03/2021 SEIT  1946 5,– Euro P .b.b. Abs.: Gesellsc haft zur Herausgabe der Zeitsc hrift Z U K U N FT ,  Kaiserebersdorferstrasse 3 05/3, 111 0 W ien, M Z 14Z0 40222 M, Nr . 03/2021 Cultural Hacking Petra Missomelius Die Geister, die wir riefen Zarah Weiss Radikalisierung im Netz Emil Goldberg Niemals vergessen! Simon Weingartner POLARISIERUNG(EN)


  EDITORIAL Der Sturm auf das Kapitol am 06. Januar 2021 brachte sym-bolisch auf den Punkt, dass die amerikanische Politik der Gegenwart und mit ihr die westlichen Gesellschaften ins- gesamt von extremen Polarisierungen gekennzeichnet sind,  welche die Demokratie deutlich in Gefahr bringen. Gera- de angesichts der Corona-Pandemie steht damit auch klar  vor Augen, dass die politischen Systeme ihrerseits von den  derzeit zu einem großen Teil stillgestellten Polaritäten der  Märkte existenziell abhängig sind. Denn nach einer alten Er-kenntnis der Arbeiter*innenbewegung sind es die Pole von Kapital und Arbeit, die den ideologischen Überbau (mit)be- stimmen. Diese Bipolarität wirft eine Reihe von Fragen auf,  weshalb sich die Redaktion der ZUKUNFT entschlossen hat,  angesichts ökonomischer, politischer und auch psychologi-scher Polarisierung(en) ein eigenes Themenheft zu gestalten. Den Reigen eröffnet dabei Emil Goldberg, der angesichts  des Sturms auf das Kapitol die Strategien des Deplatforming  von Donald Trump eingehend analysiert. Dabei hebt der Au- tor hervor, wie schnell sich die Spirale von Fake News bis hin zur totalen Eskalation drehen kann, um eine nicht überbrück-bare Polarisierung des politischen Feldes zu bewirken. Dabei geht es auch um die Rolle von Online-Giganten wie Twitter,  Facebook  und  Alphabet, die an der Grenze der Meinungsfrei- heit und durchaus im ökonomischen Eigeninteresse Herr- schaftstechnologien einsetzen können, um den Zugang zur  Öffentlichkeit zu besetzen. Damit liefert der Autor angesichts unseres Themas einen Denkanstoß über die Rolle der Sozia-len Medien und der Filterblasen im polarisierten politischen Diskurs und erhebt damit auch im Rekurs auf Ingrid Brodnig  Einspruch! gegen Verschwörungsmythen und Fake News. Angesichts der damit verbundenen Informations- und Kom- munikationstechnologien (IKT) arbeitet Petra Missomelius heraus, wie in einer digitalisierten Welt die Praktiken des  Cultural Hackings eine Möglichkeit bieten, die Datenhoheit  eben nicht der California Ideology zu überlassen. Sie führt da-bei in die Grundlagen des (legalen) Hackings ein und grenzt es deutlich vom (illegalen) Cracking ab. Damit zeigt Misso-melius, wie in einer polarisierten Gegenwart verschiedene  Formen des Medienaktivismus dabei helfen können, dort  Widerstand zu leisten, wo die Grundlagen der Demokratie  analog und digital in Frage gestellt oder gar zerstört werden. So steht insgesamt vor Augen, dass eine soziale und demokra-tische Gesellschaft Kritik und Dissenz durch bildungsinstituti-onelle und -politische Unterstützung ermöglichen muss. Mit Blick auf Sphären des Internationalen untersucht in der Folge  Constantin Weinstabl, inwieweit es noch möglich ist, innen- und außenpolitische Polaritäten voneinander zu trennen. Mit seiner Analyse wird schnell klar, dass die Gren- zen zwischen innen- und außenpolitischer Wirkung zuneh-mend verschwimmen und sich Handlungsradien nationaler  Machthaber*innen gleichzeitig verengen und weiten, da sie  vermehrt Einfluss auf externe Entitäten nehmen können,  aber dies auch vice versa ihre eigene innenpolitische Geltung einschränkt. Diese Polarisierung(en) und Dynamiken stellen einerseits Gefahren für das eigene politische Programm dar, bieten aber andererseits auch das Potenzial, internationale  Entwicklungen im eigenen Sinne beeinflussen zu können. Deshalb plädiert Weinstabl dafür, den Bereich der Außenpo- litik buchstäblich zu verinnerlichen, um sie deutlich mit Innen-politik zu verbinden. Polarisierung(en) ALESSANDRO BARBERI UND THOMAS BALLHAUSEN


 ZUKUNFT | 3    Im Blick auf die gegenwärtigen Krisen hebt dann Dawid-Ryszard Wysocki hervor, wie durch die jahrzehntelang unhinterfragte Politik des Neoliberalismus gerade angesichts  der Corona-Pandemie und der mit ihr verbundenen Wirt-schaftskrise erneut soziale Devastierungen in gravierendem  Ausmaß zu verzeichnen sind. Dabei wird auch angesichts der  Digitalisierung zwischen Home Office und Demontage auf Probleme des Arbeitsrechts verwiesen. Angesichts der pola-risierenden Tendenz der Märkte zur Monopolisierung erin-nert der Autor deshalb an die Regulationsforderungen von Kreisky und Keynes, verteidigt die Standards des Sozial- und  Wohlfahrtsstaates und fordert ein soziales und demokratische  Umdenken, mit dem wir gemeinsam die(se) Krise(n) über-winden könnten. Darüber hinaus freut es die Redaktion der ZUKUNFT außer-ordentlich, dass Simon Weingartner sich bereit erklärt hat,  seine Gedenkrede zum 12. Februar 1934 hier im Volltext ab-zudrucken. Denn auch Weingartner betont in Erinnerung an  Karl Münichreiter, dass der gegenwärtige Kapitalismus uns,  angetrieben von Jahrzehnten des neoliberalen Exzesses, sei-ne hässlichste und totalitärste Fratze zeigt. Er zeigt in diesem  Zusammenhang nachdrücklich, dass Antifaschist*innen seit  langer Zeit klar ist, dass Menschenrechte und Demokratie für Kapitalist*innen immer nur dann wünschens- und verteidi-genswert sind, wenn sie den Kapitalinteressen entsprechen. Es ist mithin die kapitalistische Produktionsweise selbst, die für die dramatischen Polarisierungen unserer Gegenwart verant- wortlich gemacht werden kann. Niemals vergessen! Mit  Die Geister, die wir riefen legt die Autorin Zarah Weiss eine gleichermaßen sensible wie realistisch-direkte Reflexi-on über die neu zu denkenden Verhältnisse zwischen Mensch,  Tier und Maschine vor. In ihrer neuesten Erzählung wird  aber nicht nur auf die offensichtliche Polarität von Geist und technischem Kalkül eingegangen, vielmehr befragt ihre  „Familiengeschichte“ vermeintlich natürliche Traditionen,  Strukturen und Abhängigkeitsverhältnisse. Die notwendige  Aufarbeitung der Vergangenheit wird also angesichts gegen- wärtiger Polarisierung(en) zur Unvermeidlichkeit und gerät  im besten literaturgeschichtlichen Sinne zur Auseinanderset-zung mit Identität, Gesellschaft und Kommunikation. Der Medienpädagoge Christian Swertz analysiert im An- schluss daran mit seinem Beitrag, wie sich angesichts der  Polarisierung(en) unserer Gesellschaften der Zusammenhang von Medien(konzentration) und Öffentlichkeit verhält. Dabei  geht es vor allem darum, die Möglichkeiten der Konfliktver-handlungskompetenz auszuloten, um auch im Blick auf die  Pole unseres Planeten (politische und ökonomische) Rotatio- nen und Bewegungen zu thematisieren, die das Verhältnis von  Profit, Wissen und Freiheit (mit)bestimmen. Dabei plädiert Swertz nachdrücklich für eine soziale und demokratische Me- diologie, in der nicht Macht, Krieg und Streit im Mittelpunkt stehen, sondern Überzeugung, Friede sowie soziale und de-mokratische Kommunikation. Damit ist summa summarum klar:  Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun! In diesem Sinne stellt auch die Erzählung Scherben, Zeichen,  Gespenster  des Wiener Schriftstellers Thomas Ballhausen  zum Ende dieser Ausgabe hin Spannungsverhältnisse zwi-schen Individuum und Gesellschaft in den Mittelpunkt: Sein namenloser Erzähler ist ein Getriebener, ein streckenweise zwielichtig und unglaubwürdig scheinender Protagonist, der  Posen einnimmt, sich vorsätzlich unzugänglich macht oder in Opposition zu polaren Erwartungshaltungen setzt. Ballhau- sens Text nimmt dabei aber nicht nur Elemente der Pop-Li- teratur auf, sondern setzt auch auf weit düsterere Töne aus dem Genrebereich des Phantastischen. Die zweiteilige Struk-tur seiner Erzählung kreist nicht zuletzt deshalb um einen  wie beiläufig gesetzten Katastrophenmoment, der es erlaubt,  Heimsuchung, Erinnerung und Gespenstergeschichte kunst- voll zu überblenden. Einen herzlichen Dank wollen wir im Rahmen dieser Aus- gabe Reinhard Sieder aussprechen, der von Tricolor bis Out-burst nicht nur das Cover der ZUKUNFT bereichert, sondern sie mit einer Bildstrecke versehen hat, die er in seinem abschlie-


ßenden Beitrag Die Abstraktion vom Konkreten auch eingehend erläutert. Es freut uns sehr, schon jetzt darauf verweisen zu können, dass diese Serie in unserer Ausgabe 04/2021 (The-ma: Bildung – Eliten – Selektion) verlängert werden wird, um visuell und intellektuell mehrere Korrespondenzen zu ermöglichen. Auch möchten wir auf unser aktualisiertes Impressum verwei- sen, weil von nun an Julia Brandstätter, Bianca Burger, Hem-ma Prainsack, Katharina Ranz und Constantin Weinstabl die  Redaktion erweitern. Darüber hinaus will die Redaktion un- sere Leser*innen auf den Relaunch unserer Homepage unter  www.diezukunft.at hinweisen, wo auch nähere Informatio- nen zu den Redaktionsmitgliedern abrufbar sind. Darüber hinaus wird es ab April 2021 am letzten Dienstag des Monats eine Online-Diskussion zum jeweiligen Schwerpunktthema geben, die wir last but not least am Ende dieser Ausgabe auf Seite 42 ankündigen … Die Redaktion hofft, Ihnen mit dieser Ausgabe wieder schö-ne Stunden der Lektüre und des Kunstgenusses zu ermögli- chen und sendet Ihnen  herzliche und freundschaftliche Grüße! ALESSANDRO BARBERI ist Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent.  Er lebt und arbeitet in Wien und Magdeburg.  Politisch ist er in der SPÖ Landstraße aktiv. Weitere Infos und Texte   online unter: https://lpm.medienbildung.ovgu.de/team/barberi/ THOMAS BALLHAUSEN lebt als Autor, Kulturwissenschaftler und Archivar in Wien und Salz- burg. Er ist international als Herausgeber, Vortragender und Kurator tätig.


Inhalt 6     Radikalisierung im Netz    VON EMIL GOLDBERG 10    Widerständige Praktiken – Cultural Hacking und     politischer Protest    VON PETRA MISSOMELIUS 14    Polaritäten im Äußeren    VON CONSTANTIN WEINSTABL 18    Zeit zum Umdenken    VON DAWID-RYSZARD WYSOCKI 22    Niemals vergessen!    VON SIMON WEINGARTNER 26    Die Geister, die wir riefen    VON ZARAH WEISS 30    Polarisierung, Medien und Konflikte    VON CHRISTIAN SWERTZ 34    Scherben, Zeichen, Gespenster    VON THOMAS BALLHAUSEN 40    Die Abstraktion vom Konkreten    VON REINHARD SIEDER 42    Auf dem Weg in die ZUKUNFT!     VERANSTALTUNGSANKÜNDIGUNG REINHARD SIEDER, TRICOLOR (2017)ACRYL, GIPS, GESSO AUF LEINWAND 120 X 80 CM IMPRESSUM Herausgeber: Gesellschaft zur Herausgabe der Zeitschrift »Zukunft«, 1110 Wien, Kaiserebersdorferstraße 305/3 Verlag und Anzeigenannahme: VA Verlag GmbH,  1110 Wien, Kaiserebersdorferstraße 305/3, Mail: office@vaverlag.at Chefredaktion: Alessandro Barberi Stellvertretende Chefredaktion: Thomas Ballhausen Redaktionsassistenz: Bianca Burger Redaktion: Julia Brandstätter, Hemma Prainsack, Katharina Ranz, Constantin Weinstabl Online-Redaktion: Bernd Herger Cover: Reinhard Sieder (2017) Tricolor  © Reinhard Sieder


 6 | ZUKUNFT  Wie schnell sich die Spirale von Fake News bis hin zur totalen Eskalation drehen kann und welche durchaus fragwürdige Rolle Online-Giganten darin spielen, reflektiert  EMIL GOLDBERG  in seinem Denkanstoß über die Rolle der Sozialen  Medien und der Filterblasen im (politischen) Diskurs. Dabei steht vor allem das jüngst realisierte Deplatforming von Do-nald Trump im Zentrum des Interesses. Radikalisierung im Netz RADIKALISIERUNG IM NETZ  VON EMIL GOLDBERG I. DEPLATFORMING Die letzten Tage der Präsidentschaft von Donald Trump  waren überschattet vom Sturm auf das Kapitol am Nachmit-tag des 06. Jänner 2021. Social Media-Giganten und Techno-logiekonzerne wie Twitter, Facebook und Alphabet (Anm.: die Dachholding der Google-Marken wie Youtube und Co) reagierten mit einem in der Geschichte noch nie dagewesenen Schritt und sperrten Trumps Accounts – zunächst temporär, danach vielerorts auch dauerhaft. Damit wurden dem schei-denden Präsidenten einige seiner wohl wichtigsten Kommu-nikationskanäle genommen – allein auf dem Kurznachrich-tendienst Twitter hatten etwa 88 Millionen User*innen seinen Kanal @realdonaldtrump abonniert. Dieses sogenannte „Deplatforming“ von Trump stellt  eine medienpolitische Zäsur dar – noch nie wurde ein der-art reichweitenstarker Account – und schon gar nicht der ei-nes amtierenden US-Präsidenten – von Social Media-Platt-formen verbannt. Grund genug, einen kritischen Blick auf diesen sich zunehmend radikalisierenden Mikrokosmos im Netz und die damit verbundene(n) Polarisierung(en) und d. i. hier Radikalisierung(en) zu werfen. II.  VON GATEKEEPERN UND GRASWURZELJOURNALISMUS Im klassischen Medienbetrieb, egal ob im Rundfunk-  oder Printjournalismus, durchlaufen die eintreffenden Nach-richtenmeldungen die Redaktionen, werden dort geprüft, in-haltlich eingeordnet, kommentiert und/oder Faktenchecks unterzogen. Den Journalist*innen kommt also die Rolle des sogenannten Gatekeepers, also eines sprichwörtlichen Tor- wächters, zu. Sie entscheiden, was in der gedruckten Zeitung steht oder über den Äther flimmert. Jedes Medienprodukt ist das Ergebnis einer ganzen Serie von Selektionsprozessen, fass-te es der Schriftsteller Walter Lippmann bereits 1922 in dem Klassiker Public Opinion – Die öffentliche Meinung (Lipp-mann 2018) treffend zusammen. Ein Umstand, der seit jeher Stoff für mannigfaltige Diskussionen über Objektivität, Fär-bung oder Schlagseite(n) von Medien mit sich bringt. Eine Revolution stellte hier das Internet dar: Plötzlich  konnte jede/r über alles berichten; der Graswurzeljourna-lismus war geboren. Zunächst vielleicht nur als Textbeitrag, doch dank der immer preisgünstiger werdenden Endgeräte und des rasant voranschreitenden technologischen Fortschritts ist es inzwischen für die breite Masse möglich, mittels hoch-aufgelöstem Bewegtbild und Live-Video direkt vom Ort des Geschehens zu berichten. Mit dem Smartphone und mobilem Breitbandinternet hat man heutzutage quasi seinen eigenen TV-Sender in der Tasche. Mündige Bürger*innen, die eine aktive Rolle im Recher- chieren, Aufbereiten und Verbreiten von Informationen ein-nehmen, klingt das nicht schön? Das Ziel dieser Partizipation sei „eine Bereitstellung von unabhängigen, verlässlichen, ge-nauen, ausführlichen und relevanten Informationen, die eine Demokratie benötigt“. Soweit jedenfalls die Wunschvorstel-lung, wie sie Shayne Bowman und Chris Willis optimistisch beschrieben (Bowman/Willis 2003). Die Kehrseite dieser Medaille sollte jedoch nicht uner- wähnt bleiben – mit denselben technischen Möglichkeiten kann natürlich auch jede noch so bizarre Falschmeldung oder 


Verschwörungstheorie an ein potenzielles Millionenpublikum verbreitet werden. Was uns wieder zu Donald Trump bringt. Das Internet und die Sozialen Medien im Speziellen umgehen also die Schranke der zuvor erwähnten Gatekeeper-Funktion – sie ermöglichen es nun allen Nutzer*innen, mit wenigen Mausklicks ihre persönliche Sicht der Dinge der Weltöffent-lichkeit zu präsentieren. III.  VON FILTERBLASEN UND FAKE NEWS Zum Schlüssel in der viralen Verbreitung von Inhalten al- ler Art sind die sozialen Medien geworden. Von der Privat-person bis hin zu internationalen Superstars, ob als gemein-nütziger Verein oder multinationaler Konzern – Plattformen wie Facebook, Instagram, Twitter und viele andere sind aus der heutigen Medienwelt kaum mehr wegzudenken. Die Ac-counts werden, teils mit erheblichem personellen und finan-ziellen Aufwand, gepflegt, um Likes und Follower zu akqui-rieren – kurz gesagt: um Reichweite zu erhalten. Und es sind zumeist die reißerischen Überschriften und markigen Sprü-che, die den „Traffic“ auf die jeweiligen Kanäle bringen. Was in diesem Zusammenhang gerne übersehen wird, ist  die Tatsache, dass all diese Plattformen gewinnorientiert ar-beiten. Die Währung heißt Aufmerksamkeit – und je länger die Nutzer*innen auf einer Seite verweilen, desto mehr Geld lässt sich mit der dort angezeigten (personalisierten) Wer-bung verdienen. Durch die Anwendung komplexer Algo-rithmen neigen die Plattformen dazu, den Benutzer*innen möglichst Informationen vorzuschlagen, die mit dem bis-herigen Nutzungsverhalten der User*innen übereinstim-men. Das Ganze ist ein Milliardengeschäft – deshalb ar-beiten Heerscharen von Programmierern mit Hochdruck daran, ebendiese Algorithmen dahingehend zu optimieren; die Quellcodes dahinter werden gehütet wie Staatsgeheim-nisse. Soll heißen: das in PR-Texten oft beschriebene „Nut-zungserlebnis“ für die User*innen dient allem voran dem Konzernergebnis. Es werden also tendenziell jene Informationen ausge- schlossen, die den bisherigen Ansichten der User*innen wi-dersprechen. So werden die Nutzer*innen schleichend, aber sehr effektiv in einer Art „Blase“ isoliert, wie der Kommuni-kationswissenschaftler Eli Pariser ausführlich in seinem Buch The Filter Bubble (Pariser 2012) beschreibt. Man kann nun einwerfen, dass es beim Kleidungseinkauf eine untergeordne-te Rolle spielt, ob verstärkt die Produkte von Firma A oder  B angepriesen werden – gesellschaftspolitisch relevant wird es jedoch im politischen Bereich. Die durch Algorithmen geschaffene Filterblase bildet auch  hier die Grundlage dafür, dass sich das Meinungsspektrum im Netz zunehmend polarisiert. Die User*innen finden sich in einer Art Echokammer wieder, in der anderslautende Mei-nungen nur mehr wenig bis gar keinen Raum bekommen. Insbesondere wenn der Nachrichtenkonsum vorwiegend auf den Social Media-Plattformen stattfindet, kann es so weit füh-ren, dass sich Menschen binnen kurzer Zeit radikalisieren. (vgl. den bezeichnenden Beitrag von Florian Klenk in FALTER 45/16: Boris wollte mich verbrennen). Wenn also ausgehend von reichweitenstarken Accounts,  wie beispielsweise jene des US-Präsidenten, Meldungen von zweifelhaftem Wahrheitsgehalt an ihre Abertausenden von Follower*innen ausgesendet werden, verschiebt dort jedes „Like“ die individuellen Filterprofile der Anhänger*innen in diese Richtung. Mit jedem Klick ein Stückchen mehr. Wem die Geschichte von einer manipulierten Wahl „gefällt“, klickt vielleicht auch auf eine Meldung darüber, dass das Coronavi-rus wahlweise harmlos und/oder eine Erfindung von Bill Ga-tes ist. Und bei der Impfung bekommen wir dann sehr schnell alle einen 5G-Chip implantiert. Dass man in den alteingeses-senen Medien nichts davon liest, kann doch nur damit zusam-menhängen, dass die mit denen unter einer Decke stecken. Lügenpresse! Fake News! Man sieht: auf mittelfristige Sicht bilden sich dadurch re- gelrechte Parallelrealitäten heraus. Worin die Polarisierung gipfeln kann, hat Washington am 06. Jänner erlebt und es ist zu befürchten, dass das sprichwörtliche Ende der Fahnenstan-ge nicht erreicht ist.  ZUKUNFT | 7  ELI PARISER THE FILTER BUBBLE London: Penguin 304 Seiten | € 9,79 ISBN: 978-0241954522 Erscheinungstermin: März 2012


 8 | ZUKUNFT  RADIKALISIERUNG IM NETZ  VON EMIL GOLDBERG IV. CONCLUSIO Wer glaubt, dass dies ein amerikanisches Phänomen sei,  irrt leider. Das (fälschlicherweise) Karl Kraus zugeschriebene Zitat „Wenn die Welt untergeht, dann gehe ich nach Wien. Dort passiert alles zehn Jahre später“ gilt in diesem Zusam-menhang schon lange nicht mehr. Auch hierzulande pral-len die Meinungen mit zunehmender Aggressivität aufeinan-der – sowohl virtuell als auch auf der Straße, wie uns nicht zuletzt auch die Ausschreitungen am Rande der Demonst-rationen der selbsternannten „Corona-Skeptiker*innen“ zei-gen. Es ist die Aufgabe einer aufgeklärten Zivilgesellschaft, in diesem extrem polarisierten Schlachtfeld der Meinungen klar Stellung zu beziehen und den „Fake News“ mit Fakten entgegenzutreten.   EMIL GOLDBERG  ist Pressesprecher beim Fonds Soziales Wien.  Davor war er viele Jahre in der Presseabteilung der Bundes-SPÖ tätig  und zwischenzeitlich auch für die Öffentlichkeitsarbeit des  ÖBB-Konzernbetriebsrats verantwortlich. Auf Twitter: @emil_goldberg LiteraturBowman, Shayne/Willis, Chris (2003): We Media. How audiences are sha- ping the future of news and information, commissioned by The Media Center at The American Press Institute, online unter: https://tinyurl.com/tlmpbqqt (letzter Zugriff: 17.02.2021). Klenk, Florian (2016): Boris wollte mich verbrennen, FALTER 45/16: on- line unter: https://tinyurl.com/3d7rglun (letzter Zugriff: 17.02.2021). Lippmann, Walter (2018): Die öffentliche Meinung: Wie sie entsteht und  manipuliert wird, Frankfurt am Main: Westend. Pariser, Eli (2012): Filter Bubble: Wie wir im Internet entmündigt werden,  München: Hanser. INGRID BRODNIG EINSPRUCH. VERSCHWÖRUNGS- MYTHEN UND FAKE NEWS  KONTERN – IN DER FAMULIE, IM FREUNDES- KREIS UND ONLINE Wien: Brandstätter 160 Seiten | € 20 ISBN: 978-3-7106-0520-8 Erscheinungstermin: Jänner 1921


 ZUKUNFT | 9  Landschaft (2018)Gouache, Kohle, Gesso auf Leinwand 100 x 50 cm REINHARD SIEDER


 10 | ZUKUNFT  I.  BLACK BOXES UND TECHNOFASCHISMUS Neben der derzeit allseits gepriesenen kreativ-innovativen  Anwendung von Medien und -technologien, ist eine essenzi-elle Bildungsaufgabe, die das Themenfeld digitale (Medien-)Technologien betrifft, die Entzauberung dessen, was in der Theoriebildung oftmals die „Black Box“ (Winkler 2014) ge-nannt wurde. Denn schon das Problem bei den Massenmedi-en war es, dass das innewohnende Technische unsichtbar wird und die Nutzung ohne jegliche Kenntnisse möglich ist. Vilém Flusser formulierte sogar die Befürchtung, dass ein „Techno-faschismus“ (Flusser 1987: 149) drohe, wenn die Technolo-gien zugrunde liegenden technischen und gesellschaftlichen Strukturen, Organisationsprinzipien und Logiken nicht hin-terfragt und reflektiert werden, d. h. mediale Wirklichkeiten hingenommen werden. Die brennenden Fragen des Daten-schutzes, die mit der Nutzung so populärer Anwendungen wie  WhatsApp und  Facebook verbunden sind, haben uns dies deutlich vor Augen geführt. So geläufig auch die Formu-lierung „kritisch-reflexiver Umgang mit Medien“ im aktu-ellen Diskurs um „Digitale Bildung“ ist, ebenso formelhaft wie zahnlos erscheint ihre Umsetzung in der Praxis und wird von verschiedenen Akteur*innen ganz unterschiedlich ver-standen. Die Bedeutungsbreite erstreckt sich von persönlicher Mediendiätetik über Manipulationsimmunisierung, Selbstbe-obachtung und Achtsamkeit, ästhetischer Analyse, Kommuni-kationsregeln bis hin zu ökonomischen und datenschutzrecht-lichen Fragen. II.  CULTURAL HACKING ALS SELBSTSORGE Im Verständnis der Selbstsorge (Wunden 2006) ist Kritik  als Tugend mit der Infragestellung von Regeln des Gehor-sams verbunden, denen sich das Subjekt zu unterwerfen habe. Das „Wahr-Sagen“ der Parrhesia kann seinen Ausdruck in der Narretei oder dem Kabarett finden. Diesen Gedanken kann man durch die spielerische Verwendung medialer Logiken im „cultural hacking“ (Düllo & Liebl 2005) fortführen.  Die hackende Person ist eine, die in der Lage ist, einen  Code zu knacken, welcher Art dieser Code auch ist: sprach-lich, sozial, psychisch oder technisch. Insofern handelt es sich um eine spielende Figur, die durch Interventionen Diskur-se in Bewegung bringt. Hacking in der Medienkultur rich- WIDERSTÄNDIGE PRAKTIKEN – CULTURAL HACKING UND POLITISCHER PROTEST  VON PETRA MISSOMELIUS Der Beitrag von  PETRA MISSOMELIUS  führt in die Grundlagen des Hackings ein und zeigt wie in einer polarisierten  Gegenwart verschiedene Formen des Medienaktivismus dabei dienen können, Widerstand zu leisten … Widerständige Praktiken  – Cultural Hacking und  politischer Protest THOMAS DÜLLO & FRANZ LIEBL CULTURAL HACKING Wien/New York: Springer 352 Seiten | rund € 65,00 ISBN: 978-3211232781 Erscheinungstermin: Dezember 2004


 ZUKUNFT | 11  tet sich auf Strukturen, Netze, Protokolle und Praktiken, d. h. an Medien als soziotechnische Infrastrukturen, die in weite-re gesellschaftliche Strukturen eingebettet sind. Ihre politische Reichweite gilt somit der Möglichkeiten zur latenten Beein-flussung von Diskursen (Pias 2011). III.  BEKANNTE BEISPIELE DES CULTURAL  HACKING Beispiele für diese Art des Cultural Hacking sind etwa Or- son Welles Radiohörspiel einer imaginären Invasion durch Marsianer (1938), Jan Böhmermanns Check des Varoufa-kis Mittelfinger-Videos (2015), Aktivitäten der Yes Men (vgl. http://theyesmen.org/) oder des Zentrums für Politische Schön-heit  (vgl. https://www.politicalbeauty.de/index.html). Gera-de das letztgenannte Künstlerkollektiv hat in den letzten Jah-ren die Wirkmächtigkeit dieser Form von Medienaktivismus deutlich gemacht. Die zuletzt wohl bekannteste Aktion dürf-te die Errichtung einer Miniatur des Holocaust-Denkmals in Björn Höckes unmittelbarer Nachbarschaft und dem damit ausgelösten Diskurs sein – jenes AfD-Politikers, der dieses als ein „Denkmal der Schande“ bezeichnete. Das Hacking be-wegt sich hier – und das ist den vorgenannten Beispielen je-weils gemeinsam – auf unterschiedlichen Ebenen: einerseits auf der inhaltlichen Ebene, indem Argumentationsmuster auf-genommen und antizipiert werden, andererseits nutzen sie mediale Formen und imitieren diese zu ihren jeweiligen Zwe-cken, womit sie eine sehr hohe Aufmerksamkeit generieren. Sobald deutlich wird, dass es sich um eine spielerische Nut-zung medienkultureller Muster handelt, werden diese Selbst-verständlichkeiten für einen Moment erschüttert und die je-weilige Botschaft erhält weitaus mehr Aufmerksamkeit als dies auf klassischem Wege möglich gewesen wäre. IV.  CULTURAL HACKING ALS WIDERSTÄNDIGE  PRAKTIK Dabei geht es keineswegs um illegale Vorgänge und schä- digenden Medieneinsatz, sondern um eine Form des Medien-aktivismus als ein Beherrschen medialer Codes und Logiken. Hacking bewegt sich entlang von Grenzen, die nicht unbe-dingt transparent sein müssen, am Grat zwischen Sichtbar-keit und Unsichtbarkeit, Benutzen und Programmieren, Sinn und Sinnlosigkeit. In den Mainstream-Medien wird gerne eine Diskreditierung von hacking durch negative Konnotatio-nen mit cracking (dem Rauben und Zerstören von Daten und digitalen Netzen), Gesetzesbruch und der Fixierung auf den  destruktiven Umgang mit Daten verwendet, welche die Ge-schichte und Hintergründe der Hacking-Bewegungen außer Acht lassen, welche aus den Bastler*innen der 1950er-Jahre hervorging, die die Grenzen der neuen Technologie auslote-ten. Derartige Verunglimpfungen des Hacking als gewaltvoll-zerstörerisch geschehen nicht selten, um Voraussetzungen für fortschreitende Kontrolle zu schaffen und Sicherheitsmaßnah-men zu rechtfertigen. Gegenstrategien zur Überwachung und Kontrolle wie  counterveillance  oder  sousveillance  würden in dieser Perspekti-ve Ermächtigungsprozesse im Sinne informationeller Selbst-bestimmung bedeuten. Schließlich waren es die Hacker, die schon früh über Themen wie Datenethik nachdachten. Cul-tural Hacking ist in der digitalen Medienkultur Ausdruck für mediale Bedingungen und ermöglicht widerständige Prakti-ken. Die Form politischen Protests macht sich die Logik der Netzwerkmedien zu eigen, greift Konventionen kommerziel-ler Medienkulturen auf und stellt diesen eigene Entwürfe ge-genüber. Dies geschieht innerhalb der Mediennutzung, nicht aus einer kulturpessimistischen Abwehrhaltung. Zentral hier-für sind das Verstehen von Funktionslogiken, von kulturel-len Skripten und des Umgangs mit medienkulturellen Codes. Damit bewegt sich das Hacken der Codes digitaler Medien-kulturen auch im Bereich der politischen Bildung. V.  WIDERSTÄNDIGKEIT UND BILDUNG Nun geht es nicht darum, cultural hacker auszubilden, son- dern das Prinzip des Cultural Hacking als eine kritische Per-spektive in Bildungskontexten zu nutzen. Hartmut Winkler (Winkler 2014: 16) legt im Zusammenhang mit der Black Box im Rahmen der Automatismenforschung drei Dimensionen dar, die mir hier ebenfalls relevant erscheinen: 1. Verborgenes zugänglich zu machen (d. h. auch Verar- beitungsroutinen, technische Abläufe und damit auch inhaltli-che Strukturierungen und Priorisierungen zu verstehen), 2. Fragen der Beobachtung und der Beobachtbarkeit:  wem ist es wo und wie möglich die Black Boxes zu öffnen? 3. die Beschäftigung mit vermeintlich unbewusster Medi- ennutzung und unreflektierten Medienpraktiken. Kritik als Dissens (vgl. Butler 2011) drückt sich in wi- derständigen Praktiken aus. Dieser Dissens wiederum muss 


 12 | ZUKUNFT  durch bildungsinstitutionelle Unterstützung ermöglicht wer-den. Könnte Medienbildung als „Operationsmesser, Molo-tow-Cocktail(s) oder unterirdische Stollen“ innerhalb des Bildungssystems zur Veränderbarkeit erstarrter und bürokra-tisierter Organisationsstrukturen formeller Bildungsinstitutio-nen fungieren, so wie Foucault dies für seine Bücher wünsch-te (Foucault 1976: 129)? Die dringliche Frage angesichts der Transformationsdynamiken der „Wissensgesellschaft“, in wel-cher Wissen als berufsqualifizierendes Ansammeln von Infor-mationen (miss-)verstanden wird, ist sicherlich, welche Art von Wissensformen und -praktiken subversiven Wissens auf-geboten werden können, um dem Anspruch einer zukunftsfä-higen Bildung zu genügen. PETRA MISSOMELIUS  ist Medienwissenschaftlerin und arbeitet seit 2012 an der Leopold- Franzens-Universität Innsbruck, die seit 2017 den Lehramt-Studiengang  „Spezialisierung: Medienpädagogik“ und seit 2020 die Wahlpakete   „Medienpraxis“ sowie „Medien und Kommunikation“ anbietet. Dieser Beitrag erschien erstmalig in MEDIENIMPULSE  2/2018 und kann in dieser älteren Version hier heruntergela-den werden: https://tinyurl.com/3g5l3dqr. LiteraturButler, Judith (2011): Kritik – Dissens – Disziplinarität, Zürich: Diaphanes.Düllo, Thomas/Liebl, Franz (2005) (Hg.): Cultural Hacking: Kunst des  Strategischen Handelns, Wien/New York: Springer, online unter:  https://link.springer.com/book/10.1007/3-211-37777-8  (letzter Zu-griff: 01.03.2021). Flusser, Vilém (1987): Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft? 5. Aufl. Euro- pean Photography: Göttingen (2002). Foucault, Michel (1976): Mikrophysik der Macht, Berlin: Merve.Pias, Claus (2002): Der Hacker, in: Horn, Eva/Bröckling, Ulrich (Hg.):  Grenzverletzer. Figuren politischer Subversion, Berlin: Kadmos, 248–270, online unter: https://www.uni-due.de/~bj0063/texte/hacker.pdf (letzter Zugriff: 16.02.2021). Winkler, Hartmut (2014): Black Box und Blackboxing – Zur Einführung  (Vortragsmanuskript), online unter: http://homepages.uni-pader-born.de/winkler/gk-black.pdf (letzter Zugriff: 16.02.2021). Wunden, Wolfgang (2006): Selbstsorge als Quelle kritischer Kompetenz,  in: Niesyto, Horst (Hg.): Medienkritik heute. Grundlagen, Beispiele und Praxisfelder, München: kopaed (Medienpädagogik interdiszipli-när, 5), 87–99. WIDERSTÄNDIGE PRAKTIKEN – CULTURAL HACKING UND POLITISCHER PROTEST  VON PETRA MISSOMELIUS


 ZUKUNFT | 13  Helles Grün im blauen Regen (2019)Acryl, Gips auf Leinwand 100 x 80 cm REINHARD SIEDER


 14 | ZUKUNFT  POLARITÄTEN IM ÄUSSEREN  VON CONSTANTIN WEINSTABL I.  INNEN UND AUSSEN Die in dieser Ausgabe der ZUKUNFT diskutierten Polaritä- ten erstrecken sich zweifellos auch auf die Beziehungen von Staaten und supranationalen Einheiten untereinander und da-mit auf jegliches außenpolitische Handeln. Dies umso mehr, als Außenpolitik immer mehr innenpolitischen Zielen und Begehrlichkeiten untergeordnet und damit als eine Verlän-gerung der Innenpolitik gesehen und gehandhabt wird. Case in point wäre z. B. das Einspannen von Entwicklungszusam-menarbeit (EZA) für innenpolitische Ziele der Fremden- und Migrationspolitik. Solcherart tragen Akteur*innen interne Konflikte auch  auf die außenpolitische Ebene. Dadurch wird deutlich, dass staatliche Gewalten durch internationale Verquickungen und Globalisierung sowie durch den nicht mehr vorhandenen Pri-mat der Politik zu oft das Nachsehen haben gegenüber in-ternationalen und/oder wirtschaftlichen Interessen. Mögli-che Lösungsansätze werden zunehmend verkompliziert durch wirtschaftlich-technische und seit Beginn der COVID-19 Pan-demie auch vermehrt medizinisch-biopolitische Schieflagen. Die Konkurrenz um Ressourcen nimmt sowohl zwischen den politischen und wirtschaftlichen Gemeinschaften als auch in-nergesellschaftlich zu, da auch im Globalen Norden die Zahl der Globalisierungsverlierer steigt. Angestammte (internatio- nale) Ordnungen und wahrgenommene Sicherheiten zerbre-chen, ohne dass bereits Alternativen oder Nachfolgemodelle bereitstünden (vgl. Weinstabl 2021). Dies lässt weite Teile der Bevölkerungen irritiert und verärgert zurück, was in schwie-rigen Zeiten das Potenzial für tiefe Verwerfungen birgt. II.  SPALTER! SPALTER! In diesem aufgeladenen Umfeld sehnen sich viele Men- schen nach einfachen Narrativen, um komplexe Sachverhal-te in einer Weise herunterzubrechen, die es ihnen erlaubt, ein Verständnis für globale Ereignisse zu entwickeln, die im-mer mehr auch Auswirkungen auf ihre unmittelbaren Lebens-realitäten haben. In Kenntnis dieses Sehnens und des Erfol-ges, der sich erzielen lässt, wenn man sich populistisch gibt, flacht das Niveau politischer Diskurse zusehends ab. Dabei ist ein Ende dieser Entwicklung noch nicht abzusehen. Wo klare Worte sowie umsichtiges und entschiedenes, manch-mal auch unpopuläres, Handeln vonnöten wären, regieren statt-dessen leere Phrasen und wird Verantwortung für unliebsame Entscheidungen nach unten abgeschoben oder man gibt „den Anderen“, den „von außen Kommenden“ die Schuld an un-erwünschten Entwicklungen, während man sich für allzu oft nicht einmal selbst erbrachte Leistungen feiern lässt. Statt dieses den Tribalismus begünstigende Biotop trocken- zulegen, werden gesellschaftliche Auseinandersetzungen noch weiter von oben befeuert. Aufgrund der zuvor genannten Überlagerungen von Innen- und Außenpolitik hat dies auch Auswirkungen über die Grenzen der jeweiligen politischen En-titäten hinaus. Wahlergebnisse werden angezweifelt und der wütende Mob angestachelt, den US-Senat zu stürmen; Re-gierungen ziehen ungeniert die Unabhängigkeit der Justiz in Zweifel oder besetzen diese ihrem Belieben nach um; Unterre- Polaritäten im Äußeren CONSTANTIN WEINSTABL  analysiert die Implikationen von global verstärkten Polaritäten, untersucht deren Ursachen  sowie Narrative und analysiert die Überlappung und Wechselwirkung von innen- und außenpolitischem Handeln. Nur eine geschickte Außenpolitik,   eine Politik bedeutender Unternehmungen,   ermöglicht eine fruchtbare Innenpolitik,   die letzten Endes immer von geringerem Tiefgang ist. Ortega y Gasset 1996: 22


 ZUKUNFT | 15  präsentierte werden zu Sündenböcken abgestempelt, während man die schützende Hand über die eigentlich Schuldigen hält. Mit einer denkbar niedrigen Schwelle, seine Meinung  mit einem simplen Mausklick weltweit zu verbreiten, werden sämtliche Themen, die die haves und have-nots, die Bourgeoisie und das Proletariat, den Globalen Süden und Globalen Nor-den beschäftigen, anonym und öffentlichkeitswirksam breitge-treten. Dies gilt umso mehr, je existenzieller die Themen bzw. die Perzeption derselben durch die sich Äußernden ist. Konn-te man bisher vor allem in der Migrationsthematik verfolgen, wie tief die Sonne der (Diskurs-)Kultur augenscheinlich steht, um mit Karl Kraus zu sprechen, so fördert seit nunmehr einem Jahr der „Meinungsaustausch“ zur COVID-19 Pandemie Ähnli-ches zutage und Verschwörungstheorien, Verteufelungen An-dersdenkender sowie Beleidigungen direkt aus der untersten Schublade des Konversationsvokabulars reüssieren. Inner Conflict ©Wikimedia Commons(author: Arafat Uddin) III.  THE LAND OF CONFUSION Nun kann man sicher nicht schlüssig behaupten, dass die der-zeitige COVID-19-Pandemie all die zusätzlich (zum Gesund-heitsaspekt) verschärfenden politischen und wirtschaftlichen Verwerfungen originär zu verantworten hat. Vielmehr zeigt die auch aus dem alles andere als souveränen Umgang vieler Entscheidungsträger*innen entstandene Krise auf, was schon seit Jahren und Jahrzehnten im Argen liegt: die auseinander-driftende Wohlstands- und Einkommensschere mit steigenden Gewinnen für die Wenigen und sinkenden Mitteln für die  Vielen; das Abladen der durch zunehmende Betreuungspflich-ten entstandenen Arbeit auf Frauen, was deren finanzielle Si-cherheit und Einkommen weiter drückt; oder die Diskrepanz der Allokationen von COVID-Impfstoffen zwischen den Län-dern des Globalen Nordens und denen des Globalen Südens. Die allgemeine Frustration über die solcherart verstärk- ten Ungleichheiten sowie die Politik in der Bekämpfung der Pandemie sorgen momentan global für heftige Unruhen. Die stimmgewaltigsten Proponent*innen sind sicher im La-ger derjenigen zu finden, die gegen die teilweise schweren Eingriffe in Grundrechte, die Ausgangsbeschränkungen oder den Zwang, Masken zu tragen, protestieren. Jedoch gibt es auch regen Widerstand unter jenen, denen solche Maßnah-men nicht weit genug gehen, die strengere Regeln fordern und sich vortrefflich über ihre Mitmenschen aufregen kön-nen, wenn ihnen diese maskenlos zu nahekommen – die Ge-gen-Wutbürger sozusagen. In Summe polarisiert also dieses Thema wie zweifel- los kein anderes im Moment unsere globale Gesellschaft und treibt Entscheidungsträger*innen vor sich her, da sich deut-lich zeigt, wie verroht der politische Diskurs mittlerweile ist, wie sehr der Populismus greift, wie wenig Vertrauen den Entscheidungsträger*innen trotz – oder gar deswegen – von ihrem Elektorat entgegengebracht wird und wie locker die Kritik an den Herrschenden sitzt. Und die Kritik ist ja be-kanntlich der Tod des Königs (Koselleck 2018: 97). IV. WELTBÜRGER*INNENDISPUTE Am Beispiel von COVID-19 lässt sich auch sehr gut ablesen  und plastisch zeigen, wie diese gleichzeitig intern und inter-national diskutierten Themen zu globalen Polaritäten werden, wenn sich Entscheidungsträger*innen dazu aufschwingen, über die Grenzen ihres eigentlichen Machtbereiches hinaus Einfluss auf andere Entscheidungsträger*innen und Entitäten zu nehmen. Viele der Entscheidungsträger (da es sich bei den genannten Beispielen ausschließlich um Männer handelt), die seit Beginn der Weltwirtschaftskrise 2008 mittels populistischer Ankündigungen und Politiken an die Macht kamen, stehen nicht überraschend fest im Lager derjenigen, die die von CO-VID-19 ausgehende Gefahr herunterspiel(t)en. In diesem Zu-sammenhang überlappt sich die isolationistische, protektionis-tische, xenophobe und spalterische Law and Order-Politik der „starken Männer“ mit ihren Bestrebungen, sich ihre Narrative z. B. nicht von Expert*innen demolieren zu lassen. If living were a thing   that money could buy,   you know the rich would live  and the poor would die. All my trials (Traditional)


 16 | ZUKUNFT  POLARITÄTEN IM ÄUSSEREN  VON CONSTANTIN WEINSTABL So verglich der ehemalige US-Präsident Trump die Krank- heit mehrfach mit der einer saisonalen Grippe bzw. ventilierte abstruse Ideen (u. a. Injektionen von Desinfektionsmittel oder Lichttherapie), um Erkrankte zu heilen. Seine Brüder im Geis-te, die Bolsonaros, Johnsons und Orbans, taten es ihm größ-tenteils gleich und hetzten im besten Fall von einem unko-ordinierten Shutdown in den nächsten, wenn sie die Existenz der Pandemie nicht ohnehin schlichtweg vollkommen leugne-ten. Im Gegensatz hierzu verlief die Pandemie bisher in Län-dern, die von gemäßigten Entscheidungsträgerinnen (bei den genannten Beispielen handelt es sich ausschließlich um Frau-en) weitaus weniger dramatisch. So legten und legen Jacinda Ardern oder Angela Merkel auch in der Pandemie die glei-che, eher ruhige und umsichtige sowie faktenbasierte Heran-gehensweise an den Tag, wie sie dies auch bei den der Pande-mie vorausgehenden Herausforderungen taten. Diese Entscheidungsträger*innen wirken auf dem inter- nationalen Parkett wie Blitzableiter und Ikonen in Personal-union, indem sich in ihnen entweder die Verachtung derje-nigen politischen Subjekte, die der eigenen Regierung loyal gegenüberstehen, oder die Bewunderung der mit den eige-nen Herrschenden Unzufriedenen kristallisiert. Wenn sich die deutsche Bundeskanzlerin für ihren angeblich zu laschen und humanen Umgang mit seit 2015 nach Deutschland Geflüch-teten rechtfertigt, so hat sie sich gegen Anwürfe sowohl ih-rer innerstaatlichen Opposition von rechts als auch von ost-europäischen illiberalen Machthabern zu wehren, während Trumps Staatsbesuche in westeuropäischen Staaten zumeist von heftigen Protesten gekennzeichnet waren. Gegengleich wurde Trumps Vorgänger Obama im Ausland – in Abgren-zung von den jeweiligen inländischen populistische(re)n Machthaber*innen – zum säkularen Heiland verklärt und die getroffene Brexit-Entscheidung entfachte in vielen anderen Ländern der EU eine verhaltene Begeisterung für die Leave-Campaigners, die es der EU – im Gegensatz zur eigenen, feigen Regierung – „gezeigt hätten“. So werden nationale/suprana-tionale Entscheidungsträger*innen zu Figuren in einem Spiel, das auf mehreren Ebenen gespielt wird. V.  SAPERE ET SUFFRAGIUM FERRE AUDE! Zurückgespiegelt in das Innere bedeutet dies, dass die  Macht des Elektorats gleichzeitig grösser ist und schwe-rer wiegt, als zuvor angenommen. In Anlehnung an Horaz’ Worte und an deren Interpretation durch Kant im Sinne des-sen, dass man den Mut haben solle, sich seines eigenen Ver- standes zu bedienen (Kant 1999), sei ergänzt, dass man nicht nur selbst denken, sondern sich auch dementsprechend (po-litisch) einbringen und seine Stimme abgeben soll. Denn ge-rade die oben beschriebene Verquickung von Innen und Au-ßen, die Implikationen, die nationale Wahlen und politische Entscheidungen auf dem internationalen Parkett haben, das Verschwimmen von Grenzen und die tiefen Gegensätze, die unsere Gesellschaften plagen, machen es notwendig, dagegen zu halten und die eigene demokratische Verantwortung auch außenpolitisch wahrzunehmen. Es gibt keine Insel der Seligen mehr. Die Entscheidun- gen, die im Inneren getroffen werden, strahlen immer auch in das Äußere hinaus. Jede(r) Despot*in, der/die gewählt wird, ermutigt vielleicht in anderen Ecken der Welt jeman-den mit einer ähnlichen Agenda, sich ebenfalls aufzuschwin-gen. Umgekehrt hat jede Person, die sich für vernunftbasierte Demokratie, internationale Solidarität und den Kampf gegen spaltenden Populismus einsetzt, das Potenzial, international Nachahmer*innen zu finden. Während rechtspopulistische Kräfte Außenpolitik zunehmend auf eine Verlängerung von Innenpolitik reduzieren, ist es für progressive Kräfte an der Zeit, Außenpolitik zu ver-inner-lichen und sie um ihrer selbst willen zu einem wesentlicheren Teil des innenpolitischen Dis-kurses aufzuwerten, im Wissen darum, durch eigenes Han-deln anderen als gutes Beispiel vorangehen zu können. LiteraturKant, Immanuel (1999): Beantwortung der Frage: Was ist Auf klärung? In:  Kant, Immanuel: Was ist Auf klärung? Ausgewählte kleine Schriften, Hamburg: Meiner, 20–27. Koselleck, Reinhart (2018): Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese  der bürgerlichen Welt, Berlin: Suhrkamp. Ortega y Gasset, José (1996): Aufbau und Zerfall Spaniens, in: Ortega y Gas- set, José: Gesammelte Werke. Band II, Augsburg: Bechtermünz Verlag. Weinstabl, Constantin (2021): Zerfall der Internationalen Ordnung und  Alter Allianzen, in: Müller, Bernhard/Weinstabl, Constantin (Hg.): Sozialdemokratische Außenpolitik. Historisches Selbstverständnis und aktuelle Ausblicke, Wien: Promedia Druck- und Verlagsgesell-schaft m.b.H. CONSTANTIN WEINSTABL  hat an der Universität Wien und der Universiteit Leiden Rechts- wissenschaften mit den Schwerpunkten Rechtsphilosophie und   Völkerrecht sowie an der University of Hull Politikwissenschaften mit dem  Fokus Strategy and International Security studiert.   Er ist Mitglied der Redaktion der ZUKUNFT.


 ZUKUNFT | 17  Gold & Blau (2018)Acryl, Gips auf Leinwand 120 x 80 cm REINHARD SIEDER


 18 | ZUKUNFT  ZEIT ZUM UMDENKEN  VON DAWID-RYSZARD WYSOCKI Zeit zum Umdenken Der Beitrag von  DAWID-RYSZARD WYSOCKI  widmet sich den sozialen Devastierungen, die durch Neoliberalismus und  Corona-Pandemie entstanden sind und diskutiert mögliche Wege aus den Polarisierungen der Krise … I. EINLEITUNG Angesichts der Corona-Pandemie wirkt die derzeitige  Lage in allen gesellschaftlichen Bereichen sehr bedrückend, wobei sich sehr schnell erkennen lässt, dass es angesichts die-ser mehr als schwierigen Situation dringender Maßnahmen bedarf, um diese Sozial- und Wirtschaftskrise abzufangen und die Ökonomie aus der Talfahrt zu holen. Einfache und effek-tive Schritte könnten die Krise überwinden und für die Zu-kunft wegweisend und nachhaltig einen neuen Pfad erkun-den, der auch im gesamtgesellschaftlichen Interesse läge. II.  HOME OFFICE UND DEMONTAGE Dabei gibt es auch mitten in der Corona-Krise keine Fer- tigrezepte, denn gerade angesichts dieser biologischen Ge-fahr muss die Gesellschaft experimentieren und das Optimum an Lebensrettung erreichen. Nun sind die Betroffenen damit konfrontiert, über die Gesamtlage einen Überblick zu wahren und auf der anderen Seite kritische Gedanken und Ansätze zu bündeln. Wie soll das also gut gehen? Ist unsere Gesellschaft bereit, die nötigen Opfer zu bringen? Am Anfang steht immer ein kontroverser Punkt im Raum,  so z. B. die leidige Debatte darüber, ob Arbeiter*innen dafür steuerlich zu bestrafen sind, dass sie im Home Office die Bü-ros und die Einrichtungen des Dienstgebers nicht benutzen. Demgegenüber müsste es eigentlich auf der Hand liegen, dass die Arbeiter*innen mehr Geld erhalten sollten, weil sie die-se Einrichtungen und Arbeitsplätze nicht abnutzen. Vor der Zeit des Lockdowns erwirtschafteten die Arbeiter*innen die Betriebskosten für die Büro- und Fabrikseinrichtungen durch die Kraft ihrer Arbeit. Dies vor allem im Blick auf (Groß-)Unternehmen und Konzerne wie Google oder Starbucks, die in großem Maßstab von dieser Krise profitiert haben und nicht  bereit sind auf lokaler oder nationaler Ebene Steuern zu zah-len, um das öffentliche Eigentum zu unterstützen und zu schützen. Dabei hat diese polarisierende Tendenz zur Monopo- lisierung eine lange Tradition, wenn wir etwa an den Ver-kauf von Konzernteilen und (Groß-)Unternehmen ins billig produzierende Ausland denken. Ein bekanntes Beispiel da-für wäre die Demontage des Semperit-Werkes in Traiskirchen und der damit verbundene Ausverkauf von Entwicklungs-Know-How und Patenten Made in Austria. Die Kündigung von Arbeiter*innen im Sinne der betriebswirtschaftlichen Rationalisierung hat mithin im Rahmen des Kapitalismus eine lange Geschichte. Demgegenüber müssten (Groß-)Unternehmer*innen im Grunde eine dankbare Haltung zei-gen, den Arbeiter*innen Respekt zollen und die „Stand-ortsicherung“ in diesem Sinne niemals zum Thema werden lassen. III.  VON KREISKY UND KEYNES Ein erster Gedanke zur Bekämpfung dieses ökonomi- schen Missstands liegt klar auf der Hand: Die Zahl der Ar-beitssuchenden muss – ganz im Sinne Bruno Kreiskys und des Austrokeynesianismus – gesenkt werden, um eine Stärkung des Sozialwesens und der Wirtschaft zu gewährleisten. Da-mit wäre eine Senkung der Arbeitszeit auf 28 bis 30 Stunden und die Schaffung weiterer Arbeitsplätze auf gleicher Vollzeit-basis vonnöten. In diesem Sinne ist es mehr als fragwürdig, dass die 38,5- bis 40-Stunden-Woche innerhalb von kürzes-ter Zeit zerstört werden konnte, um eine 52-Stunden-Woche zu ermöglichen. Das „gesunde“ Ziel einer sozialen, demo-kratischen und ökologischen Wirtschaft wäre es hingegen zu-friedene, gesunde und motivierte Arbeiter*innen im Unter-


 ZUKUNFT | 19  nehmen zu beschäftigen, die unter diesen Bedingungen aber vielmehr unzufrieden, krank und demotiviert sind. Dabei ist die Logik der Sache klar, denn es kann im Grunde auch nicht im Interesse von (Groß-)Unternehmer*innen sein, sich mit einer solchen durch und durch verfehlten Ökonomie selbst zu schaden. IV.  VON DER BILDUNG Ein Gegengift zu dieser – zutiefst mit dem Neoliberalis- mus verbundenen – Wirtschaft stellt nach wie vor die Bil-dung dar, die ungleich wichtiger ist als die Diskussionen zur und die Realitäten der Arbeitszeitverlängerung. Daher ist Bil-dung von Anfang an – vom Kindergarten bis zur Hochschu-le – von eminenter Bedeutung. Deshalb müsste es auch egal sein, ob die Ausbildung in der Büro- oder Handwerks-Lehre stattfindet, denn die Einbindung der Matura in den Lehrbe-trieb sollte schon deshalb verbindlich sein, weil das Bildungs-system auf das Gravierendste soziale Unterschiede reprodu-ziert. Hier wird jeder vernünftige Mensch wohl zustimmen und keine Gegenargumente bringen können. Bildung ist da-her buchstäblich alles und in Österreich kann man sich mehr als glücklich schätzen, relativ geringen Aufnahmehürden im Bildungssektor und Fortbildungswesen ausgesetzt zu sein, denn auch dadurch werden zumindest einige Polarisierungen der Gesellschaft abgefangen. Bildung kann also nie ein Nach-teil sein. Warum machen wir dann nicht gleich von Beginn an alles richtig und nivellieren auf allen bildungsbezogenen Ebe-nen die sozialen Unterschiede? V.  WAS KOSTET DAS? Diese Frage geht auch in die Richtung der Finanzierung  eines hier mitgedachten Sozial- und Wohlfahrtsstaats, der von (Groß-)Unternehmer*innen (und ihren Ideolog*innen) oft genug als „totalitär“ begriffen wird, weil er angeblich die „Freiheit der Märkte“ beschränkt. Dabei ist es doch sehr sim-pel, dass die Umsätze und der Konsum gerade dann steigen, wenn mehr Arbeitsplätze vorhanden sind. Denn auch ehe-malige Arbeiter*innen, die entweder für den Markt zu alt, zu beleibt, nicht schön genug oder das falsche Kletterwerk-zeug im Leben erhielten, gehen einkaufen, um sich ernäh-ren zu können und eine Lebensgrundlage zu haben. Wieder-holen wir also, dass (Groß-)Unternehmer*innen gegenüber den Arbeiter*innen zu Dank verpflichtet sind, weil sie die Wertschöpfung durch ihre kollektive und harte Arbeit allererst garantieren können. So bleibt zu hoffen, dass auch (Groß-) Unternehmer*innen darüber nachdenken, wie wir gemein-sam auch in der Wirtschaft eine Gesellschaft möglich machen, in der es keine Ausbeutung mehr gibt. Das wäre im öffentli-chen Raum ein erster Anfang und müsste konsensual verstan-den werden. VI. SCHLUSS Leider stehen dabei immer noch (neoliberale) Argumenta- tionen im Raum, die eine progressive Demokratisierung von Ökonomie, Bildung und Betriebswirtschaft behindern. Denn warum spielen z. B. bei Bewerbungen Kategorien wie Her-kunft, Stand, Hautfarbe, Alter, Aussehen und Name eine gra-vierende Rolle? Bedauernswerter Weise haben auch auf öster-reichischen Märkten Diskriminierung und Rassismus immer noch einen festen Platz. Demgegenüber wird die Zukunft da-von abhängen, ob wir ökologisch nachhaltige Arbeitswelten in einem Sozial- und Wohlfahrtsstaat ermöglichen, die von einer sozialen und demokratischen Volkswirtschaft (als Sozialwis-senschaft) begleitet werden. Zum Abschluss also eine erfreuli-che Nachricht für (Groß-)Unternehmer*innen: Der Konsum ist Ihr Kapital, schöpfen Sie also Positives daraus, denn ihre ei-genen Arbeiter*innen werden Ihnen dankbar sein! DAWID-RYSZARD WYSOCKI  ist gelernter Yacht- und Bootbauer, Medienmanager, Radio-  Moderator und studiert Medienwissenschaften an der Universität Wien.  Als Mitglied der örtlichen SPÖ Landstraße und stvr. Sektionsleiter   der  Sektion Ohne Barrieren engagiert er sich vor Ort politisch und   ist ein scharfer Beobachter und Kritiker   der Mediensprache im politischen Kontext.


 20 | ZUKUNFT  Steine (2019)Acryl, Gips auf Leinwand 100 x 70 cm


 ZUKUNFT | 21  REINHARD SIEDER Himmel (2019)Acryl, Gesso, Gips auf Leinwand 100 x 70 cm


 22 | ZUKUNFT  NIEMALS VERGESSEN!  VON SIMON WEINGARTNER LIEBE GENOSS*INNEN, LIEBE ANTIFASCHIST*INNEN, wie jedes Jahr stehen wir auch heuer am Denkmal von  Karl Münichreiter, einem Mahnmal gegen Faschismus und Reaktion. Wie wir versammeln sich viele jedes Jahr zum Ge-denken in ihren Bezirken und Orten, um ihren Gefallenen und dem Tod der Demokratie in Österreich zu gedenken. Wie jedes Jahr denke ich mir auch heuer erneut: Es ist wich-tiger denn je, dass wir hier sind und uns unserer Geschichte bewusst sind. Die politische Situation in Österreich und weltweit ver- schärft sich immer weiter und während die extreme Rechte sich immer besser organisiert, verschiebt sich der gesellschaft-liche Konsens zusehends nach rechts. Der Kapitalismus zeigt uns wieder, angetrieben von Jahrzehnten des neoliberalen Ex-zesses, seine hässlichste Fratze. Was haben wir uns blenden lassen, als nach Ende des 2.  Weltkriegs, nach dem Sieg über den Faschismus der Kapi-talismus sich human gegeben hat, ja Wohlfahrtsstaaten und Reichtum für alle versprochen hat. Plötzlich, also durch die konkrete Bedrohung des kapitalistischen Systems durch den sowjetischen Kommunismus, konnten sich die kapitalisti-schen Staaten auf ehrenwerte Kodizes, auf Menschenrechte und Flüchtlingskonventionen einigen. Und wie wichtig wa-ren diese Erfolge, in Anbetracht der globalen Katastrophe die von 1914 an für über 30 Jahre durchgehend die Welt mit einer unvorstellbar scheinenden Zerstörungswut heimsuchte, die in der Entwicklung einer Waffe gipfelte, die das Potenzial hat-te, die gesamte Menschheit auszulöschen. So weit musste es kommen, bis zumindest am Papier alle Menschen das Recht auf ein würdevolles Leben und auf Schutz hatten. Unter diesen Eindrücken, nach den Verbrechen des Fa- schismus, als Lehre aus der Shoah wurde die Genfer Flücht-lingskonvention geschaffen, die ein „Nie Wieder!“ tatsäch-lich garantieren sollte. Und so stehen wir heute versammelt, gedenken den ersten Kämpfer*innen gegen den Faschismus und fragen uns: Haben wir diese Lektion vergessen? Haben wir nichts gelernt? Nein, wir, die hier versammelt sind, haben nicht vergessen. Doch wenn wir den Blick über diesen Kreis hinaus richten, auf die Gesellschaft in Österreich, in Europa, in der ganzen sogenannten zivilisierten westlichen Welt, dann müssen wir feststellen: Die Gesellschaft hat vergessen. Wieder fliehen Menschen vor Verfolgung, Krieg und Hunger. Und wieder werden sie abgewiesen, zurückgeschickt, gefoltert und getötet. Nicht mehr länger im geheimen, sondern vor unser aller Augen und offensichtlich, denn wir haben uns schon an die schrecklichen Bilder gewöhnt. Die Grausamkeit, vor allem der Europäischen Union, die sich immer die Verteidigung der Menschenwürde und der Humanität auf die Fahne geschrie-ben hat, erschreckt und doch überrascht sie nicht.  Der Kapitalismus ist in Bedrängnis, die enorme Ungleich- heit, die Krisen, die nicht mehr überwunden, sondern nur noch von anderen, noch größeren Krisen abgelöst werden, machen ihm zu schaffen und doch sind sie ein dem Kapi-talismus immanenter Teil. Und so wendet er sich denjeni-gen zu, die wie es die Schmetterlinge in ihrer Proletenpassi-on so wunderbar ausdrücken, im Wartesaal des Kapitals sitzen und warten, auf das nächste Mal. Die extreme Rechte erstarkt nicht nur, sie erscheint nicht nur immer größer und lauter. Sie ist auch besser organisiert, sie ist bis in die höchsten Ebe-nen des Staates eingedrungen und weiß, dass sie von diesem Staat nichts zu befürchten hat. Und sie ist inzwischen auch  Niemals vergessen! Anlässlich des Februargedenkens 2021 hat  SIMON WEINGARTNER  am Hietzinger Denkmal für Karl Münichreiter eine  klare, sehr berührende Rede gehalten und der Redaktion der ZUKUNFT freundlicherweise gestattet, sie hier ungekürzt abzudrucken …


 ZUKUNFT | 23  so selbstbewusst, um das offen zu zeigen. Egal ob in den USA oder Österreich, die Faschist*innen wissen, dass sie immer und überall aufmarschieren können und nichts zu befürchten haben von einer Polizei, die sie schützt und verteidigt, und so-wieso viel zu sehr damit beschäftigt ist, diskriminierte Grup-pen zu verfolgen, Linke zu verprügeln und Kinder und Ju-gendliche zu inhaftieren. Und die extreme Rechte ist bewaffnet. Nicht nur in den  Vereinigten Staaten, auch in Deutschland und Österreich ist bekannt, dass Waffen der Polizei und des Militärs von bekann-ten Rechtsextremen entwendet wurden und werden, das ein-schlägig Verurteilte erneut riesige Waffenarsenale aufbauen können und doch, das sind nur die bekannten Fälle. Doch die Bürgerlichen, die Konservativen sie stellen sich  nicht, wie bei jeder Forderung von links, als Vertreter*innen der Mitte dar. Nein, sie spielen im Kampf um Wählerstimmen das Spiel der Rechtsextremen mit, übernehmen ihre Forde-rungen und setzen sie in einer Konsequenz um, wie es nur ih-nen gelingen kann. Sie decken die extreme Rechte gegen lin-ke Kritik und verteidigen sie als „Besorgte Bürger“. Und sie schließen sich mit ihnen zusammen, sobald sie in ihrer Para-noia und ihrer unstillbaren Gier nur die leiseste Angst verspü-ren, von ihrer Macht getrennt zu werden. Kurz: Sie holen die Faschist*innen aus ihrem Wartesaal und bitten sie zum Tanz. Für uns Antifaschist*innen war immer klar, dass Men- schenrechte und Demokratie für Kapitalist*innen immer nur dann wünschens- und verteidigenswert sind, solange sie ih-nen opportun sind. Es war uns klar, dass „Nein zum Faschis-mus“ auch ein „Nein zum Kapitalismus“ implizieren muss, denn sonst ist es eine leere Phrase. Und die Zeit der Phrasen ist vorbei. „Schluss mit Phrasen, vorwärts zu Taten“. Dieser Spruch  der Revolutionären Sozialist*innen sollte auch zu dem uns-rigen werden. Denn es reicht nicht mehr, vor den Anfängen zu warnen. Wir müssen uns gegen sie wehren, denn sie sind längst da. Und wir werden damit nur erfolgreich sein, wenn wir es wagen, neue Bündnisse einzugehen und diese aktiv einzufordern. So fordere ich von der Sozialdemokratie, aus ihrer Ge- schichte zu lernen und sich nicht wieder, nie wieder, so zö-gerlich, unentschlossen und um Konsens mit der Reaktion be- müht zu geben, wie sie das vor den Kämpfen im Februar 1934 getan hat. Sie muss sich aktiv gegen den erstarkenden Rechts-extremismus und alle, die ihn heraufbeschwören und unter-stützen, stellen. Es kann nicht sein, dass in Wien, dieser stol-zen sozialdemokratischen Stadt, Reaktionäre, Faschist*innen und Nazis zu Tausenden und unter Polizeischutz ungestört durch unsere Stadt spazieren können, ohne dass sich die Sozi-aldemokratie hörbar dazu äußert. Wir dürfen das den Rech-ten auf der Straße und im Sicherheitsapparat nie durchgehen lassen. Daher erwarte ich mir, dass wenn ihn Wien Faschist*innen  und Polizist*innen gemeinsam einen Sonntagspazier-gang unternehmen und dabei Journalist*innen und lin-ke Gegendemonstrant*innen attackiert werden, dass sich die Wiener Sozialdemokratie vom Bürgermeister abwärts of-fen gegen die Verbrüderung von Rechtsextremen mit den Träger*innen des staatlichen Gewaltmonopols ausspricht. Ich erwarte aber auch offene Solidarität mit allen, die sich tatsächlich auf der Straße gegen den Faschismus stellen und versuchen, rechtsextreme Aufmärsche zu verhindern. Dem-gegenüber fordern wir Solidarität mit allen, die unter der Repression des Polizeiapparats zu leiden haben, von diskri-minierten und marginalisierten Gruppen bis zum Fußball-fan. Wir brauchen Solidarität mit allen, die um Schutz suchen und der ihnen viel zu oft verweigert wird. Nur mit Solidarität kann Vertrauen entstehen und nur mit Vertrauen ein Bündnis für den gemeinsamen Kampf. Falls es uns nicht gelingt, diese Bündnisse zu schmieden,  so erleben wir jetzt erst einen Vorgeschmack dessen, was noch folgen wird. Auf die Coronakrise folgt die Klimakrise und  Simon Weingartner am Denkmal für Karl Münichreiter © Armin Parsian / Rote Falken


 24 | ZUKUNFT  NIEMALS VERGESSEN!  VON SIMON WEINGARTNER wenn es schon unmöglich scheint, für eine raschest mögliche Impfung aller Menschen die Profitinteressen einiger weniger Konzerne hintanzustellen, wie soll es dann gelingen, der Kli-makrise entsprechend gegenzusteuern? Wenn es schon unmöglich scheint, einige tausend Flüch- tende in Europa aufzunehmen, was wird dann passieren, wenn sich Millionen, Milliarden auf den Weg machen müssen, aus Angst vor Hunger, Zerstörung und Tod, verursacht durch die Klimakrise? So werden sich die Krisen im Kapitalismus immer wei- ter zuspitzen und die entscheidende Frage ist: Schaffen wir es, eine neue Gesellschaft zu errichten, in der die Bedürfnisse al-ler Menschen an erster Stelle stehen oder wird der Faschismus des 21. Jahrhundert den des 20. an Grausamkeit, Gewalt und Unterdrückung noch um ein Vielfaches übertreffen? Sozialismus oder Barbarei. Vor über 100 Jahren brachte es  Rosa Luxemburg auf den Punkt. Wir haben gesehen, wohin die Barbarei einmal geführt hat. Kämpfen wir gegen die Bar-barei, so wie die Freiheitskämpfer*innen des Februar 1934 ge-gen sie gekämpft haben, doch versuchen wir, aus den Fehlern unserer Genoss*innen zu lernen, wagen wir es neue Wege zu gehen und vermeiden wir dabei die alten Fehler, um neue be-gehen zu können. Denn am Ende unseres fehleranfälligen und von Rückschlägen gezeichneten Weges steht der Sozialismus, doch nur wir gemeinsam, können den Weg dorthin schaffen. Es lebe die Freiheit! Nie wieder Faschismus! SIMON WEINGARTNER  ist Landesvorsitzender der Roten Falken Wien,  Lehramtsstudent in Geschichte und Mathematik und  seit 2016 in der Sozialdemokratie in Wien Hietzing aktiv.


 ZUKUNFT | 25  REINHARD SIEDER Blauer Buchstabe (2019)Acryl, Gips auf Leinwand 150 x 100 cm


 26 | ZUKUNFT  DIE GEISTER, DIE WIR RIEFEN  VON ZARAH WEISS Die Geister, die wir riefen In ihrer neuen Erzählung  Die Geister, die wir riefen reflektiert die Autorin  ZARAH WEISS  über die Polarität von Geist und  Maschine. Ihre Auseinandersetzung mit den Wechselwirkungen zwischen Mensch, Tier und Maschine verdeutlicht die Not-wendigkeit eines Um- und Neudenkens der gewohnten Verhältnisse. Als meine Schwester zu rauchen begann, verkündete mei- ne Mutter die Wahl eines neuen Papstes. Sie rief uns zu sich, die Tränen standen ihr schon in den Augen. „Schaut euch das an!“, rief sie, „Schaut euch eure Schwester an!“ Und sie musste für mich die mit Blumen bestickte Vorhangsbordü-re am Fenster ein wenig zur unteren Seite drücken, damit ich sehen konnte, was sie und mein größerer Bruder Karl schon längst sahen: „Habemus Papam!“, rief Mutter. Aus dem Fens-ter blickten wir auf eine Mauer, hinter der die Schweineba-racken und der Kuhstall lagen, eine Mauer, hinter der auch Marta lag, auf einem der wenigen Flecken Gras am Hof, der noch nicht zu Heu verarbeitet worden war. Wir konnten sie nicht sehen, aber ich hatte genau vor Augen, wie sie dort einen Arm hinter ihrem Kopf verschränkte, in den Himmel blickte, genüsslich an ihrer Zigarette zog und versuchte, Fi-guren in den Wolken zu lesen. Die erste Melkzeit war vor-bei, also war die Wahrscheinlichkeit, dass sie entdeckt werden würde, gering. Aber sie hatte nicht bedacht, was wir deut-lich sichtbar zum Himmel aufsteigen sahen: den dünnen wei-ßen Rauch. Karl begann zu lachen, ich lachte mit, obwohl ich nicht gleich verstand, worüber. „Seht euch nur eure Schwes-ter an“, sagte Mutter, „sie ist sogar zu dumm, um heimlich zu rauchen!“ Und dann ließ sie den Vorhang wieder los, ging kopfschüttelnd und prustend in die Küche: „Womit habe ich so eine dumme Tochter verdient!“ Eine Woche später schnitt sich Marta die Haare raspel- kurz. Sie musste es heimlich während der Schulzeit getan ha-ben, vielleicht irgendwo hinter dem Gebäude, denn als wir morgens zusammen aus dem Haus gegangen waren, well-ten sie sich noch über ihre Schultern und als sie nachmit-tags nach Hause kam, stieß unsere Mutter einen spitzen Schrei aus, stand vom Stuhl auf, durchschritt die Küche in wenigen,  forschen Schritten und schlug Marta einmal mit der flachen Hand ins Gesicht. Nicht fest, wahrscheinlich hatte es nicht einmal weh getan, aber dennoch hatte ich das Gefühl, dieses klatschende Geräusch würde in meinen Ohren dröhnen. Ich saß am großen Holztisch und schlug mich mit Prozentrech-nung auseinander, ich war wie immer etwas früher zuhause als die anderen beiden und war wie immer noch mit den Haus-aufgaben beschäftigt. 15, 15, 15 sagte ich noch eine Weile lautlos vor mich hin,  bewegte die Lippen, den Stift in der rechten Hand. Es war die letzte Zahl, die ich mir gemerkt habe und die einzige Mög-lichkeit, dieser Stille etwas entgegenzusetzen. Ich wagte es nicht, mich zu bewegen. Unsere Mutter stand mit dem Rü-cken zu mir, ganz still, ihre Schultern bebten nicht, ihre Hand hatte sie gesenkt. „Du wirst es Vater selbst sagen müssen, Marta. Ich gehe in  den Stall.“ Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab und ging an ihr vorbei hinaus. Ich blickte ihr mit offenem Mund hinterher. Marta zuckte mit den Schultern, kam zu mir, strich mir über die Haare, „Versprich mir eins, Eddl“, sagte sie – und oh, wie ich es hasste, wenn sie mich so nannte – „Wir werden nie so.“ An diesem Tag ging ich wieder heimlich zu den Kälbern.  Ich wusste, dass meine Eltern beide im Kuhstall waren und ich dort nach meinen Hausaufgaben hätte helfen müssen, aber bei den Kälbern konnte ich mich immer wieder verstecken, meist, wenn ich mich unverstanden fühlte. Wenn ich mich klein fühlte. Die Kälbchen waren genauso klein und sie konn-ten noch weniger einordnen als ich, sie waren ängstlich und hilflos und sie waren vor allem allein. Getrennt von den Müt-


 ZUKUNFT | 27  tern, überfordert, so standen sie mit staksigen Beinen im Stroh und sahen mich mit großen Augen an, wichen zurück, wenn ich eine zu schnelle Bewegung machte oder versuchte sie zu berühren. Meistens reichte es mir, sie einfach nur anzuschau-en, ihre Flecken zu zählen, ihnen Namen zu geben. Heu-te aber öffnete ich mit einer vorsichtigen Handbewegung das kleine Gatter und suchte mir eine Stelle im Stroh, die nicht vollgepinkelt war. Da saß ich dann, bei meinem Lieblingskalb, das ich Pitzi genannt hatte und das ganz hell war, nur weni-ge schwarze Flecken hatte es. Es starrte mich an, ging ein paar Schritte rückwärts, blieb schließlich stehen. Ich berührte ganz sanft die Flanke, richtete mich auf, legte eine Hand flach auf Pitzis Nase. „Alles wird gut, Pitzi“, sagte ich ganz leise und das Kalb stand still. Ich bildete mir immer ein, dass es mich erkannte, am Geruch, an meiner Stimme. Die Kälber waren noch kleiner als ich. Sie hatten noch weniger Ahnung von der Welt als ich. Wenn ich bei ihnen war, dann war ich diejenige, die sie beruhigen konnte, die ihnen Dinge erklären konnte. „Alles wird gut“, sagte ich noch einmal, als meine Eltern  mich irgendwann riefen, um ihnen beim Melken zu helfen und dann kletterte ich über das Gatter und lief zum Kuhstall, ohne mich noch einmal umzudrehen, weil ich doch wusste, dass nichts gut werden würde. Marta würde irgendwann ge-hen und sie würde nicht wieder zurückkommen auf diesen Hof und Pitzi würde bald abtransportiert werden zur Schlach-tung wie all die anderen jungen Stiere, zu denen ich eine kur-ze Beziehung aufgebaut hatte und die dann verschwanden und das war genauso normal, wie dass ich andere aufwachsen sah und sie in den Melkstall lotste, wo Mutter oder Vater dann auf ihren Plastikschemeln saßen. Martas Verhalten schien keine weiteren Konsequenzen zu  haben. Nur das Abendbrot verlief stiller als sonst, als wür-den wir uns alle nicht trauen, etwas zu sagen. Sie verschwand nach dem Essen schnell in unserem Zimmer und als ich die letzten Aufgaben am Küchentisch gerechnet hatte, nach oben ging und die Tür öffnete, hatte sie das Licht schon ausge-schaltet, lag im Bett und tat so, als würde sie schlafen. Ich sag-te ihren Namen, ihr Atmen blieb konstant. Als ich mich ins Bett legte, zog ich die Decke bis zu meiner Nasenspitze und stellte mir vor, wie ich wohl von oben aussah, mit meinen schmalen Augen, die ich versuchte, weit offen zu halten und an die Decke zu starren und mit meinen hellen, fast gelben Haaren. „Hallo“, sagte ich leise zu der imaginären Person, die mich dort aus der Vogelperspektive betrachtete. Marta bewegte sich: „Edda, jetzt sei mal leise, ich will schlafen!“  Sie drehte sich mit dem Rücken zu mir. „Ok“, sagte ich und zeichnete die Umrisse der Möbel mit meinem Kopf nach, den Tisch, die zwei Stühle, den großen Kasten. Als Kind hat-te Marta immer wieder hineingetreten, aus Angst vor Geis-tern oder Monstern. Sie hatte mich dann nie als Erste ins Zimmer gehen lassen, um mich zu beschützen und weil ich die Monster sowieso nicht richtig vertrieben hätte. Also hat-te ich immer hinter ihr gewartet, sie dabei beobachtet, wie sie ein paar Sekunden vor der Zimmertür verharrt und sich in die kämpferische Stimmung gebracht hatte. Sie war sechs Jahre älter als ich und ich hatte sie immer beobachtet, meine Hände im Saum meines Kleids verkrampft. Nach dieser kur-zen Rückbesinnung hatte Marta tief Luft geholt, die Klinke heruntergedrückt und die Tür mit einem solchen Schwung geöffnet, dass sie knallend gegen die Wand geschlagen war. Was immer sich dahinter versteckt hatte: Es war auf jeden Fall platt und mausetot. Danach hatte Marta kurz dort gestanden, wie um diesem Knall zu lauschen, schließlich war sie mit ei-nem Schritt hineingetreten. Ich war dann immer hinterher-geschlichen, meine Aufgabe war es gewesen, das Licht hin-ter ihr anzumachen, dazu hatte sie keine Zeit gehabt in ihrer schwierigen Mission. Ich war ihre Gehilfin gewesen, hatte die Drecksarbeit für sie erledigt, so wie sie es manchmal genannt hatte. Das bedeutete: in ihrem Schatten stehen, das Licht für sie anmachen, so zu tun, als sei ich nicht da, um die Geister nicht vorzuwarnen. Ich hatte dann immer an der Wand ge-lehnt, Marta beobachtet. Wie sie eine Sekunde im Raum ge-standen hatte, bis sich ihre Augen wieder an das plötzliche Licht gewöhnt hatten. Meine einzige Aufgabe war es gewe-sen, im Schatten zu stehen, also hatte ich nie etwas gesagt. Dann hatte sie einen Entschluss gefasst, es war immer dersel-be gewesen, immer war sie zuerst zum Bett gegangen. Mit stampfenden Schritten, mehrmals darunter getreten. „HA!“, hatte sie gerufen. Wäre ich ein Geist gewesen, hätte ich mich schon von ihrem Schrei in Luft aufgelöst, aber ich war nur ihre kleine Schwester und hatte bloß den dummen Gedanken gehabt, ob Geister sich in Luft auflösen konnten, wenn sie doch eigentlich aus Luft bestanden. Einmal hatte ich diesen Gedanken laut ausgesprochen, Marta hatte sich ruckartig zu mir umgedreht. „Als ob es hier nur um Geister geht, Edda“, hatte sie laut und zischend gesagt. Das war der letzte Abend gewesen, an dem sie dieses Ritual vollzogen hatte. Jedes Mal danach hatte sie sich zwar noch misstrauisch im Zimmer um-gesehen, aber immer wieder selbst das Licht eingeschaltet und so getan, als sei sie eine normale Erdenbürgerin, die nur das glaubte, was sie vor sich sah. Mit dieser Nacht war etwas zwischen uns getreten, wir hatten ein Band verloren, unsere 


 28 | ZUKUNFT  DIE GEISTER, DIE WIR RIEFEN  VON ZARAH WEISS gemeinsame unausgesprochene Mission. Oft, wenn ich den Kasten öffnete, fragte ich mich, ob sie wie ich daran denken musste, wie sie in einem letzten Schritt zu diesem Kasten ge-gangen war, ihn mit einer fließenden Armbewegung geöff-net und mehrmals hineingetreten hatte, laut ächzend. Was auch immer darin gewesen war, nun war es zertreten wor-den. Manchmal war dabei ein Kleidungsstück herausgefallen, wie ein kleiner, toter, weißer Geist, der sich Marta zu Füßen legte und sie zur Siegerin erklärte. Erst dann hatte sie sich zu mir umgedreht, mich zum ersten Mal wirklich angesehen. Ich hatte nichts gesagt, hatte das Gefühl gehabt, dass wir uns auch ohne Worte verstanden. In diesem Moment hatte ich mich nicht wie das Nesthäkchen gefühlt, sondern wie eine ebenbürtige Partnerin, wie eine, die verstand, die keine un-nötigen Anweisungen brauchte. In den Tagen, in denen Marta sich die Haare abschnitt,  war all das vorbei gewesen. Ich frage mich, ob ich ihr mehr Fragen hätte stellen müssen, ob wir ein anderes Ritual hät-ten finden müssen. Ob ich sie immer wieder hätte versuchen müssen zu überzeugen, mit mir auf Geisterjagd zu gehen. Was wäre passiert, wenn ich an diesem Abend nicht an unse-re Kindheit gedacht, sondern sie gebeten hätte, auch mir die Haare zu schneiden? Als ich am nächsten Morgen früh aufwachte, war das Bett  neben mir leer, die Laken kalt. Sie musste noch am Abend gegangen sein. Vielleicht war  sie auf der Straße zwei Kilometer weiter bei einem der LKW-Fahrer eingestiegen, die manchmal die Umgehungsstraße nut-zen, um die Staus auf der Autobahn zu vermeiden. „Wie kannst Du so etwas verschlafen?“, fragte mein Bru- der Karl mich mehrmals am Tag, zwei Wochen lang. Meine Mutter weinte und sah niemanden von uns an. Einmal beob-achtete ich durch den Türspalt, wie sie eine von Martas Ho-sen anprobierte. Meine Schwester hatte fast alles dagelassen, sogar ihre Bücher, von denen sie immer betont hatte, dass ich zu jung dafür war. Ich nahm sie jeden Abend eins nach dem anderen aus dem Regal und blätterte zwischen den Seiten. Zwei Wochen, nachdem Marta vom Hof verschwunden  war, kauften meine Eltern eine Melkmaschine. Von den be-nachbarten Höfen kamen alle herübergelaufen, um sich die neueste Technik anzuschauen. „Das Geschäft wartet nicht“, sagte mein Vater dann immer und polierte stolz das Metall,  zeigte, wie er die einzelnen Pfropfen an die Zitzen ansetzen konnte und die Milch dann automatisch durch die Schläuche lief. Die Melkstation: Ein Gang, durch den eine Kuh nach der anderen walkte. Sie kamen freiwillig von der Weide. Wenn alle Leute weg waren, seufzte mein Vater tief und sagte vol-ler Bitterkeit: „Es ist, wie es ist, eine helfende Hand weniger.“ Das war das einzige Mal, dass er Karl und mir gegenüber An-sätze von Gefühlen wegen Martas Verschwinden zeigte. Ich würde ihn gern fragen, wie es für ihn war. Als er starb, schick-te ich Marta eine Email. Sie antwortete mir, aber es ging ihr zu dem Zeitpunkt nicht gut. Sie kam nicht zu seiner Beerdi-gung. Nie hatte sie mir über ihr Verhältnis zu Vater erzählt. Und immer, wenn ich meinen Bruder Karl jetzt wieder auf  dem Hof besuche, sind die Weiden und Felder um die Häu-ser leer und alle helfenden Hände aus Metall. Karl und seine Frau haben die Kuhställe so ausgebaut, dass die Kühe von dort unmittelbar in die Melkstation gehen können. Auf der Wiese sind die meisten von ihnen gar nicht mehr, ihr Kraftfutter ist perfektioniert, sie geben bis zu 50 Liter am Tag. Die Schwei-nebaracken sind verschwunden, die Kälber stehen in kleinen Boxen, in denen sie sich meist verstecken, wenn ich zu Be-such komme. Manchmal erinnert mich eines von ihnen an Pitzi. Er wurde drei Wochen, nachdem wir die Melkmaschi-ne hatten, abgeholt, verschwand fünf Wochen nach Marta. Ich komme nach Hause, um Mutter zu besuchen, die kaum noch sprechen kann. Oft setzt sich Karls Frau dazu, für ein paar Minuten, bis sie wieder zurück zum Melken muss. Keins ihrer Kinder zeigt Anzeichen, den Hof übernehmen zu wol-len. Wenn Marta sehen würde, wie sich der Kuhstall verän-dert hat, würde sie auf dem Absatz wieder umdrehen, den-ke ich manchmal. Aber was weiß ich schon. Was kenne ich schon von ihr bis auf ein paar Emails, die wir uns senden. Manchmal schreibt sie mir, dass ich sie besuchen soll, manch-mal schreibt sie mir, dass sie mich besuchen will. Manchmal senden wir uns Buchtipps. Manchmal nennt sie mich in der Anrede „Eddl“ und das fühlt sich dann seltsam an, viel zu nah, als hätte sie mich erwischt, wie ich bei den Kälbchen im Stall sitze, mit ihnen rede und mich vorm Melken drücke. Manch-mal frage ich mich, ob sie wohl versehentlich Milch von Karls Kühen trinkt. Die Milch, die zu Spottpreisen in den Regalen steht und von der er einen noch spöttischeren Anteil erhält. „Milch von unglücklichen Kühen und unglücklichen Bau-ern“, witzelt seine Frau manchmal. Wenn ich unserer Mutter erzähle, dass der Stall so groß ist, weil nun über 200 Kühe da-rin stehen, ruft sie laut: „Nein!“ und schüttelt den Kopf. „Das gibts ja gar nicht!“, wiederholt sie dann immer wieder.


 ZUKUNFT | 29  „Warum stehen die armen Kälbchen hier ganz allein?“,  fragt mich meine Tochter ab und zu, versucht ihnen über die Nase zu streicheln. Und wenn ich ihr dann erkläre, wo-her die Milch kommt, sehe ich mich auf dem Stroh sitzen, allein, weit weg von Bezugspersonen, ich sehe mich immer wieder allein in Martas und meinem Zimmer aufwachen und ich weiß, wieso ich geschlafen habe, als sie ging. Ich weiß, was mich von den Kälbern unterscheidet: Ich wusste, dass sie gehen würde. Ich wusste, dass sie mich allein zurücklas-sen würde, hinter den Gattern zu unserem Hof und ich ließ sie gehen. ZARAH WEISS  lebt als Autorin und Literaturwissenschaftlerin in Wien.  Wiener Literatur Stipendiatin 2021. Zuletzt erschien ihre Erzählung  Die Kemenate (Czernin Verlag 2020).


 30 | ZUKUNFT  POLARISIERUNG, MEDIEN UND KONFLIKTE  VON CHRISTIAN SWERTZ I. EINLEITUNG Ein Mensch kann ein Pol der Ruhe sein. Damit davon  gesprochen werden kann, braucht es eine bewegte, aufgereg-te oder hektische Umgebung. Ähnlich ist es bei der Erde, die sich um ihre Achse dreht, mit der die relativ ruhigen Erd-pole markiert werden. Und auch an den Polen einer Batte-rie ist es eher ruhig – die Bewegung findet dazwischen statt. Auch mit polarisierten Menschen wird Aufregung und Unru-he verbunden, was allerdings, wenn beides zusammen gedacht wird, eher an der hektischen Bewegung zwischen polarisier-ten Menschen liegt, und weniger daran, dass die polarisierten Menschen sich bewegen. II. BEWEGUNGEN Genau diese fehlende Bewegung ist im politischen Feld  ein Problem. Das politische Feld entsteht, sobald Menschen ein Gemeinwesen gründen, was wiederum unausweichlich ist. Nicht unbedingt erforderlich ist allerdings, dass in diesem Feld Pole erzeugt werden, denn zunächst einmal handelt es sich beim Gemeinwesen um ein diffuses Feld mit sehr vielen verschiedenen Auffassungen – mitunter sogar mehr Auffassun-gen als Menschen, denn ein Mensch muss sich mit sich selbst nicht einig sein. Wenn manche Menschen sich aber mit ei-nigen anderen über eine Auffassung verständigen und andere sich wieder über eine andere Auffassung verständigen, kommt es zu einer Polarisierung, verbunden mit einer Spannung zwi-schen den Polen. Das erschwert die freie Bewegung, weil in ei-nem polarisierten Feld die Bewegung zwischen den Polen viel wahrscheinlicher ist als ein heiter-zielloser Spaziergang – wenn es denn überhaupt eine Bewegung zwischen den Polen gibt. Machen wir uns das Vergnügen, noch ein wenig mit der  Metapher der Batterie zu spielen: Wenn eine Verbindung zwischen den Polen der Batterie besteht, führt die Bewegung zwischen den Polen dazu, dass die Spannung abgebaut wird. Die Polarisierung verschwindet. Es entsteht ein spannungslo-ser Zustand. Im politischen Feld könnte das auch als Frieden bezeichnet werden. Es ist der friedliche Zustand, in dem freie Bewegung möglich wird. Genau das ist, wenn man Ethik überhaupt für möglich hält,  wünschenswert: Frieden und Freiheit ist Krieg und Zwang vorzuziehen – und zwar im Falle politischer, wirtschaftli-cher und militärischer Kriege und Zwänge. Leider führt das in einen Widerspruch, weil es Menschen gibt, die Krieg und Zwang vorziehen. Dabei ist allerdings ein Kompromiss mög-lich, denn die Menschen, die unbedingt Krieg führen wollen, können sich ja andere suchen, denen auch an Krieg gelegen ist, sich dann bekriegen und zwingen so viel sie wollen, ohne damit anderen zu schaden. In dieser Hinsicht hat sich die freie Marktwirtschaft allerdings nicht bewährt, weil es sehr häufig zu Kollateralschäden (etwa in Form von Ausbeutung) kommt. III.  MEDIOLOGIE UND MEDIENKONZENTRATION Hier geht es aber nicht um Ökonomie, sondern um Me- diologie. Denn ein wesentliches Mittel für die Bewegung im politischen Feld sind Medien, mit denen Öffentlichkeit er-zeugt und markiert wird. Medien können einerseits Orte der Freiheit und des Friedens sein, an denen Menschen ihre Auf-fassungen äußern und die Auffassungen anderer zur Kennt-nis nehmen können, um sich in heiter-zielloser Bewegung in  Polarisierung, Medien  und Konflikte Angesichts der Polarisierung(en) unserer Gesellschaften analysiert der Medienpädagoge  CHRISTIAN SWERTZ  den   Zusammenhang von Medien(konzentration) und der demokratischen Fähigkeit in der Öffentlichkeit Konflikte auszutarieren. Dabei plädiert der Autor nachdrücklich für den Aufbau von Konfliktlösungskompetenz.


 ZUKUNFT | 31  diesem Feld frei und friedlich zu bewegen. Kant hat das ein-mal als Gelehrtenrepublik bezeichnet. Entscheidend ist dabei, dass es sich beim öffentlichen  Raum um einen machtlosen Raum handelt. Wenn ich mei-ne Meinung hier äußere, hat das ja keine Konsequenzen. Das ist etwa bei parlamentarischen Debatten ganz anders. Denn wenn Gesetze erlassen werden, hat das Konsequenzen. In der Öffentlichkeit kann zwanglos debattiert werden, denn da Handeln keine Konsequenzen hat, ist es auch nicht nötig, die Folgen des Handelns zwingend zu bedenken. Es ist möglich, mit Ideen zu spielen. Das ändert sich allerdings – und an dieser Stelle ist es doch  nötig, noch einmal auf die Ökonomie zurückzukommen –, wenn mit öffentlichen Äußerungen Geld verdient wird. Denn dann ist es mit der spielerischen Freiheit vorbei. Mit dem Zwang, Gewinn zu machen, wird öffentliche Freiheit been-det, weil Gewinn immer der mögliche Verlust gegenüber-steht, der bis zum Marktaustritt, also zum Tod führen kann. Und genau das ist eine Polarisierung, wenn nicht sogar die entscheidende Polarisierung im Feld der Medien. Die Folgen dieser Polarisierung sind leicht sichtbar, wenn  etwa Auflagenhöhen, Einschaltquoten und Klickraten als Währung der Aufmerksamkeitsökonomie betrachtet werden. Die lassen sich kontrollieren, indem Marktsegemente definiert und adressiert (wenn nicht gar polarisiert) werden. Ein traditi-onelles Beispiel in Österreich sind der Standard und die Presse, deren Inhaber*innen Marktsegmente erzeugt und polarisiert haben. Als relevanter wird allerdings meist die Polarisierung zwischen bürgerlichem (die da oben) und proletarischem (wir hier unten) Marktsegment gesehen. Eine Möglichkeit der Risikominimierung bei gleichzeiti- ger Profitmaximierung wurde dabei vom Inhaber von Kronen-zeitung und Kurier gewählt, die verschiedene Marktsegmente adressieren, aber beide zu etwa 50 % der Funke-Mediengrup-pe gehören. Dieses Beispiel ist zugleich eines für das, was in der Mediologie weltweit zu beobachten ist und als Me-dienkonvergenz bezeichnet wird: Es gibt zwar immer mehr Medien. Über diese Medien verfügen aber immer weniger Unternehmer*innen. Besonders gut sichtbar wird das an digitalen Medien. Es  gibt zwar sehr viele YouTube-Kanäle, mit denen sehr verschie-dene Marktsegmente adressiert werden, sehr viele Apps, die für  Android angeboten werden, und viele Suchergebnisse, die mit einer „Googlesuche“ gefunden werden können – aber all das gehört Alphabet und wir damit von nur einem Unternehmen kontrolliert, das dementsprechend profitiert. Dieses Unter-nehmen steht zwar in Konkurrenz zu anderen Unternehmen. Aber das ist kein funktionierender Markt, sondern ein Oli-gopol. Darum erzeugen diese Unternehmen Polarisierungen. IV.  PROFITE, WISSEN UND FREIHEIT Dabei gilt, dass mehr Polarisierung gut fürs Geschäft ist,  weil das unternehmerische Risiko minimiert wird und zu-gleich die Spannung für das Publikum steigt, was Aufmerk-samkeit erzeugt, die wieder in Profite konvertiert werden kann. Dafür genügt es, verschiedene Auffassungen in Polen zu bündeln, also ein multipolares System zu erzeugen. Das erfordert nur einfache statistische Auswertungen, mit denen Mengen gebildet werden können. Und genau das wurde mit den Algorithmen, die digitale Nachrichten individualisieren, implementiert. Diesem Interesse kommen digitale Medien aber nicht nur  wegen der Polarisierung mit Algorithmen entgegen: Mit ei-nem physikalisch digitalen Gerät (z. B. einem Smartphone) können verschiedene Medien simuliert werden, indem ein-fach eine Anwendung gestartet wird. Damit kann das Smart-phone in einen Fernseher, ein Radio, eine Zeitung, ein Tele-fon oder einen Radiosender umgebaut werden. Nun ist es für Benutzer*innen recht einfach geworden,  diese Struktur zu sehen. Denn durch die Nutzung der Vielfalt digitaler Kanäle und das unterschiedliche Wissen, das in die-sen Kanälen zur Verfügung gestellt wird, konfrontieren sich die Benutzer*innen mit verschiedenen Auffassungen. Es mag zwar Filterblasen geben – aber automatische Prozesse ermög-lichen nur wahrscheinliche, aber keine sicheren Vorhersagen. Daher entstehen Widersprüche, die nur mit viel Mühe igno-riert werden können. Diese Widersprüche entstehen auch, weil es nicht einfach  ein wahres Wissen gibt. Dass es nur ein wahres Wissen gibt, kann nur suggeriert werden, indem die absolute Wahrheit ei-ner „Blase“ durch Zwang festgelegt wird – eine Strategie, die meist als Dogmatismus bezeichnet wird. Dabei muss Zwang ausgeübt werden, weil die Bedeutung von Zeichen, also von Wörtern, Bildern, Sprache usw. nicht determiniert, sondern immer auch beliebig ist.


 32 | ZUKUNFT  Der Vorteil einer dogmatisch kontrollierten Blase ist, dass  Menschen, die alle in derselben Blase stecken, kaum in einen Krieg miteinander eintreten. Das legt es um des Friedens wil-len nahe, genau das zu tun – eine Idee, die Comenius, der Be-gründer der Didaktik, als Pansophie bezeichnet hat. Im Mit-telpunkt steht dabei die Idee, dass Lernende in Schulen immer nur ein Buch, nämlich das richtige Buch, lesen dürfen. Come-nius hat unter anderem die Lektüre von Plato und Aristote-les verboten, denn beide vertreten verschiedene Auffassungen, was zur Polarisierung führen kann. Und die hat Comenius zu Recht Sorgen bereitet, hatten doch Katholik*innen seine Frau und seine Kinder, die keine katholischen Christ*innen waren, im Dreißigjährigen Krieg getötet. Der Nachteil ist, dass dieser Frieden ohne Freiheit daher- kommt. Wünschenswert ist aber beides: Freiheit und Frie-den. Freiheit und Frieden, das hat das letzte Beispiel gezeigt, können nicht einfach harmonisch ineinander aufgelöst wer-den (das gelingt Menschen schon für sich selbst kaum). Wie aber kann ein friedlicher Umgang mit den polarisierten Kon-flikten zwischen Aristoteliker*innen und Platoniker*innen, Katholik*innen und Protestat*innen, Kapitalist*innen und Arbeiter*innen oder Digitalkultur und Printkultur erreicht werden, ohne dabei die Freiheit auf ’s Spiel zu setzen? V.  WENN SCHULEN STREITEN … Schön wäre es, wenn die Wissenschaft dazu Antworten  entwickelt hätte, die in der Wissenschaft überzeugend gelebt werden würden. Das ist aber nicht der Fall. Es gibt in al-len Wissenschaften seit Jahrhunderten Schulenstreits, und es ist bisher nicht gelungen, Institutionen zu etablieren, in de-nen Schulenstreits so ausgetragen werden können, dass auf die Ausübung von Zwang, etwa durch die Verweigerung von Promotionen, Blockaden in Berufungsverfahren oder ne-gative Gutachten in Veröffentlichungs- und Drittmittelver-fahren zuverlässig verzichtet werden würde. Vielmehr ha-ben Wissenschaftler*innen zwar die schöne Freiheit pluralen Wissens möglich gemacht, sind aber nicht immer gute Vor-bilder für den Umgang mit Polarisierungen. An einem Man-gel an Theorien lag und liegt das nicht: Die Idee der Ge-waltenteilung, mit der anders Denkenden Freiheit jederzeit zugestanden wird, ist als Organisationsprinzip für Universi-täten durchaus prominent vorgeschlagen worden. Die Mög-lichkeiten der friedlichen Bewegung zwischen diesen multip-len Polen sind aber in der Wissenschaft nicht immer genutzt worden. Eine Methode zur Bearbeitung der Aufgabe, in Freiheit  und Frieden zu diskutieren, ist also weder in der Wirtschaft noch in der Wissenschaft überzeugend umgesetzt worden. Es ist aber auch klar, dass eine solche Methode wenig hilfreich wäre, denn die müsste zumindest denjenigen, die unter sich nicht in Frieden leben wollen, verbieten, das zu tun. Damit ist klar: Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur sel-ber tun. VI. CONCLUSIO Entscheidend ist dabei zunächst, dass jeder Mensch sich  in der Tat befreien kann, wenn er will. Es ist daher mög-lich, Menschen zu überzeugen, und nicht nötig, Menschen zu zwingen. Wenn Sie sich nicht befreien wollen: Bitte, ger-ne. Es ist durchaus verständlich, sich der derzeitig herrschen-den Ideologie, die mit Marktmechanismen und Filterblasen als Zwangsmechanismen markiert werden kann (verzeihen Sie mir bitte die polarisierte Formulierung), hinzugeben. Nötig ist es aber auch in diesem Fall, dass Sie tolerieren,  dass es Menschen gibt, die das anders sehen. Das ist kein gro-ßes Problem, weil Sie sich ja dafür entschieden haben, sich zwingen zu lassen. Also können Sie einfach dazu gezwungen (oder, etwas schöner: erzogen) werden, solche anderen Sicht-weisen zu tolerieren. Eine mediologische Methode dafür ist, Sie dazu zu bringen, nur wenige und gut kontrollierte massen-mediale Kanäle zu konsumieren – aber das ist offensichtlich. Eine größere Herausforderung ist der zweite Fall, wenn  Sie sich für Freiheit entscheiden. Denn dann wird der Versuch erforderlich, Sie davon zu überzeugen, sich selbst zu bilden, indem Sie sich die Polarisierung zwischen Frieden und Frei-heit vor Augen führen und sich auf den Weg zwischen den Polen machen. Genau genommen müssen Sie sich selbst da-von überzeugen, sich so zu bilden, dass Sie sich in einem mul-tipolaren Feld von Meinungen mit anderen schön bewegen können. Die Aufforderung dazu ist noch möglich. Was Kon-fliktverhandlungskompetenz als ein Moment von Medien-kompetenz ist und wie Konfliktverhandlungskompetenz ge-lebt werden kann, müssen Sie selbst entscheiden. CHRISTIAN SWERTZ  ist Professor für Medienpädagogik am  Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien. POLARISIERUNG, MEDIEN UND KONFLIKTE  VON CHRISTIAN SWERTZ


 ZUKUNFT | 33  REINHARD SIEDER Outburst (2019)Acryl, Gips auf Leinwand 150 x 100 cm


 34 | ZUKUNFT  SCHERBEN, ZEICHEN, GESPENSTER  VON THOMAS BALLHAUSEN I. Nach dem Ende der ersten Exilperiode nehme ich, ganz  der Flüchtende, als der ich mich gerne fühlen möchte, den Nachtzug. Ich suche mir ein leeres Abteil; das einzige, das ich finden kann, hat eine defekte Heizung. Das Licht flackert und ich drehe es schließlich ab, komme mir vor wie ein Clo-chard, als ich die Sitze in Liegeposition bringe und mich mit meinem langen, schwarzen Mantel zudecke. Der Zug rum-pelt durch die Nacht, ich schlafe den unruhigen Schlaf der Reisenden und schrecke praktisch bei jedem Halt hoch, bis ich schließlich mein vorläufiges Ziel erreiche: Eine geplan-te Verzögerung, ein Aufenthalt, der mir die Weiterreise er-möglichen und erträglich machen soll. Ich bin schon vor ei- nigen Jahren einmal hier gewesen. Die anderen Fahrgäste, die ebenfalls hier ausgestiegen sind, werden nach und nach abge-holt oder steigen, nachdem sie sich bei einem kleinen Bäcke-reistand ein schnelles Frühstück besorgt haben, in Regional-züge um. Ich stelle meinen Koffer ab und setze mich darauf. Als ich einen verzweifelten Blick auf meine Uhr werfe, wird mir klar, dass ich wohl vor allem deshalb hierher zurückge-kommen bin, weil ich mich an kaum noch etwas von diesem ersten, länger zurückliegenden Besuch erinnern kann. Als ihr Wagen schließlich vorfährt, habe ich eben erst begonnen, die langsam wieder auftauchenden Fetzen und Bilder zu einem Zusammenhang zu verbinden. Scherben, Zeichen,   Gespenster Der Wiener Autor  THOMAS BALLHAUSEN  stellt einen unglaubwürdigen Erzähler in den Mittelpunkt seiner Erzählung  Scherben, Zeichen, Gespenster. Aus der Pespektive dieser gespenstischen Figur reflektiert er mit den Mitteln der Literatur das Verhältnis zwischen Traum und Trauma, die Spannungen zwischen Geschichte und Geschichten. „Ostrakismos (gr. ‚Scherbengericht‘), eine Einrichtung im   politische System Athens zur Verbannung von Personen, die  im Verdacht standen, nach der Errichtung einer   Tyrannis zu streben. […] Jedes Jahr wurde an die Volks- versammlung die Frage gerichtet, ob ein Ostrakismos durchge- führt werden solle. Ging die Abstimmung positiv aus, schrieb  jeder teilnehmende Bürger in geheimer Wahl den   Namen eines bestimmten Mannes, der seiner Meinung nach  verbannt werden sollte, auf eine Tonscherbe (ostrakon).   Diejenige Person, die die Stimmenmehrheit erzielte, wurde  ostrakiert. Sie behielt ihr Vermögen und ihre gesellschaftliche  Stellung, musste aber Athen für zehn Jahre verlassen und war  dadurch politisch kaltgestellt. […]  Im Laufe der Zeit wurde der Ostrakismos  immer mehr eingesetzt,  um innenpolitische Gegner zu bekämpfen.“ (nach dem Metzler Lexikon Antike)


 ZUKUNFT | 35  Schon beim Betreten des Hauses komme ich mir mehr  wie ein Störenfried als wie ein Gast vor, gerade eben weil sie mich so übervorsichtig behandelt. Ich habe etwas wie eine Ahnung, wie es gewesen sein wird: Oder ist das nur die Mü-digkeit, die mich durchdringt. Ich lehne ein angebotenes Frühstück ab und gehe zu Bett. Einige Stunden später weckt sie mich, lockt mich an den  Esstisch. Der Geruch des Kaffees reißt mich aus der Betäu-bung des Schlafs, die mich immer noch gefangen hält. Sie zündet sich eine Zigarette an, lenkt unser vorsichtiges, schlep-pendes Gespräch in die vertrauten Gefilde des Redens über das Schreiben an sich. In Nachahmung journalistischer Posen be-ginnt sie, mir Fragen zu stellen, immer wieder auf die von ihr vermutete Initialzündung des Schreibens eines Journals des Erfundenen, des Erlogenen und Erlebten zurückkehrend. Wie zu schreiben wäre, wie sie selbst zu schreiben hätte, etwa über dieses Gespräch. Ich antworte, einem spontanen Impuls folgend und ohne meine Worte lange abzuwägen, dass sie sich tatsächlich für ein Journal, ein lockeres cahier zu entscheiden hätte, also eine Ablage für alle Gedanken, für das Erlesene, für das Geschriebene und das Zu-Schreibende. Einem weiteren der mich gelegentlich bestimmenden Im- pulse folgend notiere ich, wie um das Gesagte pathetisch zu unterstreichen, ein paar Gedanken für ein Gedicht und bli-cke aus dem Fenster, den sich verdüsternden, gewitterschwan-geren Himmel betrachtend. Ich muss in diesem Moment ei-nen jämmerlichen Anblick abgeben, denn sie bietet mir ihre Hand an um mich zu erden, wie sie es nennt. Beinahe hätte ich eingewilligt, nachgegeben: Doch ich setze mich auf mei-ne zitternde Hand, bemerke, dass ihr Kleid an der Schulter ein wenig verrutscht ist, man unter dem grünen Stoff das Weiß ihres Büstenhalters hervorschimmern sieht – fast hätte ich ihr in diesem zerbrechlichen Moment das Kleid zurechtgerückt, fast. Doch dann, begünstigt durch die peinlich lange Pause, ändert sich schlagartig die Stimmung. Sie möchte meine Auf-merksamkeit, meine langsam klar werdende Zuneigung nicht. Deshalb belügt sie mich während des weiteren Gesprächs in den unterschiedlichsten Belangen, regelrecht austestend wie es ihr gelingen könnte, mir zu missfallen. Erst viel zu spät er-kenne ich diesen Grund für ihre mich eben noch verstören-den Aussagen, Antworten und plötzlichen Ausrufe. Den Rest des Tages verbringe ich mit Lesen und Spaziergängen, sehe sie dabei nicht wieder, mache das Versteckspiel mit ohne zu wis-sen warum. Ich versuche noch ein wenig zu lesen, aber die Worte verschwimmen vor meinen Augen. Beim nächtlichen Überfall sagt niemand ein Wort: Ich  habe nicht bemerkt, wie sie in mein Zimmer gekommen ist. Erst als sie sich auf das Bett setzt, wache ich auf. Ich berüh-re sie wie ein Kunstwerk, eine Statue. Etwas Verbotenes und Verzweifeltes haftet dieser Situation an, in der wir direkte Bli-cke in das Gesicht des anderen vermeiden. Ich kann nicht sa-gen, was mir fehlt oder was ich will. Ich kann alles nur über mich ergehen lassen, bis mein Kopf kurzfristig aussetzt. Am nächsten Morgen ist sie distanziert, doch freundlich.  Nur an Kleinigkeiten, kaum wahrzunehmenden Seitenbli-cken wird unser geheimer Pakt über die Bewahrung des Still-schweigens und des Abstandes, der jede dauerhafte Nähe von vornherein ausschließt, deutlich. In der Wiese sitzend verste-cke ich mich hinter einem Buch, beschäftige so meinen Kopf wie um einem zu erwartenden paralytischen Zustand vorzu-beugen. Trotzdem habe ich das Gefühl, etwas nicht vollstän-dig zu erfassen, zu verstehen. Es ist, als würde mir ein essen-zielles, alles verbindendes Stück entgehen. Ich bin schon jetzt lange genug hier gewesen. II. Während sie mich beim Packen beobachtet, lässt sie ganz  beiläufig eine Bemerkung fallen, deren tatsächliche Bedeu-tung mir nicht sofort klar wird. Erst in der folgenden pein-lichen Pause auf meine zu schnell gegebene, leichthin aus-gesprochene Antwort – die klingt, als würde sie nicht zu ihren eben gesagten Sätzen passen – wird mir klar, dass ihre so leichthin ausgesprochene Einladung, die ich angenommen hatte, obwohl sie wohl nicht dafür vorgesehen war, mehr mit Gleichgültigkeit der Allgemeinheit und auch mir gegenüber zu tun hat als mit Gastfreundschaft. Sie übertrifft mich noch in der Ablehnung anderer Menschen; ein Umstand, der mich enttäuscht und auch verärgert, denn mit dieser einen klei-nen Bemerkung entlarvt sie für einen schmerzhaften Moment die Lächerlichkeit meiner Person und meines Verhaltens. Auf der Fahrt zum Bahnhof drehen wir das Autoradio unnötig laut auf, wie um unsere Sprachlosigkeit zu überdecken. Als sie mich vorsichtig umarmt und auf die Wange küsst, lösen sich die letzten Gründe für diesen Aufenthalt auf, aber ich weiß nicht, was ich mir erwartet hatte. Sie macht keine An-stalten, ihre Einladung zu erneuern, und ich frage nicht da-nach und doch kann ich mir gut vorstellen, wieder hierher zurückzukehren, wenn die Erinnerung an meinen Aufenthalt mich wieder zu täuschen beginnt.


 36 | ZUKUNFT  Ich setze mich auf eine Bank auf dem Bahnsteig und nur  anhand der sich daran zu schaffen machenden Ameisenstras-se erkenne ich am Boden vor mir einen einzelnen Finger, der lose in ein rotbraun geflecktes Stofffetzchen gewickelt ist. Der Zug hustet wie ein alter Mann, der, ordentlich verschnürt, zum Sterben in eine Zimmerecke gelegt worden ist. Als er schließlich zum Stillstand kommt, steige ich betont vorsich-tig und langsam über den Finger hinweg, so als würde er sich – angetrieben von einer unheimlichen Macht – aufrichten, zu einem Haken krümmen, um mir so wie ein wildes Tier leich-ter die Gedärme aus dem Unterleib reißen zu können. Während ich aus dem Fenster sehe und die Landschaft be- obachte, stellt sich der absurde Gedanke ein, jemand könn-te ihr, einem Schlachtvieh gleich, das Kreuz gebrochen haben und man hätte nun die Gelegenheit, dabei zuzusehen, wie sie sich neben dem fahrenden Zug mühsam herschleppen und schließlich wie bei einem nicht zu gewinnenden Wettrennen hinter den dahinrollenden Waggons zurückbleiben würde. Die Gegend, die man danach noch sehen könnte, wäre eine Art von Schatten, der über die gesamte Länge der noch zu ab-solvierenden, ja zu bewältigenden Teilstrecke hinreichen wür-de. Die Zugfenster auf der anderen Seite, zum Gang hin, sind stark verschmutzt und verschmiert. Es entsteht so der Ein-druck, als würde die Gegend, die eben durchfahren wird, in einem giftigen Nebel liegen. Der Schaffner verlangt nach jedem Halt erneut die Fahr- karte von mir, so als könnte er sich nicht an mich erinnern. Er prüft sehr genau den Stempel, den er selber auf der Kar-te angebracht hat, um dann pflichtbewusst an seine Kappe zu tippen und zum nächsten Abteil weiterzugehen. Der Zug hält kurz an einer kleinen Station, eine junge Frau steigt ein und nimmt mir gegenüber Platz. Sie erinnert mich stark an die Darstellerin eines Independent-Films, der bei einer Par-ty an eine der Zimmerwände projiziert worden war. Mehrere Gäste hatten sich damals über das Gesicht der Schauspielerin mokiert. Voller Sommersprossen und fast schon unnatürlich braun, wie gegerbt. Nach einiger Zeit stelle ich verwundert fest, dass der Schaffner nun nicht mehr auftaucht, um mit der Überprüfung meines Tickets fortzufahren. Ich versuche, die Frau nicht anzustarren, und sehe zur Seite, schließe die Augen und kann das Ende der Reise kaum noch erwarten. Die Wucht des anderen Zuges, der mit unverminderter Ge-schwindigkeit auf den unseren prallt, bekomme ich erst mit einer unnatürlichen Verzögerung zu spüren. III. Die absurde, alptraumhafte Situation, dass alle Frauen, und  eben nur die Frauen, in den Krieg ziehen müssen, steht am Anfang meiner Erinnerungen nach dem Unfall, an kaum et-was kann ich mich sonst noch erinnern, nur an dein Gesicht und ein beunruhigendes Schreiben auf dem Frühstückstisch. Ein Stückchen Papier, das sehr amtlich aussah mit all seinen Stempeln, Unterschriften und beglaubigten Bestätigungen. Ein Stückchen Papier beschwert von einigen Tränen – ich weiß nicht mehr, ob deine oder meine oder doch nur ver-schütteter Tee, doch ich will von Tränen ausgehen, will mich bezüglich dieser Situation an Tränen erinnern – und an dein wunderschönes Gesicht und den Gedanken, dich in einem Konflikt zu verlieren, von dem ich nicht genau weiß, was er mit uns zu tun hat. Dieser unbeschreiblich dumme, kollektive Wunsch nach einem offenen Kampf, der schon lange vor sich hinschwelte, schließlich als unabwendbar bezeichnet wurde, dieser mir unbeschreiblich dumm erscheinende Wunsch, den ich nie nachvollziehen konnte. Mir tut in diesem Moment wie einem kleinen Kind alles leid, ich möchte mich entschul-digen, etwa: wie ich bei deinem Besuch im Krankenhaus sag-te, dass ich dich lieben würde, dass es mich aber auf Dauer umbringen würde. Wie du mich damals angesehen hast, so als wäre ich ohnehin hoffnungslos verloren, als ob deine Liebe da auch keine bedeutende Rolle mehr spielen könnte, weder für meine Rettung noch für meinen Untergang. Mit deinem Verschwinden wird der Zusammenbruch der  Welt einsetzen, soviel ist für mich sicher. Der Zusammen-bruch meiner Umwelt und mein persönlicher, intimer Zu-sammenbruch. Ich kann zwischen diesen Untergängen nicht mehr unterscheiden, genauso wenig ist es mir noch möglich zu sagen, ob tatsächlich alle Frauen weggezogen, in den Ab-grund des Krieges hineinverschwunden sind oder ob doch nur du das Weite gesucht und die allgemeine Hysterie wie ei-nen tarnenden Schutzmantel verwendet hast, dem Kleidungs-stück nicht unähnlich, das du zuletzt getragen hast, als ich dich auf einem Bahnsteig zu sehen glaubte. IV. Die Stadt, eine in Beton getauchte Welt, wirkt nach ei- nigen ausgelassenen Tagen wie verlassen, es ist, als wäre al-les von Männern und Automaten erfüllt, Stimmen ertönen in der Ferne, ich bin mir nicht sicher, wem sie gehören und was sie mir sagen wollen. Ich kann noch nicht einmal sagen, ob sich diese Stimmen tatsächlich an mich richten, obwohl  SCHERBEN, ZEICHEN, GESPENSTER  VON THOMAS BALLHAUSEN


 ZUKUNFT | 37  ich mir gelegentlich einbilde – etwa wenn ich kurz vor dem Einschlafen bin – , dass sie immer wieder und wieder meinen Namen wiederholen. In diesen Momenten befürchte ich, an all dem schuld zu sein, dich in einem unbedachten Moment in einen imaginären Krieg weggedacht und endgültig verlo-ren zu haben. Die Berichterstattung verwirrt mich noch zusätzlich,  macht es mir gänzlich unmöglich, mir ein genaues Bild von den Geschehnissen, mir ein Abbild der Wahrheit zu machen. Die Zeitungen scheinen dünner und belangloser zu werden, die Kanäle vergehen nach und nach, fallen einem umfassen-den Rauschen zum Opfer. Ich spiele kurz mit dem Gedan-ken, aufgezeichnete Nachrichtensendungen ablaufen zu las-sen, mich einige Zeit lang zu täuschen und zu hoffen, dass du in der Zwischenzeit den Weg zurück findest, dass du dann wieder hier bist, um die Welt erneut in ihre korrekten Bah-nen zurückfinden zu lassen. Aber so leicht scheint es diesmal nicht zu funktionieren, mit so geringen Verlusten werden wir diesmal nicht davonkommen. Mein Kopf schmerzt und ich entscheide mich dagegen. Realität und Traum vermischen sich, Erinnerungen an  den letzten gemeinsamen Urlaub suchen mich heim wie Geis-ter einer Vergangenheit, die sich unvermeidlich immer wieder und öfter in meine Vorstellung der Wirklichkeit schieben. Ich saß am Pier, rauchte still vor mich hin und lachte lautlos über die billige Melodramatik der Szene. Eigentlich wollte ich aber weinen, wie um den Druck in meinem Inneren ein wenig abzubauen. Da war etwas wie ein ungenannter – doch wohl nicht unbegründeter – Vertrauensverlust aufgetaucht, der sich nach und nach in unser Leben geschlichen und schließlich je-den Aspekt unserer Beziehung durchdrungen hatte, gepaart mit einer lähmenden Stagnation. Näher kann man sich nicht mehr kommen und doch scheint es noch nicht nahe genug, scheint es niemals nahe genug zu sein. Wenn ich mich kon-zentriere, spüre ich immer noch den sizilianischen Sommer-wind auf meinem Gesicht, warm, feucht. Am letzten Abend unseres Aufenthaltes war ich allein am Strand gesessen und hatte auf das Meer hinausgesehen, bis die Sonne untergegan-gen war. Es war mir damals nicht einmal besonders kitschig vorgekommen. V.  Eine Reise in das angebliche Krisengebiet wird nicht zu- letzt auch deshalb für mich unaufschiebbar. Ich möchte die  Gewissheit selbst einholen. Der Beamte am Schalter wirkt nicht überrascht oder ärgerlich, er versucht auch nicht, mir von meiner Reise abzuraten, ich habe meine Waffe ganz um-sonst mitgebracht, fast schon finde ich das schade, ich hätte mir so gerne meinen Fahrschein mit vorgehaltner Waffe er-zwungen, mir meinen Weg zum Gleis sogar freigekämpft, so einen kleinen Beweis meiner Entschlossenheit abgelegt. Es ist nur etwas wie ein Anflug von Traurigkeit im Blick des Schalterbeamten, eine Form von Traurigkeit, die ich schon im Blick meiner besten Freunde auszumachen glaubte, als ich ihnen von meinem Entschluss erzählte und ihnen – wie um sie von meinem Fortgang, meiner Reise zu überzeu-gen – meine Waffe vorführte, auf das Klicken des Verschlus-ses und das Einrasten der Mechanismen hinwies, eine Form von Traurigkeit, die ich weder damals noch heute zu deuten wusste, als ich vor diesem Schalter stand und bereit gewesen wäre, mein Recht auf eine Reise ins angebliche Kriegsgebiet einzufordern. Der Zug wartet schon, ich bin nur verwundert, dass die  Front so leicht und bequem zu erreichen sein soll, doch der Schaffner, der meine Karte abknipst, bestätigt mir, dass ich mein Reiseziel so problemlos wie nur irgendwie möglich er-reichen könnte, und dies will doch etwas heißen in diesen Zeiten.  Als ich den wenigen anderen Fahrgästen schließlich die  für mich unvermeidliche Frage nach dem Verbleib der Frauen – es müssten doch einige hier im Zug sein, besonders wenn man sich in das Kriegsgebiet aufmachen würde – stelle, ant-wortet man mir nicht, so als hätte ich meine Frage gar nicht gestellt, eben so als wäre der Satz in meinem Kopf verblieben, als würde nichts von dem hier wirklich stattfinden, als wäre diese mich bestimmende Frage nach dem Verbleib der Frau-en und der Rest des Konflikts, der mein Leben zu bestimmen begonnen hat, ein Produkt meiner Gedanken und hätte mit der Außenwelt nicht das Geringste zu tun. Dabei glaube ich mich doch ganz genau erinnern, dass sie  mich wegen eines Krieges verlassen hat. Je weiter dieser Zeit-punkt zurückliegt, desto mehr Zeit seit dieser unfreiwilligen Trennung vergangen war ist, desto genauer glaube ich mich an die Umstände und Details erinnern zu können. Nur für ei-nen Moment unterbreche ich diesen Memorierungsprozess, als der Fahrgast mir gegenüber seine Zeitung aufschlägt und mir wie absichtlich die Seite mit den Todesanzeigen entge-genhält, ein papierner Wall auf dem ich meinen Namen lese 


 38 | ZUKUNFT  und mein Gesicht sehe. Ich wechsle etwas verstört das Abteil, will all dem aber keine größere Bedeutung beimessen. Schon nach kurzer Zeit bleibt der Zug stehen und durch die Laut-sprecher wird angesagt, dass bei diesem und auch bei allen weiteren außerplanmäßigen Stopps – die ich aber kaum von den eingeplanten zu unterscheiden vermag – das Ein- und Aussteigen verboten wäre. Die Flüsse sind über die Ufer getreten, das aufgewühl- te Erdreich kann die Wassermassen nicht mehr aufnehmen und hat sich mit ihnen zu einer langsam vermodernden De-cke verbunden, die alles zu überziehen droht. Der schon frü-her spürbare Verfall, der mir immer nur in Details wie einem Sprung oder einem Riss entgegengetreten war, zeigt sich mir nun in einer nicht mehr zu übersehenden Zerstörung. Ein to-tes Schaf treibt in den graugrünen Fluten eines Flusses, den ich vom Abteilfenster aus sehen kann. Die Fahrt dauert an und ich schlafe traumlos, wie tot, und  als ich erwache, habe ich endgültig mein Zeitgefühl verloren. Das Licht ist grau, es ist mir absolut nicht möglich, die Uhr-zeit anhand des Sonnenstandes zu bestimmen, selbst wenn ich die Sonne sehen könnte – was ich nicht kann – , wäre ich nicht in der Lage zu sagen, wie viel Zeit vergangen wäre und ob ich Stunden oder Tage geschlafen hätte. Gelangweilt strei-fe ich durch die Waggons, ich scheine inzwischen der einzi-ge Fahrgast zu sein. Eine Reise, bei der ich den Eindruck be-komme, nur noch ich würde existieren und selbst der Zug würde von allein immer weiter in eine unbekannte Gegend hineinrasen in eine noch zu entdeckende Landschaft ohne Namen und Schienen. VI. Später, nun ist es dunkler und ich denke es könnte Nacht  sein, bleibt der Zug stehen und ich steige aus wie ein Schlaf-wandler, wie ein wandelnder Toter, den seine Liebe in ein ihm eigentlich verwehrtes Leben zurückgetrieben hat. Ich gehe ohne Plan, folge einfach meiner Eingebung durch die verwüstete Umgebung, die verfallen Häuser kleiner Städte. Die wenigen Leute, Männer und Kinder, die an den Fenstern stehen und mich vorbeimarschieren sehen, wirken stumpf, still und hoffnungslos, ganz wie in Erwartung eines unauf-schiebbaren Endes, dessen Eintreten schon fest geplant ist. Die Zerstörung, obwohl merklich schlimmer als die bereits durch-reisten Verwüstungen, könnte aber auch durch Naturkatastro-phen verursacht worden sein, so denke ich bei mir, denn es  fehlt alles, was ich mir als typisches Merkmal eines militäri-schen Konflikts vorstelle. Die einzigen Wracks, die ich sehe, was durch die heraufziehende Dämmerung auch wieder ein-facher wird, es war also doch etwas wie eine besonders hel-le Nacht, die ich durchwandert habe, die einzigen Wracks also sind liegengebliebene landwirtschaftliche Fahrzeuge und sie wirken aufgrund ihrer kadaverhaften Beschaffenheit so, als würden sie schon immer hier liegen, als hätten sie nie etwas anderes getan, als still vor sich hinzurosten und auf eine nie stattfindende Belebung durch eine unbeschreibliche Kraft zu warten. Ich mache Pause in einer verfallenen Hütte, der Wind  trägt den Geruch des Meeres durch die zerbrochene Fenster-scheibe herein und ich bin mir plötzlich sicher, schon bald meinen Bestimmungsort erreicht zu haben, beinahe also schon dort angelangt zu sein, wo ich mir Antworten auf mei-ne Fragen erwarte. Alles ist dreckig und von einer schmieri-gen Staubschicht überzogen, doch ich bin mit einem Schlag zu müde, um noch einen einzigen weiteren Schritt zu tun. Ich breite meinen Mantel wie ein Laken auf einem zerschlis-senen, feuchten Sofa aus und wache erst wieder auf, als ein Donnern vom nahen Strand her zu hören ist. Es ist wärmer als zuvor und ich lasse den inzwischen durchweichten Man-tel, wo er ist, mache mich also nur in meinem Anzug, die Waffe in der ausgebeulten rechten Seitentasche der Jacke, auf zum Strand. Dort angekommen wirkt alles farblos, der Sand ist hart wie Stein. Selbst wenn ich mich bemühe, Spuren da-rauf zu hinterlassen, will es mir nicht so recht gelingen. Die Erde ist grau, verdorben und riecht wie Asche. Ich lasse den Sand durch meine Fingern rieseln und es fühlt sich an wie ein totes Tier. Das vor mir liegende Meer bewegt sich kaum, es wirkt  eher wie ein kalter, stiller See als der Auftakt zu einem un-heimlichen Ozean voller ungelöster Geheimnisse und My-then. Das Donnern, das mich geweckt hat, ist immer noch zu hören. Es kommt nun von weiter weg, vom Horizont, an dem sich ein paar Schatten zu bewegen scheinen. Fast schon wünsche ich mir, dass das Geräusch von Geschützfeuer her-rührt, dass es mit dem von mir verfolgten Krieg zu tun hat. Die glatte Oberfläche des Wassers verführt mich dazu, mei-nen rechten Fuß darauf zu setzen, dann mit dem linken Fuß nachzuziehen und wie ein Wasserläufer die Oberflächenspan-nung zu nutzen um mich langsam auf die sich mir entziehen-den Schemen zu zu bewegen. Ich werfe einen Blick zurück, die Küste ist noch zu sehen. Mutiger werdend bewege ich  SCHERBEN, ZEICHEN, GESPENSTER  VON THOMAS BALLHAUSEN


 ZUKUNFT | 39  mich schneller, immer in Richtung des offenen Meeres. Ich sehe mich schon völlig Fremden Erste Hilfe leisten, während Du unweit von mir ertrinkst. Später werde ich behaupten, al-les Menschenmögliche getan zu haben. THOMAS BALLHAUSEN  lebt als Autor, Kulturwissenschaftler und Archivar in Wien und Salzburg.  Er ist international als Herausgeber, Vortragender und Kurator tätig.   Demnächst erscheint sein neues Buch  Transient. Lyric Essay  (Edition Melos, Wien).


 40 | ZUKUNFT  DIE ABSTRAKTION VOM KONKRETEN  VON REINHARD SIEDER Die Arbeit an den hier vorgestellten Bildern beginnt mit  der Spachtelung von feuchtem Gips auf einer Leinwand. Dies erzeugt eine plastische Strukturierung und stärkt die Lein-wand, die noch einiges über sich ergehen lassen wird. Gesso, Acrylfarben, Kohle oder Pastellkreide werden auf feuchtem Grund aufgetragen. Zuweilen (etwa im Bild Blauer Buchstabe) tropfe ich Acrylfarben direkt aus der Tube oder Dose auf den feuchten Untergrund.  Mit Spachteln, Messern und Pinseln schiebe ich Farben  ineinander, die zu einem Teil von der feuchten Gipsmasse auf-gesogen werden und ihre Penetranz verlieren. Es entstehen satte und halb transparente Farbflächen und zahllose Über-gänge zwischen Farben, deutlich im Bild Gold & Blau. Durch das Verkanten der Spachtel gravieren sich Wellen und Linien in Farbenflächen ein. Es ist ein Spiel zwischen den Schichten, Formen und Farben, das teils beabsichtigte, teils unerwartete Effekte erzeugt. Ich nenne diese Technik pure painting, da im herkömmlichen Sinn weder gezeichnet noch eine gedachte oder vorgezeichnete Skizze ausgemalt wird. Das Abstrakte, heißt es, entsteht durch Abstrahierung von  konkreten Figuren, Landschaften oder Stofflichkeiten. Wahr-nehmungspsychologisch erfolgt dies nicht nur im künstleri-schen Akt und im speziellen Akt der Bildbetrachtung, son-dern auch im gesamten Alltagsleben durch den Vergleich des neuen Unbekannten mit schon Bekanntem, Vertrautem und Bezeichnetem. Im Zuge der Bildproduktion wie in der Be-trachtung des Bildes treten Form und Bedeutung des Abstrak-ten blitzartig auf und lösen das Erlebnis eines unvorhersehba-ren Wahrnehmens aus. Wie aber kann ein „abstraktes“ Bild etwas bedeuten? Klar ist, dass die Künstler*innen nicht vorweg bestimmen,  was in ihrem Werk gesehen oder erkannt werden kann. Jede Begegnung mit dem Bild ist ein Interakt. Das Bild besteht nicht für sich, nicht allein aus der quasi technologischen Ge-schichte seiner Produktion und auch nicht aus der Autobio-grafie des Künstlers. (Einer der historistischen Irrtümer der klassischen Kunstgeschichte.)  Kunsttheoretisch meine ich, dass jener besondere Ge- genstand, den wir immer noch ein Kunstwerk nennen, nur in zwei Momenten sozial und wahrhaftig existiert: im Au-genblick seiner Herstellung durch die Künstler*innen und in den (hoffentlich zahlreichen) Augenblicken seiner Betrach-tung und Interpretation. Die Kunsttheorie überhöht den ers-ten Moment seit der Antike zu einem Schöpfungsakt und den zweiten zu einem kostbaren Augenblick der Erhabenheit. Dies ist immer noch gültig, bedarf aber, meine ich, der kom-munikationstheoretischen Erdung. Ein früher kommunikativer Akt ist es, wenn die  Künstler*innen ein Bild (in vielen Fällen) mit einem Titel versehen, der von den Betrachter*innen des nun auch schon benannten Bildes auf seine subjektive Geltung geprüft werden kann. Die Betrachter*innen können widersprechen und den-ken: „Für mich ist das etwas Anderes“. Aber wie gelangen sie zu ihrem Sinn? Sinn und Bedeutung des Bildes stehen in je-dem Kommunikationsakt von Neuem in Frage.  Eine der möglichen Fragen, die sich Betrachter*innen  stellen, ist, ob sie dergleichen schon irgendwo gesehen ha-ben. Meine These ist, dass jenes staunende oder auch verwirr-te, zuweilen erschrockene oder ablehnende Zurücktreten vor dem Bild, jenes Erleben der Erhabenheit also, um so eher ein- Die Abstraktion vom  Konkreten REINHARD SIEDER  gibt mit seinem Beitrag Einblick in die Produktionsbedingungen der Bildstrecke dieser Ausgabe der  ZUKUNFT, die in der nächsten Ausgabe 04/2021 verlängert werden wird …


 ZUKUNFT | 41  tritt, als das Bild Staunen macht. Wer im Bild Tricolor Farben erkennt, die an die Trikolore der Französischen Nation erin-nern, oder Formen, die an (vielleicht zerfetzte?) Fahnen erin-nern, wer im Bild Outburst einen vulkanischen Ausbruch aus einem Organ, das ein Herz sein könnte, erblickt, hat jedenfalls recht. So entsteht subjektives Bilderleben, welches das Kunst-werk für den Augenblick bedeutungsvoll und existent wer-den lässt. REINHARD SIEDER ist Sozial- und Kulturhistoriker und Sozialwissenschaftler. Er war a. o. Universitätsprofessor an der Universität Wien   und arbeitet seit seiner Pensionierung im Jahr 2015   als Vortragender, Autor und bildender Künstler   in Wien und Tenerife.   Link: https://www.reinhard-sieder.at/ Reinhard Sieder  ©  Mario Lang Reinhard Sieder, Ausstellung 2018  Pure Painting I,  Atelier & Galerie Paul Landerl, Berggasse 29


 42 | ZUKUNFT  VERANSTALTUNGSANKÜNDIGUNG Die Sendungen zu den monatlichen Schwerpunkten der  ZUKUNFT finden am letzten Dienstag des Monats in Koopera-tion mit der Wiener Bildungsakademie statt und werden auf der Facebook-Seite, dem Youtube-Kanal und dem Twitch-Kanal der WBA übertragen. 27.04.2021 – BILDUNG – ELITEN – SELEKTION   Das Bildungssystem entscheidet in unserer Gesellschaft  in großem Maßstab über die soziale Flugbahn unserer jun-gen Mitbürger*innen. Dabei wollen wir festhalten, dass ein elitäres und selektives Bildungssystem, dass die Schwächsten schwächt und die Stärksten stärkt, einer Demokratie nicht würdig ist. So stellen wir folgende Fragen in den Raum, die wir an diesem Abend eingehend diskutieren wollen: Welche sozialen und ökonomischen Ungleichheiten entstehen durch das gravierend elitäre und selektive Bildungssystem (in Euro-pa aber auch weltweit)? Wie lässt sich also die gravierende so-ziale Ungleichheit (auch angesichts des digital divide) abbauen? Welche sozialen und ökonomischen Ungleichheiten entste-hen durch das gravierend elitäre und selektive Bildungssystem (in Europa aber auch weltweit)? 25.05.2021: LGBTIQ – VIELFALT ALS SOZIALE FRAGE Die Frage nach sexueller und geschlechtlicher Vielfalt steht  seit jeher auf der Agenda linker und progressiver Debatten – in den letzten Jahren hat diese Frage aber an besonderer Be-deutung gewonnen. Während neoliberale Logiken versuchen, durch Pinkwashing den Kampf für ein freies, selbstbestimmtes Leben zu vereinnahmen, müssen wir umso mehr darüber dis-kutieren, wie Vielfalt und soziale Fragen hinter gemeinsamen politischen Projekten verbunden werden können. Mit dieser Diskussion möchten wir gemeinsam mit der SoHo Wien, pa-rallel zur diesbezüglichen Ausgabe der ZUKUNFT, einen Fokus auf die aktuelle Situation der LGBTIQ-Community und queer-feministischer Kämpfe legen. Die Anfänge der modernen LGBTIQ-Bewegung liegen nicht umsonst in vielfältigen sozia-len Auseinandersetzungen seit den Stonewall-Protesten 1969 – wir stellen daher zur Debatte, wie PRIDE und Regenbogen-fahne auch heute als wichtiger Bestandteil der sozialen Frage begriffen werden können! 22.06.2021: ERZÄHLUNGEN DES POLITISCHEN In den letzten Jahrzehnten war oft vom Zusammenbruch  der großen Erzählungen die Rede. Dabei war etwa an die Großerzählung des (Austro-)Marxismus gedacht, der indes gerade angesichts der Corona-Krise wieder an Aktualität ge-winnen könnte. Wie sehen im Bereich politischer Ideologien also die großen Erzählungen des (Demokratischen) Sozialis-mus, des Liberalismus, des Konservatismus oder des Neofa-schismus aus? Die thematische Ausgabe der ZUKUNFT eröffnet dabei eine breite Palette von Bezügen, die sich damit beschäf-tigen, welche (Meta-)Erzählungen hinsichtlich der Politik existieren und welche heute noch relevant sind. Nähere Informationen und die Links zur jeweiligen Veran-staltung unter: https://diezukunft.at/veranstaltungen/ Auf dem Weg in die ZUKUNFT! AUCH IM V A VERLA G ERSCHIENEN Die Online-Diskussionssendung für Politik, Gesellschaft und Kultur.  Ein moderierter Diskussionstalk mit den Redakteur*innen, Autor*innen und Künstler*innen der ZUKUNFT … Welche ZUKUNFTsthemen bewegen die Redaktion (der ZUKUNFT)? Welche ZUKUNFTsthemen haben Autor*innen (der ZUKUNFT)? Welche ZUKUNFTsthemen berühren Künstler*innen (der ZUKUNFT)?


 ZUKUNFT | 43  HEFTBESTELLUNG Kupon ausschneiden& einsenden an: VA Verlag GmbHKaiser-Ebersdorferstrasse 305/31110 Wien ICH BESTELLE "ROTE PHILATELIE"7,90 € INKL. MWST ZZGL. VERPACKUNG UND VERSAND 2,00 € NAME: _________________________________________________________________ STRASSE: _______________________________________________________________ ORT/PLZ: _______________________________________________________________ TEL.: ______________________________ E-MAIL: _____________________________UNTERSCHRIFT: _______________________ ODER BESTELLUNG PER E-MAIL AN DEN VERLAG: OFFICE@VAVERLAG.AT SOLANGE DER VORRAT REICHT AUCH IM V A VERLA G ERSCHIENEN Eine philatelistische Zeitreise zu 75 Jahren WGBDER WELTGEWERKSCHAFTSBUND (WGB) FEIERT HEUER SEINEN 75. GEBURTSTAG. MANCHE FORDERUNGEN DER ERSTEN JAHRE NACH SEINER GRÜNDUNG SIND NACH WIE VOR AKTUELL. DIESEM JUBILäUM LIEGT DIE IDEE DER VORLIEGENDEN BROSCHÜRE ZU GRUNDE. DIE KURZE ABHANDLUNG DER SEHR UMFANGREICHEN GESCHICHTE DES WGB BASIERT VOR ALLEM AUF DER ERZäHLUNG DER 17 WELTKONGRESSE DES WGB, SIE STELLEN HIER DIE MEILENSTEINE DER ENTWICKLUNG UND DER GEZEIGTEN BRIEFMARKEN DAR.


HEFTBESTELLUNG Kupon ausschneiden& einsenden an: VA Verlag GmbHKaiser-Ebersdorferstrasse 305/31110 Wien ICH BESTELLE "WIENER STRASSENBAHNER IM FEBRUAR 1934"PREIS 5,-- INKL MWST ZZGL. VERPACKUNG UND VERSAND 2,00 € NAME: _________________________________________________________________ STRASSE: _______________________________________________________________ ORT/PLZ: _______________________________________________________________ TEL.: ______________________________ E-MAIL: _____________________________UNTERSCHRIFT: _______________________ ODER BESTELLUNG PER E-MAIL AN DEN VERLAG: OFFICE@VAVERLAG.AT SOLANGE DER VORRAT REICHT AUCH IM V A VERLA G ERSCHIENEN DIE WIENER STRASSENBAHNER GALTEN IN DER ZWISCHENKRIEGSZEIT ALS EINE DER SPEERSPITZEN DER SOZIALDEMOKRATIE. ES VERWUNDERT DAHER NICHT, DASS SICH AUF PRAKTISCH ALLEN BAHNHöFEN SCHUTZBUNDGRUPPEN, SOGENANNTE STRASSENBAHNORDNER, BEFANDEN. INSBESONDERE IN FLORIDSDORF WAREN DIE STRASSENBAHNER DIREKT IN KAMPFHANDLUNGEN DES FEBRUAR 1934 VERSTRICKT. HIER WURDEN AUCH ZWEI STRASSENBAHNER VON EINEM EILIG EINBERUFENEN STANDGERICHT ZUM TODE VERURTEILT, IN LETZTER MINUTE ABER BEGNADIGT. IN DIESER BROSCHÜRE WERDEN AUS DEM BLICKWINKEL DIESER BERUFSGRUPPE DIE HEFTIGEN AUSEINANDERSETZUNGEN UM DIE WIEDERHERSTELLUNG DER VON DER REGIERUNG DOLLFUSS DEMONTIERTEN DEMOKRATIE BESCHRIEBEN.