufenden gesellschaftli-chen Veränderungsprozessen, um nicht Opfer unserer eigenen Medienwelt (und eben nicht der sie herstellenden Technolo-gien) zu werden.JENS HOLZE ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur Pädagogik und Medienbildung der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg.MARSHALL MCLUHANTHE GUTENBERG GALAXY Toronto/Buffalo/London:  University of Toronto Press331 Seiten | € 35,87ISBN: 978-1442612693Erscheinungstermin: Juli 2011


 22 | ZUKUNFT Claudia Ungersbäck (2020) untitled sculptiturityFine Art Print, 21.0 x 30.0 cm© Claudia UngersbäckLiteraturJörissen, Benjamin (2014): Digitale Medialität, in: Handbuch pädagogische Anthropologie, hg. von Christoph Wulf und Jörg Zirfas, Wiesbaden: Springer VS, 503–513.Jörissen, Benjamin/Marotzki, Winfried (2009): Me-dienbildung – Eine Einführung: Theorie – Methoden – Analysen, Stuttgart: UTB.Krotz, Friedrich (2007): Mediatisierung – Fallstudi-en zum Wandel von Kommunikation, Wiesbaden: Springer VS.Mangold, Jana (2018): McLuhans Tricksterrede: Ar-chäologie einer Medientheorie, Berlin: de Gruyter.McLuhan, Corrine et al. (1987): Letters of Marshall McLuhan, New York: Oxford University Press.McLuhan, Eric/Zingrone, Frank (2005): Essential McLuhan, London: Taylor & Francis.McLuhan, Herbert M. (1962): The Gutenberg galaxy – the making of typographic man, London: Routledge & Paul.McLuhan, Herbert M. (1992): Die magischen Kanäle. Understanding Media, Düsseldorf: Econ.McLuhan, Herbert M./McLuhan, Eric (1988): Laws of Media, Toronto: University of Toronto Press.McLuhan, Herbert M. (1970): Counterblast, London: Rapp & Whiting Ltd.


 ZUKUNFT | 23 CLAUDIA UNGERSBÄCK


 24 | ZUKUNFT I. EINLEITUNGAktuelle Debatten und das jüngst veröffentlichte Wie-ner Manifest zum Digitalen Humanismus wollen – in einfachen Worten – die Macht des Menschen über die Maschine zu-rückgewinnen. Technologieentwicklung und Digitalisierung sollen menschlichen Bedürfnissen folgen und auf Basis huma-nistischer Werte weiterentwickelt werden. Im Wiener Mani-fest des Digitalen Humanismus wird so festgehalten:„Unsere Aufgabe besteht nicht nur darin, die Nachteile der Informations- und Kommunikationstechnologien einzu-dämmen, sondern vor allem auch darin, von Beginn an men-schenzentrierte Innovationen zu fördern. Wir fordern einen Digitalen Humanismus, der das komplexe Zusammenspiel von Technologie und Menschheit beschreibt, analysiert und vor allem beeinflusst, für eine bessere Gesellschaft und ein besseres Leben unter voller Achtung universeller Menschen-rechte“ (Vgl. https://tinyurl.com/y6aatkcy)Demgemäß haben wir zu lange und in völlig illegiti-mer Weise Maschinen menschliche Charaktereigenschaften und Menschen maschinelle Prozesse zugeordnet, ohne die-se Übertragungen einer Kritik zu unterziehen. Der klassische Humanismus wird dabei mit der auch kantianischen Frage nach der Conditio Humana in das Zeitalter der Digitalisie-rung gebracht und gestützt. Der Digitale Humanismus stellt sich so auch dem „Mangel an Verblüffungsresistenz“ (Haber-mas) von Anti-Humanisten entgegen, welche dazu neigen das Humane zu mechanisieren und die Maschine zu technokra-tisch zu verherrlichen.II.  DER HUMANISMUSDer Humanismus ist die Lehre vom Menschen. Die grundlegende Frage des Humanismus ist die Frage nach dem allgemein und spezifisch Menschlichen, nach dem Wesen des Menschen; nach der Conditio Humana, wie es z. B. als Den-ken, Sprache, Kreativität, Handeln, Sprechvermögen, etc. ge-fasst und bestimmt wurde. Conditio Humana ist die alles um-fassende und erschöpfende Definition von ‚menschlich‘, im Sinne von spezifisch menschlich, einzigartig menschlich, was dem Menschen allein zukommt, eine Bedeutung, die das Be-sondere des Menschen im Unterschied zu anderen Organis-men betont.Diese grundlegende Definition und Kategorie des Huma-nismus beziehen sich also auf das Menschliche, auf das aus-schließlich Menschliche. Der Humanismus als Lehre vom Menschen gibt Antworten auf die Frage nach der Conditio Humana. Die Conditio Humana gibt wiederum Auskunft da-rüber, was es bedeutet, ein Mensch zu sein; die Erfahrungen, Eigenschaften und Grenzen des Lebens, die ALLEN Menschen gemeinsam sind und in anderen Lebensformen (z. B.: beim Tier) sowie in allen materiellen Formen (z. B.: in der Maschi-ne) nicht vorkommen.Die Conditio Humana ist mithin das allgemein und spe-zifisch Menschliche. Allgemein bedeutet, dass die Conditio Humana  ALLEN Menschen gemein ist und spezifisch bedeu-tet, dass die Conditio Humana AUSSCHLIESSLICH für den Men-schen gilt. Die Conditio Humana vereinigt alle Menschen als Gattung und grenzt alle Menschen von anderen Bereichen der Realität und Kategorien des Denkens ab. Die Frage nach ei-ner spezifischen Qualität des Menschengeschlechts dient dazu den menschlichen Bereich von anderen Sphären der Realität und Denkkategorien zu unterscheiden.Bereits in den antiken Ursprüngen des Humanismus ent-standen zentrale Grundlagen über die Eigenschaft, welche das HAT DER DIGITALE HUMANISMUS EINE ZUKUNFT? VON ALEXANDER SCHMÖLZHat der Digitale  Humanismus eine Zukunft?Der Beitrag von ALEXANDER SCHMÖLZ untersucht ausgehend von aktuellen Diskussionen zum Digitalen Humanismus das historische Verhältnis des Menschen zu Gott, zur Natur sowie zur Maschine und setzt sich dabei im Namen der Aufklä-rung deutlich von jedem Anti-, Post- und Transhumanismus ab.


allgemein und spezifisch Menschliche ausmacht, vor allem zur ersten Eigenschaft des Menschen, welche alle anderen Eigen-schaften folgen. Aristoteles benennt das allgemein und spezi-fisch Menschliche in der Eigenschaft vernünftig zu denken; Epikur benennt die Sorge und die Furcht, Platon benennt die Seele und ihre drei Teile (Vernunft, Willen und Begehren) als allgemein und spezifisch menschliche Eigenschaft.III.  DER ANTI-HUMANISMUSIm Gegensatz zum Humanismus, welcher das Allgemei-ne und Spezifische des Menschen schärft und herausarbeitet, verweisen anti-humanistische Tendenzen auf das Gegenteil. Erstens begründet sich der Anti-Humanismus im Verwässern der Grenze zwischen Mensch und Gott, zwischen Mensch und Natur sowie zwischen Mensch und Maschine und kon-testiert damit das Menschliche als etwas Einzigartiges, als et-was mit spezifischer Qualität. Dem Anti-Humanismus geht es also darum, die Grenze zwischen Menschen und anderen Sphären der Realität zu verwischen und brüchig zu machen. Zweitens begründet sich der Anti-Humanismus im Ausschal-ten des Allgemeinen, der Universalien, welche die Menschen als Gattung eint. Der Anti-Humanismus gibt Partikularem ge-genüber dem Universellen innerhalb der Sphäre des Mensch-lichen den Vorzug. Antihumanistische Strömungen und Ten-denzen lassen sich in erster Hinsicht identifizieren, wenn zwischen Mensch und Gott, zwischen Mensch und Natur so-wie zwischen Mensch und Maschine kein klarer Unterschied gemacht und keine deutliche Grenzlinie gezogen wird bzw. der Unterschied explizit negiert wird.Eine zentrale anti-humanistische Tendenz zeigt sich bei Spencers Sozialdarwinismus, welcher die biologische Theorie Darwins in fataler Weise auf die Sozialität des Menschen über-tragen hat, indem die durchaus vorhandene Relationierung zwischen Menschen und Tieren bei Darwin aufgelöst wird. Auf Basis dieser Form des Anti-Humanismus begründete er seine „biological apology for laissez-faire“ und entwickelte eine biologistische Sozialtheorie, die keinen Unterschied zwi-schen Mensch und Tier kennt. Spencers Anti-Humanismus ist also in der Negation der ersten Bedingung der Conditio Humana begründet: Dem spezifisch und einzigartig Mensch-lichen im Vergleich zum Tier.Ein anderes Beispiel ist die Eugenik. Francis Galton hat-te erstmals statistische Methoden zur Untersuchung mensch-licher Unterschiede und der Vererbung von Intelligenz angewandt und damit eine zentrale Methode der wissen-schaftlichen Eugenik geschaffen. Er untersuchte Personen, welche den „title of scientific men deserve“, in dem er ei-nen „hat maker’s whalebone-hoop“ verwendet, um die Schä-delgröße mit der wissenschaftlichen Prominenz zu korrelie-ren. Seine normativen Schlüsse mündeten in erster Linie in einer „positiven Eugenik“, welche Menschen, die als gesund und intelligent galten, ermutigte mehr Kinder zu zeugen. Die „negative Eugenik“ begründete hingegen, dass Menschen, welche nicht als gesund bzw. intelligent galten, an der Repro-duktion gehindert oder im schlimmsten Fall organisiert getö-tet werden. Diese Form erlebte in der eugenischen Praxis des nationalsozialistischen Deutschland seinen fatalen und trauri-gen Tiefpunkt. Alle Formen der Eugenik nehmen ihren anti-humanistischen Ausgangspunkt in der Negation der zweiten Bedingung der Conditio Humana: Dem allgemein Mensch-lichen. In anderen Worten, diese Form des Anti-Humanis-mus liegt im Ausschalten der Universalien durch die Bevorzu-gung des Partikularen gegenüber dem Universellen innerhalb der Sphäre des Menschlichen. Einer bestimmten Gruppe von Menschen werden dann die humanistischen Universalien ab-gesprochen, wodurch sie auch zwischen Mensch und Tier nicht mehr der Gattung des homo sapiens angehören und bis zum Mord exkludiert werden können. So schaltet beispiels-weise ein rassistischer, sexistischer oder aristokratischer An-ti-Humanismus die Universalien aus, welche im Humanismus für ALLE Menschen gelten.IV.  DER DIGITALE HUMANISMUSUnterschiedliche Ausprägungen des Humanismus konsti-tuieren sich jeweils über die Kernfrage nach der Conditio Hu-mana, jedoch in anderer Weise: Durch Fragen nach der Con-ditio Humana im Unterschied zwischen Mensch und Gott, zwischen Mensch und Natur oder zwischen Mensch und Ma-schine. In der Frage worin die fundamentale Differenz von  ZUKUNFT | 25 Leonardo Da Vinci: Vitruvian Man© Wikimedia Commons (author: Andreagrossmann)


 26 | ZUKUNFT Mensch und Maschine besteht und welche Konsequenzen sich aus der Antwort für die Conditio Humana ergibt, liegt die Konstitution des Digitalen Humanismus begründet. Im Di-gitalen Humanismus gelten demnach die gleichen Grundla-gen wie in oben erwähnten Debatten zum Humanismus. Es gilt sowohl das Spezifische und Allgemeine des Menschlichen zu identifizieren und zu schärfen also auch anti-humanistische Tendenzen in der Theorie und Praxis des Digitalen zu mar-kieren und zu hinterfragen. Das Besondere am Digitalen Hu-manismus liegt jedoch darin, dass die Conditio Humana in der Relation zwischen Mensch und digitaler Maschine ange-sichts von Kybernetik, Künstlicher Intelligenz, Robotik, In-formatik sowie Informations- und Kommunikationstechnolo-gien (IKT) entwickelt wird.Der Digitale Humanismus fußt auf den humanistischen Errungenschaften der Renaissance und der Aufklärung, stellt die Emanzipation des Menschen von natürlichen und maschi-nellen Abhängigkeiten in den Mittelpunkt und sucht die Con-ditio Humana in der universellen aber nicht absoluten Grenze zwischen Mensch und digitaler Maschine. Die Errungenschaft der Aufklärung liegt in der Erfindung der menschlichen Qua-lität des rationalen Denkens und des logischen Operierens im Sinne der Entmythologisierung der Natur. Die Conditio Hu-mana verändert sich nun in Relation zu Natur und Maschine, denn das Rationale am Denken und des logischen Operierens wird der Maschine zugeschrieben. Der postmoderne Mensch wird von der Rationalität entlastet, ohne in die Mythologie zurückzufallen. Damit entsteht Raum und Zeit für Neues. Im Zeitalter des postmodernen Digitalen Humanismus liegt die Conditio Humana fern der maschinellen Rationalität und der Mythologisierung der Natur.Der digitale Antihumanismus hingegen gründet damals wie heute in der Porosität der Grenze zwischen Maschine und Mensch und durch das technisch-mechanistische Denken und Handeln werden zentrale Qualitäten der digitalen Maschi-ne im Menschen – gerade im Sinne der kapitalistischen Ma-schinisierung, Disziplinierung und Digitalisierung – verstärkt. Diese Verstärkung sowie die (nach wie vor futuristische) Ver-herrlichung und Vergötzung der Maschine, lässt die folgende Gleichung als wahrscheinliche Zukunft erscheinen:„Die Gegenwart führt uns bereits Menschen vor Augen, die sich wie Roboter verhalten. Wenn erst die meisten Men-schen Robotern gleichen, wird es gewiss kein Problem mehr sein, Roboter zu bauen, die Menschen gleichen.“ (Fromm 1980: 25)Diese Problematik markiert eine zentrale Position der ak-tuellen Forschung zum Digitalen Humanismus. Es gilt, Qua-litäten und binäre Operationen, welche die digitale Maschine besser erfüllen kann als der Mensch, an diese zu übertragen, so dass sich der Mensch an Qualitäten und vieldeutigen Ope-rationen orientieren kann die spezifisch menschlich sind: Emotionen, Schmerzen, Krea(k)tivität, Spontaneität, Sensi-tivität, Empathie, Intimität; Bewusstseinsformen, Entschei-dungen, Möglichkeit(en), Ambiguitäten, Regellosigkeit(en), Überraschung(en) Ästhetiken, Ethiken, Wertschätzungen und Wertsetzungen etc. Wenn aber die Qualitäten, welche die di-gitale Maschine und der Mensch gemein haben, verstärkt und verherrlicht werden, dann werden bald alle Menschen in ei-nem willenlos automatisierten und damit kontingenzlos de-terminierten Universum Robotern gleichen. Der Mensch wird zur Maschine als Idol für eine Welt der toten Ordnung ohne Schmerzen und Freude. Dann ist der digitale Antihuma-nismus vollendet, weil sich die Menschheit dazu entschieden hätte, sich selbst auszuschalten.Aktuelle Forschung zum Digitalen Humanismus steht die-ser möglichen Zukunft des digitalen Antihumanismus entge-gen und lässt sich dort identifizieren, wo der Gegensatz von Mensch und digitaler Maschine betont wird. Dieser Gegen-satz kontrastiert die berechenbare Rationalität künstlicher In-telligenz mit der ästhetischen Weltauffassung. Der Digitale Humanismus wird in der Betonung des Gegensatzes zwischen Mensch und digitaler Maschine unmissverständlich ausge-drückt und kann nach wie vor auf den Unterschieden zwi-schen Mechanismus und Vitalismus bestehen. Die Künstliche Intelligenz (KI) als gegenwärtiger Prototyp der digitalen Ma-schine wird durch die berechenbare Rationalität ausgewie-sen. Der Mensch hingegen zeichnet sich durch die ästhetische Weltauffassung aus und ist in seinem Verhalten nicht durch-gängig determiniert oder determinierbar.V. FAZITWenn der Digitale Humanismus eine Zukunft haben soll, dann müssen wir der digitalen Maschine explizit Werte setzen, um sie in die Schranken zu weisen. Eine Ethik aus humanisti-schen Werten und Urteilen muss die berechnende Rationali-tät innerhalb von Modellen der digitalen Maschine bestimmen.Die Kreativität wiederrum erlaubt das Brechen und Über-schreiten von bestehenden Modellen und das Schaffen von neu-en Modellen der digitalen Maschine. Kreativität kennzeichnet HAT DER DIGITALE HUMANISMUS EINE ZUKUNFT? VON ALEXANDER SCHMÖLZ


 ZUKUNFT | 27 eine Tätigkeit, die ungeregelt und deshalb spontan, ursprüng-lich und schöpferisch ist. Geregelt sind Tätigkeiten in einem Rahmen, d. h. innerhalb eines Modells, von dessen Randbe-dingungen sie ihren Anfang nehmen können. Kreativität geht von außen an das Modell. Das Modell ist für sie problematischer Gegenstand, den es zu überwinden gilt – über den wir hinaus-gehen müssen, um neue Modelle der digitalen Maschine zu er-finden. Kreativität geht erstens über das bloße Denken hinaus. Kreativität liegt zweitens in der Handlung. Sie ist ursprünglich, spontan und schöpferisch in dem sie von außen an bestehen-de Modelle herangeht. Ausgangspunkt der Kreativität ist drit-tens das Problematisieren bestehender Modelle und viertens gilt als Ziel der kreativen Handlung, die Möglichkeit, das bestehen-de Modell zu stürzen und ein neues Modell zu erfinden. Ein wesentlicher Moment der Kreativität ist, zusätzlich, die Über-raschung. Die Überraschung ist zentral im kreativen Moment und braucht das Menschliche gerade im universellen Sinne. Di-gitale Modelle zu identifizieren, die riskante Praxis des kri-tisch-skeptischen Problematisierens und Aufbrechens von die-sen Modellen sowie das ko-kreative Hervorbringen von neuen Modellen, die überraschend sind, ist die Kreativität des Digi-talen Humanismus, die das Individuelle durch Gemeinschaftli-ches, Gemeinsames und Kommunitäres verwirklicht.Eine weitere Eigenart des Menschen, die es braucht, wenn der Digitale Humanismus eine Zukunft haben soll, ist den digitalen Raum zu gestalten und zu besetzen. Der Digitale Humanismus drückt sich dann in einer Architektur des Di-gitalen aus. Es geht um die Beziehung des Menschen zu sei-nem digitalen Raum, welche die Architektur des Digitalen trägt. Es gilt digitale Grenzen und Schwellen zu Räumen zu überschreiten, die bislang dem Gottesdienst und der Intimi-tät, dem Wissen und seiner Weitergabe vorbehalten waren. Der Mensch als räumliches Wesen gestaltet und besetzt mit dem individuellen Sprechvermögen den digitalen Raum, so dass sogar Gottesdienste, Intimität sowie Wissen und dessen Weitergabe neue digitale Räumlichkeiten finden. Der Digita-le Humanismus wird in digitalen Räumen vollzogen, die von Nutzungen und von Praktiken geprägt sowie von symboli-schen und ästhetischen Bewertungen besetzt sind.Wenn der Digitale Humanismus eine Zukunft haben soll, ist es notwendig, dass wir menschliche*  Werte und Grenzen setzen, um die berechnende  Rationalität der digitalen Maschine zu bestimmen,*  Kreativität entfalten, um bestehende Modelle der  digitalen Maschine aufzubrechen und neue zu erfin-den, und*    aktive Gestaltung, Nutzung und Besetzung des digita-len Raums betreiben.Zentrale Erkenntnisse zur Conditio Humana, zum Menschlichen im Digitalen Humanismus sind erstens der Un-terschied zwischen der berechenbaren Rationalität der digi-talen Maschine und der Urteilskraft sowie Wertsetzung des Menschen. Der Mensch kann der berechenbaren Rationali-tät der digitalen Maschine durch das Setzen zentraler Wer-te und Urteile wiederum Grenzen aufweisen und die Ge-staltung digitaler Technologie vorantreiben. Dadurch werden bestehende Modelle digitaler Technologien begrenzt und ge-formt.  Zweitens ist es eine zentrale Erkenntnis des Digitalen Humanismus, dass die Conditio Humana des digitalen Zeit-alters in der Kreativität liegt. Technologische Modelle zu fin-den, die riskante Praxis des kritisch-skeptischen Problema-tisierens und Aufbrechens von diesen Modellen sowie das kreative Hervorbringen von neuen technologischen Model-len, die überraschend sind. Das ist die Kreativität des Digita-len Humanismus, die das Individuelle durch Gemeinschaftli-ches, Gemeinsames und Kommunitäres verwirklicht. Drittens ist es eine zentrale Erkenntnis des Digitalen Humanismus, dass der Mensch ein räumliches Wesen mit individuellem Sprech-vermögen im Sinne einer multimodalen Literarität ist. Diese Literarität liegt in symbolischen und materiellen Formen und im Besetzen und Gestalten von digitalen Räumen, welche als Architektur des Digitalen zum Ausdruck kommt.Dieses Menschliche brauchen wir für den Digitalen Hu-manismus. Damit wird jedoch gleichzeitig eine spezifische Problemstellung der Digitalisierung virulent. Dieses Mensch-liche kann nur ungleich eingelöst und vollzogen werden, weil die digitale Kluft viele Menschen aus dem digitalen Raum ausschließt und ihn damit für sie unzugänglich macht – vor al-lem in Bezug auf individuelles Sprechvermögen im digitalen Raum. Deswegen braucht ein Digitaler Humanismus einen digitalen Raum, der es ermöglicht, dass ALLE Menschen ihr Wesen im digitalen Raum autonom vollziehen können, Wer-te und Grenze setzen sowie Kreativität entfalten.ALEXANDER SCHMÖLZist Universitätsassistent am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien, Geschäftsführer des Österreichischen Instituts für  Berufsbildungsforschung (öibf) und Vorstand des Future Learning Labs der pädagogischen Hochschule Wien (PH Wien).


 28 | ZUKUNFT Claudia Ungersbäck (2020) untitled sculptiturityFine Art Print, 21.0 x 30.0 cm© Claudia UngersbäckLiteraturBarberi, Alessandro (2020, im Druck): Medienpädagogische Elemente einer Medie-nethik nach Dieter Baacke: Psychoanalyse, Sprachspiel und Diskursethik als Vor-aussetzungen eines digitalen Humanismus, Baden-Baden: Nomos, Autorenversion online unter: https://we.tl/t-8f Yub6gMvW (letzter Zugriff: 01.12.2020).Fromm, Erich (1980): Die Revolution der Hoffnung. Für eine Humanisierung der Technik, Reinbek: Rowohlt.Wiener Manifest für den Digitalen Humanismus (2019), online unter: https://tinyurl.com/y6aatkcy (letzter Zugriff: 01.12.2020).Dieser Beitrag ist eine Kurzfassung von: Schmoelz, Alexander (2020): Die Conditio Humana im digitalen Zeitalter. Zur Grundlegung des Digitalen Humanismus und des Wiener Manifests, in: MedienPädagogik. Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung, Nr. 20: 208–234, online unter:  https://www.medienpaed.com/article/view/1144 (letzter Zugriff: 01.12.2020).


 ZUKUNFT | 29 Claudia Ungersbäck (2020) untitled sculptiturityFine Art Print, 21.0 x 30.0 cm© Claudia UngersbäckCLAUDIA UNGERSBÄCK


 30 | ZUKUNFT 1Es ist schon fast dämmrig, als dir bewusst wird, dass du dich verlaufen hast. Dein Meister wird alles andere als glücklich sein, dass du ohne den Lehm zurückkommst, um den er dich ausgeschickt hatte. Wenn du überhaupt zurück-kommst, denn die Stadttore schließen kurz nach Sonnen-untergang. Noch dazu liegt dir der Nagel schwer in der Tasche. Dieser kunstvoll gefertigte Nagel, den du unbe-dingt haben wolltest, obwohl du dir mittlerweile nicht ein-mal mehr sicher bist, warum oder wofür. „Der Teufel soll mich holen, wenn ich diesen schönen Nagel nicht haben kann“, dachtest du dir, als du ihn dir in einem unbeobach-teten Moment in die Tasche gesteckt hattest. Wutschnau-bend hat der Meister nach diesem Nagel gesucht, konnte ihn aber nicht finden. Seinen Zorn hat er aber trotzdem an dir ausgelassen: hat mit „Martin Mux!“ nach dir gerufen – es ist nie ein gutes Zeichen, wenn er dich bei deinem vollen Namen anspricht – und dich alleine mit dem schweren Kar-ren Lehm holen geschickt.An dieser Eiche bist du nun schon unzählige Male vorbei-gegangen. Ohne Zweifel: du hast keine Ahnung, wo du bist oder wie du zurück nach Wien kommen sollst. Du siehst den mächtigen Stamm an, betrachtest dann den Nagel in deiner Hand. Gut möglich, dass du nur wegen dem dummen Ding hier in dieser misslichen Lage bist.Schlägst du den Nagel in den Baum ein?Es ist besser, du wirst den verfluchten Nagel los, mit dem das ganze Unglück erst angefangen hat. Mit ei-nem Stein schlägst du ihn bis zum Anschlag in den Stamm. Weiter bei Absatz 2Behältst du den Nagel?Vielleicht ist der Nagel an allem schuld, aber dann kannst du dieses schöne Stück zumindest behalten. Auf dass er dir ab jetzt vielleicht Glück bringe. Du schlägst ihn nicht in den Baum, sondern steckst ihn stattdessen schnell wieder in die Tasche. Weiter bei Absatz 22Ratlos setzt du dich unter die Eiche. Wer könnte dir jetzt noch helfen?„Grüß dich, Martin!“. Unvermittelt steht neben dir ein schmächtiger Mann. Durch die Dunkelheit kannst du sein Gesicht nicht erkennen. Du wunderst dich, woher der Frem-de deinen Namen kennt, aber er spricht einfach weiter. „Stumm vor Schreck? Oder ist es die Verzweiflung, die dir die Sprache verschlägt? Sei unbesorgt, ich kann dafür sorgen, dass du zurück nach Wien findest, einen Karren voll mit dem besten Lehm bei dir hast und obendrein ein besserer Schlosser als dein Meister wirst. Ich bin mir sicher, du willst nicht den Zorn deines Meisters und die damit verbundenen Prügel spü-ren?“ Du bist dir nicht sicher, was du darauf antworten soll-test. Woher kennt der Fremde auch noch deinen Auftrag und die Launen deines Meisters? Er scheint jedenfalls deine Ver-wunderung nicht zu bemerken, spricht einfach weiter: „Ich will als Gegenleistung nichts weiter von dir… bloß, dass du die heilige Messe nicht ein einziges Mal verpasst. Andern-falls…“, er dreht seinen Kopf und etwas Mondlicht fällt auf ein geschäftsmäßiges, aber durch und durch boshaftes Lächeln, „…werde ich deine Seele holen.“ Es ist der Leibhaftige!„Diese Bedingung kann ich locker einhalten.“  Weiter bei Absatz 4DER TEUFEL MUSS EIN WIENER SEIN VON SABRINA SCHMIDTDer Teufel muss ein Wiener seinSABRINA SCHMIDT Beitrag zeigt auf gleichermaßen spielerische wie anspruchsvolle Weise, wie sich Lesen und Lesever-ständnis mit Fragen von Medienkompetenz und Interaktivität verbunden sehen. Ihre verzweigt angelegte Geschichte bietet nicht nur eine Einladung zum Treffen verhängnisvoller Entscheidungen, sondern auch zur Auseinandersetzung mit Motiven der Wiener Sagenwelt …


 ZUKUNFT | 31 „Meine Seele für einen Karren Lehm? Sicherlich nicht!“ Weiter bei Absatz 63Der Teufel legt den Kopf schief und grinst dich hämisch an. „Ich glaube, du hast nicht verstanden. Du musst dich ent-scheiden und darauf achten, wo es weitergeht. Nicht einfach weiterlesen. Oder du brichst gerade absichtlich die Regeln, dann kann ich dir schon jetzt sagen, dass du so keine Freude haben wirst.“4„Ausgezeichnet, es ist also abgemacht.“ Der eigenartige Mann verschwindet genauso schnell, wie er aufgetaucht ist. Auf wundersame Weise findest du ohne Probleme den Weg zurück in die Stadt und dein Meister ist mit dem Lehm sehr zufrieden; alles verläuft wie versprochen und du bekommst keine Prügel. Schon am nächsten Tag steht der Mann aus dem Wald bei euch in der Schmiede und verlangt nach einem überaus kunstvollen Schloss. Als weder dein Meister noch die Gesellen sich eine solche Arbeit zutrauen, schimpft der Mann, den du schon als Teufel kennst, und behauptet, dass selbst du diese Arbeit erledigen könntest. Dein Meister sichert dir den sofortigen Gesellenstatus zu, solltest du das schaffen, und tatsächlich, wie von Zauberhand gelingt dir das schönste Schloss, das je diese Schmiede verlassen hat. Zufrieden nimmt es der Teufel an sich und hängt es an einen Reifen, den er um die Eiche legt, bei der ihr euch zum ersten Mal begegnet seid. Die Kunstfertigkeit des Schlosses spricht sich herum und schon bald bist du zu einem erfolgreichen Schlossermeister geworden, den jeder in der Stadt kennt.Den Pakt mit dem Teufel vergisst du jedoch nie; kein ein-ziges Mal verpasst du in all den Jahren die Messe am Sonn-tag. Was du dir allerdings zur Angewohnheit gemacht hast, ist mit deinen Freunden vor der Messe ein Gläschen zu trin-ken, das erheitert das Gemüt und mildert ein wenig deine Sorgen um deine Seele. An einem dieser Sonntage triffst du auf dem Weg zur Messe eine junge, hübsche Dame. Du hast sie noch nie gesehen, vermutlich ist sie neu in der Stadt. Sie erwidert deinen Blick und spricht dich mit einem süßlichen Lächeln an: „Ah, du siehst so aus, als würdest du dich hier auskennen. Ich suche ein Wirtshaus, in dem guter Wein aus-geschenkt wird. Wie wär’s, vielleicht möchtest du mich zu ei-nem Getränk begleiten?“„Ich weiß wo der beste Wein ausgeschenkt wird, komm!“ Weiter bei Absatz 5„Es tut mir Leid, ich bin gerade am Weg zur Mes-se.“ Weiter bei Absatz 105Du würdest es eigentlich noch rechtzeitig zur Messe schaf-fen, aber bei dieser Gesellschaft und dem guten Wein vergisst du auf die Zeit. Als du die Kirchenglocken mittag schlagen hörst, kommt dir eiskalt die Erinnerung an die verpasste Mes-se, aber es ist zu spät. Du siehst deine Begleitung an, sie lächelt dir zu, aber ihr Lächeln ist plötzlich nicht mehr freundlich, sondern boshaft und schadenfroh. Ihre Schönheit schmilzt dahin und ihr Gesicht formt sich zu dem des Teufels. „So so. Das Verlangen ist nun also dein Verhängnis. Wie überaus menschlich.“ Weiter bei Absatz 226„Wie du meinst. Ich habe es nicht eilig“, entgegnet der Teufel sachlich.Am nächsten Morgen findest du dank Tageslicht wie-der zurück in die Stadt und in die Schmiede, wo dich dein Meister wutschnaubend erwartet. Die Schuld am ver-schwundenen Nagel kann er dir zwar nach wie vor nicht nachweisen, aber deine Verspätung und der leere Lehmkar-ren ist ihm Vorwand genug, dich aus Haus und Schmiede zu werfen.Ohne viel Hoffnung machst du dich auf die Suche nach einem neuen Lehrplatz. Aber du hast Glück; ein gutherziger Baumeister nimmt dich auf, sagt, er könne für den Bau des Stephansdoms jede helfende Hand gebrauchen. Da du schon eine gescheiterte Lehre hinter dir hast, strengst du dich nun ganz besonders an und wirst schon bald zu einem Muster-schüler und später auch Baumeister. Natürlich bist du nicht so erfolgreich, wie du es als Schlosser mit der Hilfe des Teufels gewesen wärest, aber du kannst gut von deinem Handwerk leben und mit etwas Glück hoffentlich bald um die Hand der hübschen Maria freien, die du schon lange aus der Fer-ne liebst. Als dein früherer Lehrmeister in den Ruhestand treten will, schlägt er dem Stadtrat vor, dir die Verantwortung für die Vollendung des Stephansdoms zu übertragen. Du denkst 


 32 | ZUKUNFT DER TEUFEL MUSS EIN WIENER SEIN VON SABRINA SCHMIDTan Maria und den Ruhm, der dich als Baumeister und Fertig-steller des Stephansdoms erwartet. Begierig darauf, den Stadt-rat zu überzeugen, behauptest du, den Dom in der Hälfte der vorgegeben Zeit vollenden zu können. Du bekommst den Auftrag. Um für die Planung einen klaren Kopf zu haben, machst du einen Spaziergang und stehst unverhofft vor dersel-ben Eiche, zu der du dich damals verirrt hattest.Wenn du den ersten Nagel eingeschlagen hast: Schlägst du einen weiteren Nagel ein?Auf dass er Glück bringe, schlägst du direkt neben dem ersten Nagel einen weiteren ein. Weiter bei Absatz 7Versuchst du, den ersten Nagel herauszuziehen?Du versuchst, den kunstvollen Nagel, mit dem alles be-gonnen hat, herauszuziehen, aber er sitzt so fest, als ob ihn der Teufel selbst eingeschlagen hätte. Weiter bei Absatz 7Wenn du den ersten Nagel behalten hast: Schlägst du den glückbringenden Nagel in den Baum?Dein Leben als Schlosserlehrling wirkt nach all der Zeit so fern für dich. Du hast den Nagel zwar lange behalten, schlägst ihn aber nun doch ein. Weiter bei Absatz 7Behältst du den kunstvollen Nagel weiterhin? Wie schon vor langer Zeit überlegst du, den Nagel in die Eiche zu schlagen. Schließlich möchtest du ihn aber be-halten und wendest ihn stattdessen nervös in deiner Tasche.   Weiter bei Absatz 77Du kehrst zur Baustelle, die nun in deiner Verantwortung liegt, zurück und in den folgenden Monaten schreitet der Bau gut voran und – du kannst dein Glück kaum fassen – bald dar-auf bist du mit Maria verlobt. Wie es aber nun mal so ist, ver-zögert sich der Bau zusehends und es sieht nicht so aus, als ob der zweite Turm, der letzte fehlende Teil, in der Frist fertig würde. Was tun? Die Ehre deiner noch am Anfang stehenden Laufbahn als Baumeister wäre dahin, eine Heirat mit Maria ausgeschlossen. Eines Abends, als du auf der Baustelle stehst und über dein Dilemma nachdenkst, steht plötzlich jemand neben dir. Es ist lange her, dass du ihn zuletzt gesehen hast, aber dieses Grinsen hast du nie vergessen. „Läuft nicht ganz so wie es soll, hm? Ach, schau nicht so, ich hab meine Finger nicht im Spiel. Dinge gehen von alleine schief, dazu braucht es nicht erst den Teufel. Im Gegenteil, ich kann dir bieten, das alles wieder gerade zu rücken. Du darfst während der Bauzeit nur nie den Namen des Erlösers oder der heiligen Jungfrau sa-gen. Andernfalls… nun, du kennst den Preis bereits.“„Bitte, ich tue alles, für die Heirat mit meiner Ver-lobten!“ Weiter bei Absatz 8„Ich habe es dir einmal gesagt und sage es jetzt noch einmal: meine Seele kriegst du nicht!“  Weiter bei Absatz 118„Das dachte ich mir. So soll es sein!“Nach deinem Pakt mit dem Teufel geht der Bau gut vo-ran, unheimlich gut, und die entstandene Verspätung ist bald aufgeholt. Wie die Frist neigt sich auch der Bau dem Ende zu und die Planung für deine Hochzeit mit Maria ist schon in vollem Gange. Jeden Tag, den du auf der Baustelle verbringst, hältst du Ausschau nach deiner Verlobten. Du hast sie schon oft über den Stephansplatz gehen sehen und bist immer zu ihr geeilt, um ein paar liebe Worte mit ihr zu wechseln. Eines Ta-ges jedoch, du bist gerade oben beim unvollendeten Turm, siehst du sie wieder über den Stephansplatz gehen, in Gedan-ken. Um die Ecke kommt eine Pferdekutsche gerast, Maria aber sieht nicht auf.„Maria!!“ Weiter bei Absatz 9„Achtung!“ Weiter bei Absatz 169Auf den Teufelspakt vergessend rufst du den Namen dei-ner Verlobten vom Turm herunter. Sie sieht zu dir auf, bleibt stehen und die Kutsche rast an ihr vorbei, haarscharf. Du willst über die Leiter zu deiner Verlobten hinunterklettern, aber als du dich umdrehst, steht vor dir der Teufel, auf ei-nem filigranen Gewölbe balancierend als hätte er weniger Ge-wicht als ein Blatt. Er grinst dich böse an. „Die Liebe ist es also, die dich ins Verderben stürzt… wie nobel.“ Er packt dich und gemeinsam verschwindet ihr in einer Explosion, die den Turm, der nun nie vollendet werden wird, einstürzen lässt.  Weiter bei Absatz 2210Du eilst zur Messe und bist gerade pünktlich. Dennoch, die junge Frau und die verpasste Gelegenheit, mit ihr einige 


 ZUKUNFT | 33 Gläser Wein zu trinken gehen dir nicht mehr aus dem Kopf. In der Hoffnung, dass du sie wieder triffst, wartest du ein ums andere Mal im Wirtshaus, immer die Tür im Blick. In deiner einst sehr erfolgreichen Schmiede verbringst du nur noch so viel Zeit, wie gerade notwendig. Der viele Wein lässt dich je-doch dein Gefühl für Geld sowie dein Geld selbst und schließ-lich auch die Schmiede verlieren und bald schon gehst du am Bettelstock. Weiter bei Absatz 1211Du lehnst die Hilfe des Teufels abermals ab und vollen-dest den Bau aus eigenen Kräften, allerdings weit über die Frist hinaus. Die erhoffte großzügige Entlohnung und der Ruhm bleiben aus, die Heirat mit Maria ist abgesagt. Eini-ge Zeit bringt dich dein Erspartes noch über die Runden – da aber die ganze Stadt von deinem Scheitern weiß, ge-lingt es dir nicht, neue Aufträge heranzuschaffen. Auch mit deinem jetzt sehr sparsamen Leben dauert es nicht all-zu lange, bis du dich als Bettler auf der Straße wiederfindest.  Weiter bei Absatz 1212Du bist nun auf die Almosen anderer Menschen angewie-sen, die meist eher spärlich ausfallen. Teils aus purer Ratlosig-keit und teils in der Hoffnung auf – nun, worauf eigentlich? – machst du dich auf einen Spaziergang in den Wald und bist wieder bei derselben Eiche, vor der du schon einmal in einer aussichtslosen Situation gestanden bist. Wenn du den ersten Nagel eingeschlagen hast: Schlägst du einen weiteren Nagel ein?Auf dass er Glück bringe, schlägst du direkt neben dem ersten Nagel einen weiteren ein. Weiter bei Absatz 13Versuchst du, den ersten Nagel herauszuziehen? Du versuchst, den kunstvollen Nagel, mit dem alles be-gonnen hat, herauszuziehen, aber er sitzt so fest, als ob ihn der Teufel selbst eingeschlagen hätte. Weiter bei Absatz 13Wenn du den ersten Nagel behalten hast:Schlägst du den glückbringenden Nagel in den Baum? Dein Leben als Schmiedelehrling wirkt nach all der Zeit so fern für dich. Du hast den Nagel zwar lange behalten, schlägst ihn aber nun doch ein. Weiter bei Absatz 13Behältst du den kunstvollen Nagel weiterhin? Wie schon vor langer Zeit überlegst du, den Nagel in die Eiche zu schlagen. Schließlich möchtest du ihn aber be-halten und wendest ihn stattdessen nervös in deiner Tasche.  Weiter bei Absatz 1313Als hättest du ihn gerufen, erscheint dir abermals der Teu-fel, grinsend natürlich.„Ich könnte dir ja vorwerfen, dass mein letztes Angebot an dich nur vergeudete Mühe war. Aber anders als andere… Mächte, bin ich nicht nachtragend. Schau, ich habe hier et-was für dich“, er reicht dir eine Raspel, vom Aussehen her ge-wöhnlich. „Immer wenn du dir mit dieser Raspel über den Mund fährst und dabei ,Schabdenrüssel‘ sagst, fällt eine Gold-münze zu Boden. Damit nicht genug, fährt sie mit demselben Zauberwort einem jeden anderen über den Mund, dass ihm Hören und Sehen vergeht. Deine Situation ist heikel, also lass uns endlich ins Geschäft kommen: sieben Jahre lang sollst du soviel Gold haben, wie du raspeln kannst, und danach ist dei-ne Seele mein.“ Du denkst noch nach, ob jetzt wohl der Tag gekommen sei, an dem du deine Seele an den Teufel verkaufst, aber als du aufsiehst, ist er verschwunden.„In sieben Jahren fällt mir bestimmt etwas ein.“  Weiter bei Absatz 14„Diese blöde Raspel kann er sich behalten.“ Weiter bei Absatz 1714In den folgenden Jahren fährst du dir oft mit der Raspel über den Mund. Langsam häufst du einen gewissen Reich-tum an und gehörst zu den noblen Leuten der Stadt. Wer immer dich darauf hinweist, dass man mit diesem wunden und verschorften Mund kein feiner Herr sein kann, be-kommt von dir mit deiner Raspel eine Lektion erteilt. So bringst du die sieben Jahre gut herum und lebst zufrieden und wohlhabend.Du denkst mittlerweile nur mehr sehr selten an die Abma-chung, aber pünktlich nach Ablauf des siebten Jahres steht der Teufel vor dir. „Sieben Jahre Saus und Braus, Martin. Aber jetzt ist es Zeit. Ein Pakt ist ein Pakt.“ 


 34 | ZUKUNFT DER TEUFEL MUSS EIN WIENER SEIN VON SABRINA SCHMIDT„Schabdenrüssel“ Weiter bei Absatz 18„Ein Pakt ist ein Pakt“ Weiter bei Absatz 1515Sein immerwährendes Grinsen drückt nun auch Zufrie-denheit aus. „So, die Völlerei ist es also, die dir ein Ende berei-tet. Du kannst zufrieden sein, zumindest hast du dein irdisches Leben ausgekostet.“ Der Teufel packt dich und verschwindet mit dir in einer Rauchwolke, deinen angehäuften Reichtum zurücklassend. Weiter bei Absatz 2216Du erinnerst dich an den Pakt mit dem Teufel und hältst dich zurück, Marias Namen über den Stephansplatz zu rufen. Auf deine Rufe nach Vorsicht reagieren aber nur einige der Menschen, die auf der Baustelle arbeiten und Maria wird von der Kutsche erfasst.Der Bau des Stephansdoms geht in den folgenden Mona-ten erfolgreich und pünktlich zu Ende. Der Tod deiner Ver-lobten, den du mitansehen musstest, geht dir aber nicht einen Moment aus dem Kopf und du findest am fertigen Dom keine Freude. Der zufriedene Bauherr entlohnt dich fürstlich und mit deinem so entstandenen Wohlstand verhüllst du deinen Kummer in edle Stoffe und interessierst dich für kaum mehr etwas anderes als Äußerlichkeiten. Weiter bei Absatz 1917Am Rückweg in die Stadt bist du immer noch verär-gert darüber, dass dich der Teufel nicht einfach in Ruhe las-sen kann. Eine Bettlerin, der du begegnest, erwidert deinen Blick. Du nickst ihr zu, bestimmt hat das Leben sie ähnlich hart erwischt wie dich. Sie winkt dich heran. „Die Welt hat es nicht gut gemeint mit uns beiden, wie? Schau, der Zu-fall hat mir ein besonders feines Gewand in die Hände ge-spielt. Weil es dir ebenso schlecht geht wie mir, will ich es dir gerne für drei Tage überlassen, damit du noch einmal das schöne Leben kosten kannst. Du brauchst mir dafür nichts zahlen, ich will bloß das, was das Gewand am dritten Abend bedeckt.“ Du überlegst kurz, ihr Angebot höflich auszuschla-gen, aber die Erinnerung an bessere Tage lässt dich das Ge-wand anziehen. Die Alte jubelt und nennt dich königlich.  Weiter bei Absatz 2018Du sagst das Zauberwort schon fast aus Gewohnheit, aber wie immer verfehlt es seine Wirkung nicht. Der Teufel war sich deiner Seele wohl schon so sicher und hat nicht daran ge-dacht, sich selbst vom Effekt der Raspel auszunehmen. Jam-mernd versucht er, auszuweichen und verspricht dir schließ-lich, von der Einlösung des Pakts abzusehen und dir die Raspel ohne Gegenleistung zu überlassen. Er verschwindet schließlich in einer Rauchwolke, bitterböse. Nun hält dich nichts mehr davon ab, deinen Reichtum auszukosten und bald wirst du zu einem der reichsten und bestgekleidetsten Män-ner der Stadt. Die schönen Gewänder schmeicheln deiner Ei-telkeit und bald verbringst du mehr Zeit mit dem Aussuchen von Stoffen als mit irgendetwas sonst, auch die Raspel liegt bald unbeachtet in einer Lade. Weiter bei Absatz 1919Deine Eitelkeit nimmt dich mehr und mehr ein. Als du einmal an einem goldverzierten Bildnis Jesu vorbeigehst, spot-test du darüber, dass im Vergleich zu deiner Kleidung selbst das schönste seiner Gewänder Lumpen wären. Kurz war es dir, als würde er empört und auch mitleidig sein Gesicht zur Seite wenden, aber es war nur ein flackernder Schatten. Du bist ständig auf der Suche nach immer schöneren Gewändern. Eines Abends steht eine Bettlerin vor deiner Türe, die sich nicht wie das übliche Lumpenpack fortjagen lässt. „Sieh dir nur an, was ich dir anzubieten habe! In meinem Korb habe ich kostbare Kleidung, schöner als die eines jeden Königs.“ Du versuchst, an Schatten und Kapuze vorbei in ihr Gesicht zu sehen, aber das Gewand, das sie vor dir ausbreitet, nimmt deinen Blick sofort gefangen. Überirdisch, wie aus Samt und Seide zugleich, mit Gold und Edelsteinen verziert, sodass es gleichsam die Farben eines Sonnenuntergangs mit denen eines Regenbogens und dem Flimmern von Sternen vereint. Noch nie hast du ein solches Gewand gesehen. „Ich muss es ha-ben!“, rufst du aus und läufst sofort, um ihr dafür so viel Gold zu geben, wie sie nur tragen kann. Aber die Alte hält dich zu-rück. „Keine Eile, mein Lieber. Ich will dir das Gewand ger-ne so überlassen. Jedoch soll das, was am dritten Tage davon bedeckt ist, dem Teufel gehören.“ Du bist immer noch ge-blendet von der Schönheit der Kleidung, die nun die deine sein soll, und denkst nicht weiter über das verwirrte Gefasel der alten Bettlerin nach. Du bist dem Teufel nun schon so oft in diesem Leben entkommen – was weiß eine alte Bettlerin 


 ZUKUNFT | 35 schon davon? Weiter bei Absatz 2020Drei Tage lang lässt du dich in deinem neuen Gewand an den feinsten Orten der Stadt blicken und wirst von allen Sei-ten bewundert. Am Abend des dritten Tages, als sich deine Augen langsam an das Strahlen des Stoffes gewöhnt haben, denkst du etwas genauer über die Worte der Alten nach und dir wird langsam unheimlich zumute.Du kehrst zu jenem Baum zurück, bei dem damals alles begann und versuchst, einen ruhigen Gedanken zu fassen.Wenn du den ersten Nagel eingeschlagen hast:Schlägst du einen weiteren Nagel ein?Auf dass er Glück bringe, schlägst du direkt neben dem ersten Nagel einen weiteren ein. Weiter bei Absatz 21Versuchst du, den ersten Nagel herauszuziehen? Du versuchst, den kunstvollen Nagel, mit dem alles be-gonnen hat, herauszuziehen, aber er sitzt so fest, als ob ihn der Teufel selbst eingeschlagen hätte. Weiter bei Absatz 21Wenn du den ersten Nagel behalten hast:Schlägst du den glückbringenden Nagel in den Baum?Dein Leben als Schmiedelehrling wirkt nach all der Zeit so fern für dich. Du hast den Nagel zwar lange behalten, schlägst ihn aber nun doch ein. Weiter bei Absatz 21Behältst du den kunstvollen Nagel weiterhin?Wie schon vor langer Zeit überlegst du, den Nagel in die Eiche zu schlagen. Schließlich möchtest du ihn aber be-halten und wendest ihn stattdessen nervös in deiner Tasche.  Weiter bei Absatz 2121Du begibst dich zurück in die Stadt, aber je weiter der Abend voranschreitet, desto nervöser wirst du. Als du ver-suchst, das Gewand abzulegen, musst du feststellen, dass es wie festgegossen sitzt und du es weder ausziehen noch zerrei-ßen kannst. Die Kirchenglocke schlägt Mitternacht und vor dir steht die Bettlerin, die zurückgeschlagene Kapuze offen-bart ein hämisches Gesicht mit einem bösen Grinsen, das dir nur zu gut bekannt ist. „Die Eitelkeit ist also dein Verhängnis. Die vielleicht menschlichste aller Eigenschaften, dass ich nicht sofort daran gedacht habe …“ Der Teufel geht auf dich zu, wird dabei mit jedem Schritt größer und das Äußere der al-ten, schwachen Frau schmilzt dahin. Sowie er bei dir ist, reißt er das wunderschöne Gewand in Fetzen, packt dich und ver-schwindet mit dir in einer Rauchwolke. Weiter bei Absatz 2222Plötzlich siehst du dich, zusammen mit dem Teufel, vor der Eiche stehen, unter der du ihn das erste Mal sahst, als er dir vor langer Zeit einen Pakt anbot. Er weist auf den Baum: „Sieh, dereinst wird dieser Baum hier als der ,Stock im Eisen‘ bekannt werden, wo Meister Martin Mux seine Seele an den Teufel verloren hat.“Hast du den glückbringenden Nagel immer noch in der Tasche: Der Teufel hält den Nagel plötzlich in der Hand und wirft ihn einige Male in die Luft. „Menschen sind so töricht, halten sich an Gegenständen fest und sind den Mächten dieser Welt doch hilflos ausgeliefert“ Mühelos schlägt er mit einem Faust-hieb den Nagel in den Baum. Weiter bei Absatz 23Hast du mindestens einen Nagel in den Baum eingeschlagen: Der Teufel zeigt auf den kunstvoll gefertigten Nagel – „Du hast dein Schicksal schon geahnt, als du den ersten Nagel hier eingeschlagen hast, nicht?“ Weiter bei Absatz 2323„Hatte ich jemals eine Wahl?“„Über deinen Tod? Nein. Über dein Leben? Ja.“In der mächtigen Eiche tut sich mit einem gewaltigen Donnern ein Tor zur Hölle auf. Der Teufel schlägt seine Klauen in deine Schultern und zieht dich durch den Baum hinab ins ewige Feuer. Den Spalt verschließt er mit mächti-gen Eisenbändern, die kein Schlosser jemals fähig sein wird, zu entfernen.SABRINA SCHMIDTlebt in Wien, arbeitet und forscht in den Bereichen Literaturwissen-schaft, Game Writing und Interacive Storytelling. Sie bereitet derzeit die Veröffentlichung einer Studie zu Agency und Computerspielen vor.


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 ZUKUNFT | 37 CLAUDIA UNGERSBÄCKClaudia Ungersbäck (2020) Circle IgmfFine Art Print, 21.0 x 30.0 cm© Claudia Ungersbäck


 38 | ZUKUNFT POLITIKEN DES ERZÄHLENS VON THOMAS BALLHAUSENPolitiken des ErzählensDer Beitrag von THOMAS BALLHAUSEN rekapituliert die Geschichte des Mediums Comic anhand des jüngst wieder erschienenen Frühwerks von Moebius, dessen Bücher für viele Fans Kultstatus besitzen.O.Rund um das historische Schlüsseljahr 1968 leben junge Comic-Künstler*innen Medienkompetenz als Aufstand, An-eignung und Emanzipation. Durch ihr selbstbestimmtes Auf-begehren revolutionieren sie von Europa aus nicht nur die internationale Comic-Szene, sondern auch erzählerische For-men und zeichnerische Möglichkeiten. Im Zentrum die-ser Entwicklungen steht Moebius, ein Künstler, der bereits mit seinem – nun auch in deutscher Sprache unter dem Titel Opus wieder zugänglichen – Frühwerk Bekanntheit erlangte.1.Moebius ist durch sein unverwechselbares und vielfäl-tiges Werk gleichermaßen in der Comicszene, im Kunstbe-trieb und im Film als Größe etabliert. Bedeutung hat er aber auch als Vorreiter einer künstlerischen Praxis im Kontext der (gesellschaftlichen, ideengeschichtlichen, künstlerischen usw.) Umbrüche um 1968. Ein besonders deutliches Zeichen hier-für ist sicherlich seine Rolle als Mitbegründer des Verlages Les Humanoïdes Associés und der damit verbundenen einflussrei-chen Zeitschrift Métal Hurlant. Durch seine dort unter diver-sen Pseudonymen (nachgewiesene Schreibweisen: Moebius, Mœbis, Gir, Gyr) publizierten, wegweisenden phantastischen Comics – seien es nun kurze Formen oder Fortsetzungs-Er-zählungen – hat er aber nicht nur diese Publikation, sondern auch das mittlerweile breit akzeptierte und anerkannte Medi-um Comic generell geprägt.Jean Giraud (1938–2012), so der bürgerliche Name von Moebius, liebt das Wechseln von Identitäten und Masken. Begründet liegt das auf hohem Niveau angesiedelte Versteck-spiel mit den Leser*innen nicht zuletzt in der Biografie des Künstlers. Schon in jungen Jahren reist er etwa nach Mexi-ko oder Algerien und macht die Erfahrung der Wüste, die sich in sein Werk als überaus lebendige, von Details bestimm-te Landschaft einschreibt. In dieser Umgebung findet er zum zeichnerischen Ausdruck einer klaren einfachen Linie. Die Wüste, die sowohl für Gir(aud) als auch für Moebius Gül-tigkeit und Wert hat, ist in seinen Werken immer präsent – sei es in Gestalt des Alls und in Form urbaner Höllen in den SF-Arbeiten oder den endlos scheinenden Hintergründen der Western-Comics.Es ist, so Andreas Platthaus, die Vielfältigkeit dieser Leere, in der auch die Möglichkeit zur Multiplizierung der Künstler-Persönlichkeit verborgen liegt. Die Aufspaltung der künstle-rischen Identitäten war nicht mehr aufzuhalten und im Alter von zwanzig Jahren war auch die Wahl des so überaus pas-senden Namens getroffen. Platthaus hierzu: „Das Möbiusband habe ihn seinerzeit fasziniert, jene unendliche Schleife ohne Außen- und Innenseite, deren Form Möbius beschrieben hat-te. Was für eine grandiose Metapher für eine Doppelexistenz! Die Wahl des Pseudonyms bewies bereits den Anspruch, den dieser Zeichner an sich selbst stellte. Es sollte keine Abgren-MOEBIUS OPUS BIELEFELD: SPLITTER448 Seiten | € 399,00ISBN: 978-3962191832Erscheinungstermin: Oktober 2018


 ZUKUNFT | 39 zung zwischen der bürgerlichen und der künstlerischen Exis-tenz geben, beides vielmehr ineinander spielen und ununter-scheidbar verbunden sein.“2.Mit Unterstützung von Altmeister Jijé, bei dem Giraud ab 1962 als Assistent tätig ist und der ihn auch zur Zeitschrift Pilote weiterempfiehlt, veröffentlicht er eine erste Kurzge-schichte unter dem Pseudonym Gir. Doch das darauffolgen-de Jahrzehnt rückt dieses stark am Phantastischen orientierte Schaffen aber hinter die Arbeiten als Giraud zurück – bis 1973 schließlich die Umkehrung der Situation eintritt. Hierfür sind auch die publizistischen Kontexte des historischen Berichts-zeitraums zu berücksichtigen: Die 1959 von René Goscinny und Michel Charlier gegründete Zeitschrift Pilote war Anfang der 1970er Jahre zwar immer noch das zentrale Medium für etablierte und jüngere Comic-Künstler*innen, letztere rangen aber, nicht zuletzt beeinflusst von den Underground-Zeit-schriften aus den Vereinigten Staaten, um neue ästhetische Formen und Erzählweisen. Die Auswirkungen und Bemü-hungen der US-amerikanischen Kolleg*innen konnten auch auf dem Kontinent nicht unbemerkt oder gar folgenlos blei-ben: So ist etwa die Zeitschrift Hara-Kiri (1960–1985) sowohl in inhaltlicher wie auch in formaler Hinsicht dem beliebten Magazin MAD nachempfunden. Die Lösung von einem natu-ralistischen Zeichenstil und der Verpflichtung zum linearen Erzählen geht dabei u. a. mit der zunehmenden Bedeutung des Phantastischen im Medium Comic einher.1973 publiziert Giraud die Kurzgeschichte La déviation, die titelspendende Umleitung führt den Autor als Protagonisten in ein verkehrtes Wunderland. Ab dieser Arbeit beginnt Giraud ebenjene Vorgaben, denen er die Jahre zuvor verpflichtet ge-wesen war, verstärkt kritisch zu befragen, zu erweitern oder auch zu unterlaufen. Die kreative Unterminierung normier-ter Spielregeln war nur dem Grundsatz untergeordnet, in allen Werken die Verschränkung des Comics mit anderen Medien- und Kunstformen zu betreiben, ohne die medialen Eigenschaf-ten desselben zu beeinträchtigen oder gar zu vernachlässigen. Nach dieser ersten dezidiert autobiografisch bzw. autofiktional gefärbten Arbeit – der bis zur Publikation von Fumetti, das eine Form von später Klammer dazu darstellt, eine Flut von Skiz-zenbüchern folgt – veröffentlicht er im Folgejahr mehrere SF-Kurzgeschichten: In L’homme, est-il bon? wird die Frage, wie gut der Mensch sei, wortwörtlich genommen, wenn sich ein einsamer Raumfahrer einer hungrigen Meute fremder Wesen gegenübersieht; in Cauchemar blanc entfaltet sich der Alptraum in Weiß, so die Übersetzung, als durchaus gewalterfüllte Refle-xion gesellschaftlicher Zustände; und mit Le banard fou legt er eine umfangreiche Story vor, die das Moebius-Debüt-Album abgibt und zugleich auch die erste eigenständige Veröffentli-chung des Verlags Les Humanoïdes Associés ist.3.In dieser ästhetischen Aufbruchsstimmung kommt es zur Gründung zahlreicher Zeitschriften in denen die neuen Co-mics ihre Foren finden sollten. So entsteht neben L’Écho des Savanes (ab 1972) und Fluide Glacial (ab 1975) auch die wohl bedeutendste dieser Publikationen, Métal Hurlant. Begründet 1975 von der als Verlag agierenden Gruppe Les Humanoïdes Associés – der neben Philippe Druillet, Jean-Pierre Dionnet und Bernard Farkas auch Moebius angehört – sollte in dieser Zeitschrift, deren Namen auf den Comiczeichner Nikita Ma-dryka zurückgeht, der notwendige Platz für Neuerungen und Experimente vorhanden sein, die in Pilote keine Heimat fin-den können oder wollen. Zuerst im dreimonatigen Rhyth-mus, später dann in monatlichem Takt bieten die Verantwort-lichen anspruchsvolle Comics, die „réservé aux adultes“ – so der wiederkehrende Hinweis auf dem jeweiligen Cover – sind. Mit dieser Zeitschrift, die auch US-amerikanischen Zeichnern wie Richard Corben zu einer europäischen Leser*innenschaft verhilft, soll u.  a. auch ein neues Zeichenprinzip, das „au-tomatische Zeichnen“, dem eine Adaption des surrealisti-schen „automatischen Schreibens“ zugrunde liegt, vorgestellt werden. Insbesondere Moebius’ frühe Arbeiten – die Métal Hurlant über den gesamten, durchaus auch von Turbulenzen durchzogenen Erscheinungszeitraum programmatisch wesent-lich (mit-)prägen – profitieren von diesen Versuchen.JODOROWSKY – MOEBIUSTHE INCALLos Angeles: Humanoids316 Seiten | € 34,70ISBN: 978-1594650932Erscheinungstermin:  September 2014


 40 | ZUKUNFT POLITIKEN DES ERZÄHLENS VON THOMAS BALLHAUSEN1976 erscheinen schließlich zwei seiner Kurzgeschich-ten, die einen wahren Boom auslösen: Arzach, ein legendär-er Fantasy-Beitrag, der gänzlich ohne Dialoge auskommt und sich voll auf die Vermittlung der Atmosphäre verlegt; und der nach einem Text von Dan O’Bannon gezeichnete SF-Krimi The Long Tomorrow. Beide Veröffentlichungen, nicht zuletzt spannend auch aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit, gelten im-mer noch als Genreklassiker. Gleiches gilt auch für die Fort-setzungsgeschichten  L’Incal, deren fulminanter Auftakt 1980 unter dem Titel Une aventure de John Difool veröffentlicht wird, und die ab 1976 publizierte Le garage hermétique de Jerry Corne-lius. In einem Interview aus 1991 nach dem Potential des Me-diums Comic befragt, antwortet Moebius unter direkter Be-zugnahme auf ebendieses Werk: „Wenn ich eine Geschichte wie die Hermetische Garage mache, versuche ich mich dabei in einen Zustand des reinen Amüsements zu versetzen. Alles soll Entspannung sein. Alles ist erlaubt, nichts zu töricht. Es ist ein Spiel mit mir selbst, aber auch eines mit den Lesern.“ Die Her-metische Garage (erstmals 1976–1980), entspricht ganz genau dem poetologischen Duktus, der sich aus Moebius’ Aussage ableiten lässt. Abseits aller erzählerischer und darstellerischer Konventionen entwickelt er in dieser Arbeit eine Verweige-rungshaltung der produktiven Paradoxien und der extremen Leseanforderungen: Oberflächlich wie eine Science-Fiction-Story in Fortsetzungsmanier gestaltet, in der sich auch zahlrei-che architektonische Verspieltheiten nachweisen lassen, bricht Moebius auf jeder nur denkbaren strukturell-formalen Ebene mit den Erwartungshaltungen seines Publikums. Die Aufein-anderfolge von Sequenzen scheint willkürlich, vermeintlich erläuternde Textkästen tragen nur zur weiteren Verwirrung und Verkomplizierung der Handlung bei, Zusammenfas-sungen bieten Informationen zu Begebenheiten, die in den vorausgegangenen Seiten des Werks schlicht nicht zu sehen waren. 4.Entsprechend liest sich auch die versuchsweise Inhaltsan-gabe, die, hier ist sich die Forschungsliteratur einig, immer nur ungenügende Skizze bleiben kann: Major Grubert be-wohnt, ganz dem Gestus der literarischen Utopie verpflich-tet, auf dem Asteroiden Fleur ein privates Universum. Sein Techniker Barnier beschädigt unabsichtlich eine dort be-findliche Maschine, flüchtet und bringt in Erfahrung, dass Grubert das Geheimnis der Unsterblichkeit besitzt. Parallel dazu ermittelt Grubert gegen Jerry Cornelius – eine genia-le Entlehnung aus dem Erzähluniversum des Briten Micha-el Moorcock – mit dem er sich erst gegen Ende der Hand-lung zu versöhnen scheint. Unterdessen sucht die Figur Dalxtré nach Eric, dem Bruder des mysteriösen Corneli-us, und durchwandert dabei zahlreiche Welten. Die durch einen Flugzeugabschuss ausgelöste Zerstörung Fleurs treibt die Hauptfiguren schließlich zu einer Begegnung mit dem Überwesen Bakelit – „le maître de la vie et de la mort“, wie es im Original so schön heißt – dessen Anwesenheit erst durch den erwähnten, ursprünglichen Maschinenscha-den ermöglicht wird. Grubert, der sich bedroht sieht, flüch-tet nun seinerseits – und dies ist als Auflösung nicht we-niger fordernd, sowie die gesamte Handlung an sich – in unsere Realität. Die Pariser Metro ist die in diesem Comic letzte Station des elusiven Grubert, den Moebius schon in früheren Arbeiten als vielschichtigen, widersprüchlichen Raum-Wanderer etabliert hat. Die Hermetik dieser spezi-fischen  Garage scheint also mit diesem Finale zumindest in Teilen aufgehoben; das Erzählen über Raumentwürfe bzw. die Verbindung von narrativer Struktur und der Bedeutung der räumlichen Dimension für die Arbeit an sich wird dabei umso evidenter.Die beschädigte Maschine, das ist die abgestrafte große bzw. klassische Erzählung, der über das Ausweichen in die Räume des Phantastischen beigekommen wird. Die an Natur-erscheinungen ausgerichtete Architektur, die dabei hilfreich zum Einsatz kommt, ist in das Jonglieren mit Non-Linearität direkt eingeschrieben, sie bleibt (nicht zuletzt aufgrund man-gelnder Verlinkungsleistung auf der obersten Leseebene der Panels) als Taktgeber der dislozierten erzählerischen Struktur erfahrbar. Die Verschmelzung von Handlung und Umgebung erzeugen ein lebendiges Bilderuniversum, in dem die Struktur der Oberfläche(n) zur Erzeugung von erfahrbarer Plastizität dient. Die Suspendierung erzählerischer Geradlinigkeit und genrespezifischer Schablonen (auch: zugunsten der Aufwer-tung der räumlichen Dimension) ist dabei als mögliche, nicht nur historisch plausible Nähe zum nouveau roman zu werten: Alles scheint in einer Form permanenter Gegenwart zusam-menzufallen. Die um den vorsätzlichen Einsatz (zumindest) eines  unreliable narrators erweiterte Reflexion menschlicher Hybris – denn auch so lässt sich Le garage hermétique lesen – hat nichts von ihrer Radikalität und Zeitlosigkeit eingebüßt. Auf der Ebene der Schaffung und Bewahrung künstlerischer Identität ist Die hermetische Garage konsequenter Ausdruck ei-ner Strategie der Aneignung, Erneuerung und Emanzipation.


 ZUKUNFT | 41 5.Métal Hurlant wird 1987 zwar eingestellt, aber die Einflüs-se sind international nachweisbar: Neben der Fortführung des Verlags Les Humanoïdes Associés unter neuen Vorzeichen, er-scheinen italienische, US-amerikanische, niederländische und deutsche Gegenstücke der Zeitschrift, die gleichermaßen in-ternationalen wie lokalen Talenten die Möglichkeit bieten, an der Neuformung des Mediums mitzuwirken. Moebius’ Anteil an dieser, zwischenzeitlich auch in anderen Veröffentlichun-gen deutlich spürbaren, weiter nachwirkenden Neuerung darf nicht unterschätzt werden. Die sprichwörtliche Gestaltung seines ursprünglichsten Pseudonyms – das im Rahmen der vorliegenden Edition seiner frühen Arbeiten neu oder auch erneuert erfahrbar wird – hat die Welt der Comics für immer verändert. Doch nicht nur lesend warten hier schöne Heraus-forderungen, auch für die literatur- und medienwissenschaft-liche Forschung hält die Auseinandersetzung mit Giraud/Moebius und den sozialgeschichtlichen Kontexten von Métal Hurlant noch einige lohnende, bislang unbeantwortete Fragen bereit. Wie heißt es so passend: „In der Hermetischen Garage kann immer noch alles passieren.“THOMAS BALLHAUSENlebt als Autor, Kulturwissenschaftler und Archivar in Wien und Salzburg. Er ist international als Herausgeber,  Vortragender und Kurator tätig.Bibliografische InformationMoebius: Opus. Die Métal-Hurlant-Jahre. Bielefeld: Splitter Verlag 2018.LiteraturAarseth, Espen J. (1997): Cybertext. Perspectives on Ergodic Literature, Baltimore: The John Hopkins University Press.Alison, Jane (2019): Meander, Spiral, Explode. Design and Pattern in Narrative, New York: Catapult.Ballhausen, Thomas (2005): Kontext und Prozess. Eine Einführung in die medien-übergreifende Quellenkunde. Ansätze – Beispiele – Literatur, Wien: Löcker.Ballhausen, Thomas (2015): Signaturen der Erinnerung. Über die Arbeit am Ar-chiv, Wien: Edition.Ballhausen, Thomas (2016): Gespenstersprache. Notizen zur Geschichtsphilosophie, Wien: DER KONTERFEI.Booth. Wayne C. (1961): The Rhetoric of Fiction, Chicago: The University of Chicago Press.Duncan, Randy/Smith, Matthew J. (2009): The Power of Comics. History, Form & Culture. With an introduction by Paul Levitz, New York: Continuum Books.Forsdick, Charles/Grove, Laurence/McQuillan, Libbie (Hg.) (2005): The Franco-phone Bande Desinée, Amsterdam: Rodopi.Groensteen, Thierry (2007): The System of Comics, Jackson: University of Missis-sippi Press.Mainberger, Sabine/Ramharter, Esther (Hg.) (2017): Linienwissen und Linienden-ken, Berlin: Walter de Gruyter.Platthaus, Andreas (Hg.) (2003): Moebius Zeichenwelt, Frankfurt am Main: Eich-born.Pohl, Peter (1987): Die Verwandlungen des Jean Giraud, in: Comicforum. Das Magazin für Comicliteratur 37 (o. Jg.), 22–39.Rosenkranz, Patrick (2002): Rebel Visions. The Underground Comix Revolution 1963–1975, Seattle: Fantagraphics Books.Schreiber, Armin (1989): Kunst:Comics. Corben, Druillet, Moebius. Ortung eines künstlerischen Mediums, Hamburg: Dreibein.Vint, Sherryl (2007): Bodies of Tomorrow. Technology, Subjectivity, Science Fic-tion, Toronto: University of Toronto Press.


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 ZUKUNFT | 43 CLAUDIA UNGERSBÄCKClaudia Ungersbäck (2020) Rhythm BDigital Print, 42.0 x 50.0 cm© Claudia Ungersbäck


 44 | ZUKUNFT GERECHTIGKEIT DURCH MEDIENKOMPETENZ VON CHRISTIAN SWERTZGerechtigkeit durch MedienkompetenzAngesichts des Themas dieser Ausgabe der ZUKUNFT untersucht der Medienpädagoge CHRISTIAN SWERTZ Rolle und Funktion der Medienkompetenzvermittlung sowie der Digitalen Grundbildung, blickt dabei auf den Bereich der Sozial-partnerschaft und wirft ethische Fragen nach der Gerechtigkeit auf.I. EINLEITUNGVon Fake News ist die Rede, von Hasspostings oder von Grooming. Was nicht viel besser ist als Computerviren, mit denen wir schon bedroht werden, bevor wir den ersten Shit-storm gesehen und die neuesten Phishing Mails gelöscht ha-ben. Und denen gleich die Datenkraken folgen, die uns unge-beten in einer Filterblase versenken.Man kann sich schon fragen, warum man etwas so Gefähr-liches wie Computer überhaupt aufdrehen sollte. Überwiegt nicht der zu erwartende Schaden den möglichen Nutzen? In vielen Fällen sieht das so aus. Und wenn das so ist, ist es wohl besser, bei Radio und Fernsehen zu bleiben. Oder, wenn man sich daran erinnert, als wie gefährlich Radio und Fernsehen noch vor wenigen Jahren galten (Manipulation!), gleich bei den Zeitungen.II. DIE INTERNETAPOKALYPSEAber leider waren und sind auch Zeitungen nicht unpro-blematisch. Gibt es doch in Österreich fast nur kommerziel-le Zeitungen, denen man zwar glauben kann, dass alles für die Maximierung des Gewinns durch eine Steigerung der Auf-lage getan wird – sonst aber nicht viel. Dass in Zeitungen viel über die Gefahren des Internets zu lesen ist und wenig über die Gefahren von Zeitungen, ist jedenfalls wenig über-raschend, denn schlecht für das Geschäft von Zeitungen sind die Angebote im Internet allemal. Und schlecht ist das Inter-net auch für das Geschäft von Fernsehsendern, was neben der „Schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten“-Logik, mit der Auflage und Einschaltquote gesteigert werden, eine ent-sprechende Berichterstattung über das Internet motiviert.Interessanterweise wird der Internetapokalypse in Zei-tungen, Radio und Fernsehen eine glänzende Zukunft ge-genübergestellt: Roboter, die lästige Arbeiten übernehmen, Computer, die in schwierigen Situationen zuverlässig logisch richtige Entscheidungen treffen, und intelligente Systeme, die unseren Wünschen entsprechen, kaum dass wir sie empfun-den haben. Eine wundervolle Welt ist es, auf die wir da zu-steuern, eine Welt, in der es nur glückliche und zufriedene Menschen gibt, in der wir alle von Leid und Neid erlöst sind. Das passt nicht zusammen. Apokalypse und Erlösung gleich-zeitig klingt zwar nach interessanter Fantasy, aber Sinn macht das nicht.III. DIE VERMITTLUNG VON MEDIENKOMPETENZAn dieser Stelle wird Medienkompetenz relevant. Denn dass Menschen Erzählungen von Apokalypse und Erlösung als Erzählungen erkennen, Sinn und Absicht der Erzählun-gen verstehen und die dabei gewonnene Erkenntnis in kreati-ver Gestaltung weiter entwickeln können – das ist ein Ziel der Medienkompetenzvermittlung.Der erste Teil, das Vermögen, über solche Erzählungen nachdenken zu können, steht allen Menschen gleichermaßen zur Verfügung. Denn jeder Mensch, der sprechen kann (was etwa Gebärdensprache einschließt), kann sagen, dass er spre-chen kann. Wer über das Sprechen spricht, denkt schon über Sprache nach. Dass alle Menschen nicht nur in dieser Hinsicht gleich sind, motiviert nicht nur die politische Forderung nach Gerechtigkeit, sondern ist auch eine wissenschaftliche Grund-lage der Vermittlung von Medienkompetenz. In der Medi-enkompetenzvermittlung lernen Menschen Werkzeuge zum 


 ZUKUNFT | 45 Nachdenken über Medien kennen, und sie lernen, mit den Werkzeugen umzugehen.Wenn man mit Werkzeugen umgehen kann, dann kann man damit auch etwas produzieren, etwas bauen, und das ent-weder nach Plan oder kreativ und frei, indem man sich selbst etwas ausdenkt. Etwas produzieren zu können ist ein zweiter Teil der Medienkompetenzvermittlung. Es geht darum, Me-dien als Werkzeuge produktiv und kreativ zu benutzen, um Werte zu schaffen. Aus pädagogischer Sicht geht es dabei vor allem darum, dass Menschen sich selbst als wertvoll erschaffen und erleben. Über diese Werte, über dieses Vermögen zu ver-fügen, das zeichnet Menschen aus, die Medienbildung haben.Nun braucht es nicht unbedingt neue Werkzeuge, um über etwas Neues nachzudenken und es zu analysieren. Auch Be-währtes kann seinen Zweck erfüllen. Wenn etwa das Internet ein Werk des Teufels ist und durch Computer zugleich die Erlö-sung im Himmelreich versprochen wird, dann werden seit vie-len Jahrhunderten bewährte Werkzeuge verwendet: Die Dro-hung mit dem Teufel und das Versprechen zukünftiger Erlösung ist keine Erfindung der Wissensgesellschaft, sondern ein gut eta-bliertes Werkzeug, mit dem Macht ausgeübt werden kann.IV. MACHT, GEHORSAM UND SOLIDARITÄTUm also mit diesem Werkzeug Macht auszuüben, braucht es noch einen Teil der Erzählung (die einem 3-Akt-Modell folgt, das zu kennen ebenfalls Teil der Medienkompetenz ist): Der zweite Akt besteht aus Gehorsam und Fleiß. Vorhang auf: 1. Akt: Die Welt ist bedrohlich.2. Akt: Du bist gehorsam, fleißig und folgst dem Wort dei-nes Herren.3. Akt: Du wirst erlöst werden.Digitaler gesprochen: Das Internet ist gefährlich, aber nüt-ze fleißig Virenscanner und Firewalls und verwende das In-ternet gehorsamst für nützliche Dinge – und Du wirst eine glänzende Zukunft erleben. Dass zu den nützlichen Dingen gehört, fleißig online zu arbeiten, versteht sich dabei von selbst. Darüber weiter nachzudenken und es zu analysieren, ist mit einem anderen bewährten Werkzeug möglich. Denn wenn Menschen fleißig online arbeiten, schaffen sie Werte. Zu verhindern, dass Menschen Werte, die sie schaffen, für sich selbst nutzen, und diese Werte abzugreifen, um Gewin-ne zu erzielen, ist kein ganz neues Mittel der Machtausübung. Um Gewinne zu erzielen, muss bekannterweise der Mehr-wert, der bei der Arbeit erzeugt wird, abgeschöpft werden.Darauf beruht nicht nur das Geschäftsmodell von Industrie-unternehmen, sondern auch das von Techkonzernen. Facebook ist ein wunderbares Beispiel dafür: Menschen, die Facebook be-nutzen, produzieren Inhalte und Daten. Daraus wird dann per-sonalisierte Werbung als ein Produkt, das sich ausgezeichnet ver-kaufen lässt. Die arbeitenden Menschen erhalten dafür allenfalls einen minimalen Lohn in Form von weitgehend wertlosen Sach-leistungen und unentgeltlich produzierten Inhalten. Das solche Ausbeutung hohe Gewinne ermöglicht, ist nicht überraschend.Damit solche Ausbeutung nicht zu Widerstand führt, muss, um noch ein drittes Werkzeug ins Spiel zu bringen, eine Solidarisierung der ausgebeuteten Menschen verhindert werden. Solidarität setzt voraus, dass ich weiß, dass es viele an-dere Menschen gibt, die genauso ungerecht behandelt werden wie ich – und zwar über Berufe und Nationen hinweg. Ge-nau das wird mit Filterblasen verhindert. Denn die sorgen da-für, dass ich nur einen kleinen Teil der Menschen wahrneh-men kann, und das auch noch in eng begrenzten Gruppen. Wenn es dann gelingt, dafür zu sorgen, dass diese Gruppen gegeneinander kämpfen, dann ist die Vermutung, dass hier das Werkzeug „Teile und Herrsche“ seitens des Kapitals als Mit-tel im Klassenkampf verwendet wird, durchaus naheliegend.Das Beispiel veranschaulicht, was mit der Analyse prob-lematischer gesellschaftlicher Prozesse im Medienkompetenz-begriff gemeint ist. Die Analyse problematischer gesellschaft-licher Prozesse ist der erste Teil der Medienkritik. Eine solche Analyse kann natürlich auch anders durchgeführt werden – Ausbeutung und Klassenkampf waren nur zwei Beispiele für Analysewerkzeuge. Fortschritt, Demokratie, Rechtsstaatlich-keit, Ökologie oder Solidarität wären weitere Werkzeuge, mit denen digitale Medien analysiert werden können. Diese Werkzeuge, die wie ein Rollgabelschlüssel oftmals recht gut, aber nie genau passen, müssen in der Medienkompetenzver-mittlung um präziser auf Medien bezogene Werkzeuge wie Genre, Ensemble, parasoziale Interaktion oder Raum- und Zeitmedien ergänzt werden.V. DIGITALE GRUNDBILDUNG UND SOZIALPARTNERSCHAFTNun geht es in der Medienkompetenzvermittlung nicht nur um die Analyse. Die Analyse ist, wie das bei Analysen 


 46 | ZUKUNFT GERECHTIGKEIT DURCH MEDIENKOMPETENZ VON CHRISTIAN SWERTZin der Regel der Fall ist, nur Mittel zum Zweck. Das Ziel der Medienkompetenzvermittlung ist der selbst gestaltete Umgang mit Medien, und zwar zunächst für sich selbst, aber auch im Blick auf die Öffentlichkeit. Ein Beispiel dafür ist ein Ziel, das im derzeit in Österreich gültigen Lehrplan der ver-bindlichen Übung Digitale Grundbildung genannt wird. Dort heißt es: Schülerinnen und Schüler können die gesellschaft-liche Entwicklung durch die Teilnahme am öffentlichen Dis-kurs mitgestalten. Das sollte nicht nur für Schülerinnen und Schüler gelten, sondern für alle Menschen, die in einem de-mokratischen Staat leben.Erinnert man sich daran, dass es mit digitalen Medien auch um die politische Diskussionskultur geht, ist schnell klar, dass mit den Digitalen Kompetenzen, die vom Joint Research Center der Europäischen Kommission entwickelt worden sind und die derzeit in Österreich vom Bundesministerium für Di-gitalisierung und Wirtschaftsförderung forciert werden, eine andere Absicht verfolgt wird. Denn das Stichwort Demokratie findet sich dort ebenso wenig wie der Ausdruck Öffentlichkeit. Und auch die kreative Gestaltung von Medien ist auf Prob-lemlösen bezogen, nicht aber auf die kreative Gestaltung über das bestehende Mediensystem hinaus, um die es mit dem Me-dienkompetenzbegriff geht. Ob ich aber nur Probleme lösen darf, die andere mir vorgegeben haben, oder mitentscheiden kann, ob ich diese Probleme lösen will, macht genau den Un-terschied zwischen bloßer Gewinnmaximierung und kollegi-aler Mitbestimmung aus.Beides ist allerdings kein Widerspruch; nicht zuletzt in Österreich, wo Sozialpartnerschaft kein Fremdwort ist. Daher besteht kein Anlass dazu, im Bildungsbereich einseitig zu wer-den. Wie das geht, zeigt wieder der Lehrplan Digitale Grund-bildung, in dem Bedienkompetenzen im Umgang mit digita-len Medien neben Nutzungskompetenzen stehen, ohne dass deswegen die Analyse von Medien und die kreative Gestal-tung ausgeschlossen würden. Und genau genommen sind kre-ative Ideen und ungewöhnliche, überraschende Vorschläge, die auf genauen Analysen und fundiertem Wissen und Kön-nen basieren, oftmals Grundlage für Gewinne, die allen zugu-tekommen. Die können aber nicht geplant, erzwungen oder vorhergesagt werden.VI. SCHLUSSSchwierig wird es daher, wenn durch die Einengung in den Digitalen Kompetenzen die Kreativität zu kurz kommt und die Demokratie gar nicht erst ignoriert wird. Denn da-mit wird der bestehende Kompromiss, der in der Sozialpart-nerschaft zum Ausdruck kommt, aufgekündigt. Das macht es dann in der Tat nötig, bewährte Analysewerkzeuge zu aktua-lisieren. Das Ziel sollte allerdings nicht sein, in den Kampf zu ziehen, sondern gemeinsam an Lösungen zu arbeiten. Denn so schlecht, dass eine einseitige Instrumentalisierung eh schon wurscht wäre, ist das Bildungssystem in der Tat nicht.CHRISTIAN SWERTZist Professor für Medienpädagogik am Institut für  Bildungswissenschaft der Universität Wien.


 ZUKUNFT | 47 CLAUDIA UNGERSBÄCKClaudia Ungersbäck (2020) UntitledFine Art Print, 21.0 x 30.0 cm© Claudia Ungersbäck


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