06/2021 5,– Euro, Österreichische Post AG,  P.b.b. Abs.: Gesellschaft zur Herausgabe der Zeitschrift ZUKUNFT,   Kaiserebersdorferstrasse 305/3, 1110 Wien, MZ 14Z040222 M, Nr. 06/2021 ERZÄHLUNGEN DES POLITISCHEN Another … in the wall Stefanie Fridrik Straßenbahn, 1914 Zarah Weiss Herr Seicherl und sein Hund Johanna Lenhart Ab zum Mond! Erkan Osmanović SEIT  1946


  EDITORIAL Die Struktur von Erzählungen ist so politisch, wie das Politi- sche erzählt werden muss. Diese grundlegende poetologische  (und eben politische) Einsicht stand der Redaktion der ZU- KUNFT vor Augen, als sie beschloss, dem Thema Erzählungen des  Politischen eine eigene Ausgabe zu widmen, die nunmehr unse- ren Leser*innen übergeben werden kann. Denn an der Grenze  von Politik und Literatur verhandelt eine gegebene Gesellschaft  nicht nur ihre grundlegenden ökonomischen, sozialen und kul-turellen Problemlagen, sondern entwirft auch Ideen, Utopien oder Träume, die auf die soziale Wirklichkeit rückwirken kön-nen. Im dialektischen Wechselspiel von politischer Realität und ihrer erzählerischen Verarbeitung öffnet sich mithin ein Mög-lichkeitsraum der Aushandlung unserer ZUKUNFT … In welchem Verhältnis stehen also Erzählungen zum Politi- schen? Erkan Osmanović behandelt in seinem eröffnenden  Beitrag diese und weitere Fragen: Was haben Robert Musil und die Mondlandung mit der Klimakrise zu tun? Warum  müssen wir immer wieder über unsere Visionen, Ideen und  Träume sprechen? Und was kann uns die Einführung des Si- cherheitsgurts über die Bewältigung der Klimakrise lehren?  Mit Blick auf das Thema dieser Ausgabe der ZUKUNFT streift unser Autor auf verschiedenen Ebenen durch Musils Der  Mann ohne Eigenschaften, setzt die Leser*innen in die Span- nung zwischen Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn und be-richtet von Ideen, die unsere Demokratie am Leben erhalten könnten. Denn wenn wir die prinzipielle Veränderbarkeit der  Welt nicht vergessen, können wir auch die shifting baselines  unserer Gesellschaft verschieben und unsere Demokratie für neue Herausforderungen stärken – der Möglichkeitssinn ist also nach wie vor gefragt. Dass die Literatur ein bevorzugter Ort ist, an dem auch Politisches verhandelt und erzählt wird, arbeitet auch der  darauffolgende Essay der Literaturwissenschaftlerin Marie- Theres Stampf anhand einer vergleichenden Lektüre aus- gewählter Werke von Franz Kafka (1883–1924) und Eugen  Egner (*1955) heraus. Dabei wird eine Ästhetik der Gro- teske analysiert, in der die Komik des Schrecklichen eben- so vor Augen steht, wie das Lachen oder die Entfremdung.  Im mehrfachen Rekurs auf Sigmund Freuds Traumdeutung werden so auch die literarischen Verfahren der Verdichtung und Verschiebung erläutert und angewendet. Im Blick auf Kafka und Egner wird so auch deutlich, dass Körper, Räume und ganze Welten bei diesen wichtigen deutschsprachigen  Autoren nicht zuletzt politisch auf den Kopf gestellt wer- den. Dabei bedienen sich beide auf mehreren Ebenen einer   Metafiktionalität, bei der Textgrenzen aufgezeigt und gleich- zeitig negiert werden. Der Wiener Autor Thomas Ballhausen bietet in der Folge  mit seiner Erzählung Sommerquartier eine Spielart von literari-schem fictocriticism, also einen Text und eine Erzählung, in dem das romantische Erbe von Reflexivität und Phantastik sicht-bar wird: Auf der formalen Ebene werden Referenzen und  Gemachtheit des Kunstwerks ausgestellt, auf der inhaltlichen Ebene wird der Frage nach der Erzählbarkeit von Theorie  nachgegangen, die immer auch ein Verhältnis mit politischen  Elementen eingeht. In der Auseinandersetzung mit dem sen- siblen Feld der Erinnerung, der dynamischen Gegenläufigkeit aus individueller (Kindheits-)Erfahrung und übergreifendem  historischem Hintergrund setzt also auch Ballhausen mit sei-ner Erzählung auf eine Verhandlung von Wirklichkeit, die  Erzählungen des Politischen BIANCA BURGER, THOMAS BALLHAUSEN UND ALESSANDRO BARBERI


 ZUKUNFT | 3    in ihrer vorsätzlichen Verfremdung Formen produktiven Ver-fehlens und Irritierens evoziert. In diesem Sinne gilt: Literatur kann alles, aber muss nichts. Auch freut es die Redaktion in diesem Zusammenhang ein  besonderes Juwel aus den österreichischen Zeitungsarchiven präsentieren zu können. Denn Johanna Lenhart zeichnet in ihrem reich bebilderten Beitrag nach, wie politische Umstürze auch vor einem Comic nicht Halt machen, wenn sie die Co-micfigur Tobias Seicherl untersucht, der in den 1930er-Jahren der populäre Protagonist eines politisch-satirischen Comic- strips in der Tageszeitung Das Kleine Blatt gewesen ist und dabei  eine zwiespältige politische Karriere durchgemacht hat. Denn es ist bemerkenswert, dass diese Comic-Erzählungen verschie-dentlich auf zeitgenössische politische Ereignisse reagieren und bis hin zu Austrofaschismus und Nationalsozialismus mehrfach einen bedenklichen politischen Wandel durchmachen. Genau deshalb handeln die Erzählungen dieses Comics vom Politi- schen, wenn sie aus der historischen Distanz heraus mit dem  Untergang der Demokratie verbunden werden. Auch die Erzählung Straßenbahn, 1914 der Autorin Zarah Weiss  verhandelt unser Schwerpunktthema, wenn sie hervorhebt, wie  Sprache und mit ihr auch die Struktur der Erzählung Wirk-lichkeit stiftet und wie damit unser Sprachgebrauch die Welt nicht nur formt, sondern aktiv gestaltet. Dies wird wahrneh-mungspsychologisch deutlich, wenn die ästhetische Erfahrung eines Gemäldes wie Alexander Bogomazovs Straßenbahn, 1914 mehr als hundert Jahre nach seinem Entstehen mit einer Aktu-alität aufgeladen ist, welche u. a. den Kubismus, die russische  Avantgarde oder die Rolle des Verkehrs mit unserer Gegenwart  verfügt. Dabei ist es auch wichtig, so der reflektierte Ansatz  der Autorin, nicht zuletzt auf das unbedacht Ausgesprochene zu achten, das ein unkontrollierbares Eigenleben zu entwickeln  vermag. Aus diesem Spannungsverhältnis zwischen Macht und  Machtlosigkeit entfaltet Weiss ein menschliches Drama über Strategien des Betrachtens, des Erzählens und – durchaus im  politischen Sinn – des (solidarischen) Helfens. In einer Auseinandersetzung mit dem Themenkreis um Graffiti und Street Art befragt dann die Forscherin Stefanie Fridrik  ihre wissenschaftliche Praxis und plädiert mit ihrem Beitrag  Another … in the wall erneut dafür, das Potenzial der Überkreu- zung von Graffiti und Forschung herauszuarbeiten. Der Bei-trag geht davon aus, dass Graffiti und Street Art schon längst in den Arenen der Werbung, des Tourismus, des Fashion- sowie  Grafik-Designs, der Kunstmessen und -auktionen, des urba- nen Marketings sowie der Galerie- und Museumsausstellungen kursieren und in einer Vielzahl von Publikationen analysiert und diskutiert werden. Der Artikel erläutert dabei die Rolle und Funktion von Graffiti-Erzählungen und stellt auch ein bil-dungspolitisches Plädoyer dar: We … need … education. Insge- samt geht es darum, nicht nur etwas über Graffiti zu lernen, sondern von Graffiti zu lernen, um so das zu „feiern“, was es sein kann: Unfinished business. Friederike Landau arbeitet dann in ihrem literarisch-essay-istischen Beitrag Formationen des Politischen die Debatten über  denkmalgestützte Erinnerungspolitik in öffentlichen Räumen heraus: Lyrisch gerahmt macht sie aktuelle internationale Ent- wicklungen im erzählerischen Ausverhandeln von Geschichte  und Geschichten anhand ausgewählter Beispiele wie dem Wie-ner Lueger-Denkmal greifbar. Im weiterreichenden Diskurs über Erzählungen sowie den Auf- und Abbau, die An- und  Abwesenheit des Politischen drängt sich dabei die Frage auf,  wie städtische Gesellschaften und „die Politik“ mit Denkmä- lern umgehen, wenn sowohl ihre andauernde Präsenz als auch ihre konstruierte Leere problematisch werden. Wenn also Be-deutungskonflikten in einer gegebenen Stadt Raum gegeben und dieser Raum bewusst offen- und ausgehalten wird, anstatt eine allseits anerkannte und somit pseudo-abgeschlossene Ver- sion von Geschichte zu erzählen, können, so die Autorin, in  verwundeten Städten vielleicht auch (politische) Heilungspro- zesse beginnen. In seinem Review Essay unternimmt Dominik Irtenkauf  dann eine konstruktiv-kritische Auseinandersetzung mit Kilian  Jörgs Erzählung Backlash (2020), die vom Titel weg damit ver-


bunden ist, dass die aktuelle politische Landschaft sich derzeit in eine gefährliche Richtung bewegt: Das Erstarken (rechts-)populistischer Bewegungen, der zunehmende Verlust einer eigenen kritischen Mitte und die Indifferenz gegenüber dem ökologischen Kollaps unseres Planeten führen zu einer Rück- wärtsbewegung, zu einem reaktionären Backlash. Ein Umstand,  der politisch mit den devastierenden Wirkungen des Kapitalis-mus zusammenfällt, dessen fortlaufende Produktion dafür sor-gen muss, die (metaphorische) Maschinerie gut zu ölen. Dabei steht auch vor Augen, dass sich das neoliberale kapitalistische System vermehrt durch die Abweichungen von der Norm als durch die Norm antreibt … eine politische Erzählung, eine  Erzählung des Politischen, die nicht zuletzt die Notwendigkeit  einer Rückkehr zu Text und Lektüre fordert. Die Redaktion der ZUKUNFT kann auch diesmal eine thema-tisch passende Bildstrecke präsentieren, welche die Künstle-rinnen Elisabeth Öggl und Lorena Pircher dankenswerter  Weise gestaltet haben. Am Ende unserer Ausgabe erläutern sie  mit ihrem Beitrag I followed my Instinct and turned into a Book eingehend Ihre Kunstwerke und erlauben Einblicke in ihre Schwerpunktsetzungen und Arbeitsprozesse. Dabei durchzieht die visuelle Linie dieser Ausgabe der ZUKUNFT eine intensive  Auseinandersetzung mit dem Buch als Objekt und folgt im Sin- ne der Erzählungen des Politischen der Frage: Wenn das Buch nichts mehr muss, was kann es dann? Wir hoffen wie immer, dass unsere Leser*innen mit dieser Aus- gabe der ZUKUNFT visuell und schriftlich mehrere Möglichkei-ten vor Augen haben an der Grenze von Literatur und Politik  Anregungen dafür zu erhalten, aktuelle Diskussionen aus meh- reren Perspektiven zu beleuchten. Denn die Aktualität ist der  Redaktion der ZUKUNFT ein eminentes Anliegen … Erzählen Sie sich doch das Politische und politisieren Sie die Erzählun- gen … Wir senden Ihnen im Namen der gesamten Redaktion  herzliche und freundschaftliche Grüße, Bianca Burger, Thomas Ballhausen und Alessandro Barberi BIANCA BURGER  ist Redaktionsassistentin der ZUKUNFT und hat sich nach ihrem   geisteswissenschaftlichen Studium der Frauen- und Geschlechter- geschichte sowie der historisch-kulturwissenschaftlichen Europaforschung  in den Bereichen der Sexualaufklärung und der Museologie engagiert. THOMAS BALLHAUSEN  lebt als Autor, Kulturwissenschaftler und Archivar in Wien und Salzburg.  Er ist international als Herausgeber, Vortragender und Kurator tätig.  Zuletzt erschien sein Buch  Transient. Lyric Essay (Edition Melos, Wien).  ALESSANDRO BARBERI  ist Chefredakteur der ZUKUNFT; Bildungswissenschaftler, Medienpäda- goge und Privatdozent. Er lebt und arbeitet in Magdeburg und Wien.  Politisch ist er in der SPÖ Landstraße aktiv. Weitere Infos und Texte online unter: https://lpm.medienbildung.ovgu.de/team/barberi/


Inhalt 6    Ab zum Mond!    VON ERKAN OSMANOVIĆ 12    Verkehrt, verzerrt, vergessen    VON MARIE-THERES STAMPF 20     Sommerquartier    VON THOMAS BALLHAUSEN 24    Herr Seicherl und sein Hund    VON JOHANNA LENHART 32    Straßenbahn, 1914    VON ZARAH WEISS 36    Another … in the wall    VON STEFANIE FRIDRIK 40    Formationen des Politischen     VON FRIEDERIKE LANDAU 46    Wie wir uns dem Rückfall entziehen    VON DOMINIK IRTENKAUF 50    I followed my Instinct and turned into a Book    VON ELISABETH ÖGGL & LORENA PIRCHER ELISABETH ÖGGL & LORENA PIRCHERCOVER UNTITLED IBLEIBLECH, WEISSE SPRAYFARBE,  HANDGESCHÖPFTE SILIKONSEITEN,  SIEBDRUCK, 50CM X 50 CM X 4CM,  UNIKUM, WIEN 2019 IMPRESSUM Herausgeber: Gesellschaft zur Herausgabe der Zeitschrift »Zukunft«, 1110 Wien, Kaiserebersdorferstraße 305/3 Verlag und Anzeigenannahme: VA Verlag GmbH,  1110 Wien, Kaiserebersdorferstraße 305/3, Mail: office@vaverlag.at Chefredaktion: Alessandro Barberi Stellvertretende Chefredaktion: Thomas Ballhausen Redaktionsassistenz: Bianca Burger Redaktion: Julia Brandstätter, Hemma Prainsack, Katharina Ranz, Constantin Weinstabl Online-Redaktion: Bernd Herger Mail an die Redaktion: redaktion@diezukunft.at Cover: Elisabeth Öggl & Lorena Pircher – Cover Untitled I


 6 | ZUKUNFT  Was haben Robert Musil und die Mondlandung mit der Klimakrise zu tun? Warum müssen wir immer wieder über unsere Visionen, Ideen und Träume sprechen? Und was kann uns die Einführung des Sicherheitsgurts über die Bewältigung der Klimakrise lehren? Mit Blick auf das Thema dieser Ausgabe der ZUKUNFT streift  ERKAN OSMANOVIĆ  durch Musils  Der Mann ohne Eigenschaften, schreibt über die Spannung zwischen dem Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn und berichtet von Ideen, die unsere Demokratie und Verwaltung stärken könnten. Ab zum Mond! AB ZUM MOND!  VON ERKAN OSMANOVIĆ I.  WETTLAUF ZUM UNMÖGLICHEN Das Unmögliche ist geschehen: Am 21. Juli 1969 betre- ten Neil Armstrong und Buzz Aldrin als erste Menschen den Mond. Es ist das vorläufige Ende des Wettlaufs ins All zwi-schen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten. Was vor wenigen Jahren als Traum erschien, war nun Realität gewor-den. Doch wie war das möglich? War es das Geld, die Technik oder die Neugier der USA, die den Unterschied machten? Es war all das – und der Möglichkeitssinn. Von dem schreibt Robert Musil in seinem Roman Der  Mann ohne Eigenschaften. Das Buch dreht sich um den 32-jäh-rigen Mathematiker Ulrich. Dieser nimmt sich ein Jahr Ur-laub vom Leben und wird zum Sekretär seiner Cousine Diotima. In ihrem Haus entwickelt er mit anderen die Par-allelaktion: Sie arbeiten an dem Thronjubiläum des österrei-chischen Kaisers, welches das Jubiläum des deutschen Amts-inhabers übertreffen soll. Doch die Parallelaktion scheitert. Ulrich trifft auf der Beerdigung seines Vaters seine verheirate-te Schwester Agathe wieder und verliert sich in seiner Suche nach einem anderen Zustand. Seine Suche bleibt ebenso wie der Roman unvollendet. Dafür präsentiert Musil ein Spannungsverhältnis, das die  meisten von uns kennen:  „Wenn man gut durch geöffnete Türen kommen will,  muss man die Tatsache achten, dass sie einen festen Rahmen haben: dieser Grundsatz, nach dem der alte Professor immer gelebt hatte, ist einfach eine Forderung des Wirklichkeits- sinns. Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, dass er seine Daseinsberechtigung hat, dann muss es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann. Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er er-findet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehn; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fä-higkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu den-ken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“ Wenn ich jetzt also daran denke einen Cappuccino mit  Schlagobers zu besorgen, so kann ich das als genauso real be-trachten wie die leere Kaffeetasse auf meinem Schreibtisch? Ja, kann ich. Und auch wenn sich die Tasse nicht plötzlich mit Kaffee füllen wird, so bewirkt das Denken an diese Möglich-keit doch etwas in mir. In der Politik unserer Tage scheint das anders zu sein: befragt zu Utopien oder auch nur Maßnah-men zur Verhinderung einer Klimakatastrophe schweigen die Politiker*innen. Viele Volksvertreter*innen folgen da ganz dem Spruch des verstorbenen deutschen Kanzlers Helmut Schmidt: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“ Und auch bei Pressekonferenzen oder in Talkshows ist die Rede davon, dass man pragmatisch handeln müsse und kein Platz für Träumereien in der Politik sei. Fragt man Politiker*innen nach Vorstellungen ihrer idealen Gesellschaft, kommen nur Allgemeinplätze. Warum eigentlich? Die Corona-Krise brach-te und bringt Leid, Arbeitslosigkeit und Frust über uns. Aber 


hat die Pandemie uns nicht auch vor Augen geführt, dass wir auch anders leben könnten? Mit weniger Konsum, Fernreisen und Autos. Warum sollte das nicht auch nach Corona möglich sein? Warum fehlt vielen Politiker*innen der Mut zu neuen Ideen? Oder ist es Fantasielosigkeit?  II.  DENKEN IST EIN SINNESORGAN Kinder träumen, Erwachsene planen und handeln – so  ist das. Aber muss das so sein? Schließt sich beides aus? Dür-fen auch Erwachsene träumen? Müsste es nicht die Pflicht al-ler Politiker*innen sein, zuerst zu träumen und erst danach zu planen und zu handeln? Gegen Denken spricht sich doch auch niemand aus. Und ist Träumen nicht nur eine Steige-rung von alltäglichem Denken? Der deutsche Philosoph Markus Gabriel sieht im Denken  gar ein Sinnesorgan. Im Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit vom 7. November 2014 erklärt er seinen sogenannten Neuen Realismus:  „Wir denken oft, dass es eine einzige Wirklichkeit gibt.  Wir sagen: ,In Wirklichkeit gibt es keine Feen, Hexen oder Einhörner.‘ Wenn wir aber über Einhörner nachdenken oder Geschichten von ihnen erzählen, existieren sie zumin-dest in unseren Gedanken. Der Neue Realismus fragt: Wa-rum sollte eine Existenz in Gedanken weniger real sein als eine Existenz im physikalisch ausgedehnten Universum? Ich denke: Real ist, was real ist. Also Gedanken, Wünsche, Ide-en, Träume ...“. Menschen leben in verschiedenen Sinnfeldern, so Gabri- el, die man sich als eigenständige Filme vorstellen könne. Die Menschen würden entscheiden, in welchem Film sie sich be-finden. Damit stünden dem Menschen auch viele Möglich-keiten und Tatsachen offen: „Ich glaube, der Mensch ist das-jenige Lebewesen unter allen anderen, das in Vorstellungen von sich lebt und sie realisieren kann.“ Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk Kultur vom 2. September 2018 erklärt Gabriel, dass wir zwar Lebewesen seien, deren Körper oder Organisa-tion durch Jahrmillionen von Evolution entstanden sei. Doch wir seien auch im Gegensatz zu anderen Tieren Wesen, die diesen Status nur begrenzt hätten: „Das heißt, wir verhalten uns in Freiheit zu unserem eigenen Tiersein und müssen es deswegen interpretieren und können es in bestimmten Gren-zen auch verändern“. Der Mensch kann zu jedem Zeitpunkt frei entscheiden,  was er machen will. Anders gesagt: Jeder Augenblick trägt das Potenzial zur Veränderung in sich. Die Umwelt grenzt die Möglichkeiten ein, aber nur auf den ersten Blick, wie es im Mann ohne Eigenschaften heißt:  „Es ist die Wirklichkeit, welche die Möglichkeiten weckt,  und nichts wäre so verkehrt, wie das zu leugnen. Trotzdem werden es in der Summe oder im Durchschnitt immer die gleichen Möglichkeiten bleiben, die sich wiederholen, so lan-ge bis ein Mensch kommt, dem eine wirkliche Sache nicht mehr bedeutet als eine gedachte. Er ist es, der den neuen Möglichkeiten erst ihren Sinn und ihre Bestimmung gibt, und er erweckt sie.“ III.  ÜBER DAS UNMÖGLICHE SPRECHEN Vor etwas mehr als 100 Jahren war es in Europa selbstver- ständlich, dass Kinder in Minen und Bergwerken arbeiten und Erwachsene 16 Stunden in Fabriken schuften. Frauen durf-ten bis in die 1960er-Jahre in vielen Länder Europas nicht be-stimmen, wo und mit wem sie zusammenleben wollen. Das erscheint uns so fremd, als hätte es nichts mehr mit uns zu tun. Doch gesellschaftliche Normalität verändert sich manch-mal schneller als gedacht: Eine Zigarette im Restaurant? Kein Problem – zumindest bis zum November 2019. Denn seitdem gilt in Österreich absolutes Rauchverbot in der Gastronomie. Heute erscheint es den meisten von uns undenkbar in einem Lokal zu sitzen und beim Essen von Rauchwolken gestört zu werden. Das, was vor zwei Jahren noch in Ordnung war, fühlt sich jetzt falsch an. Wie ist das möglich? Das hänge mit den so genannten shifting baselines zusam- men, so der Sozialpsychologe Harald Welzer in seinem Buch Alles könnte anders sein, die klären würden, was Gesellschaften als normal ansehen. Der Begriff stammt ursprünglich aus der Umweltforschung und beschreibt die unterschiedlichen Ver-gleichsmaßstäbe bei der Wahrnehmung von Veränderungen. In Die Kunst kein Egoist zu sein erklärt der Publizist und Philo-soph Richard David Precht das Phänomen:  „Menschen richten ihr Verhalten danach aus, was sie er- warten, was andere tun oder was andere von ihnen wollen. Dabei sind sie in bestimmten Situationen sogar in der Lage, ihr Verhalten so stark zu verändern, dass sie sich von ihren Werten und Überzeugungen weit entfernen. Je unmerklicher diese Verschiebung erfolgt, umso leichter fällt uns die Verän-  ZUKUNFT | 7 


 8 | ZUKUNFT  AB ZUM MOND!  VON ERKAN OSMANOVIĆ derung. Auf diese Weise ist es möglich, dass uns selbst schwer-wiegende Verfehlungen als ,Anpassungen‘ erscheinen.“ Es braucht nur wenige Jahre um Vorstellungen von dem,  was allgemein akzeptiert ist, in die Köpfe der Menschen zu bringen. So erklärt sich auch, wie in den beiden Weltkrie-gen aus Bürger*innen Massenmörder*innen werden konnten. Setzt man Menschen den immer gleichen Worten, Bildern und Metaphern aus, ändert sich ihr Denken. So modifizieren individuelle Visionen, Meinungen und Ideen unsere gemein-same Wirklichkeit. Wer Demokratien stärken will, muss auch das Unmögliche denken und unter die Leute bringen. Die Journalistin Elisabeth Niejahr und der Bildungswis- senschaftler Grzegorz Nocko haben in ihrem Buch Demokra-tieverstärker Ideen gesammelt, wie Demokratie mit Offenheit, Konfrontation und Spielregeln umgehen muss und kann: 25 Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik und der Zivilgesell-schaft präsentieren Ideen, die Demokratien stabilisieren und beleben sollen. So will etwa Frank-Jürgen Weise, Vorstands-vorsitzender der Hertie-Stiftung, durch Stresstests der Ver-waltung das Vertrauen in staatliches Handeln erhöhen. Durch Checklisten könne man herausfinden, welche Personen und Institutionen in Krisenzeiten unterstützt werden müssen: „Leistungsfähige Behörden vermitteln den Menschen ein Ge-fühl der Sicherheit, der Zuverlässigkeit des Staates und das Bild von verantwortungsvoll handelnden Personen, die ruhige Zeiten dafür nutzen, sich auf den Krisenfall vorzubereiten.“ Das Buch ruft den Möglichkeitssinn auf den Plan und will  ihn in den Alltag vieler Menschen bringen. „Viele Demokra-tie-Debatten erscheinen uns Herausgebern etwas sehr wolkig, und viele gutgemeinte Partizipationsprozesse enden im Ir-gendwo, weil vorab nicht vereinbart wird, was von den Emp-fehlungen umgesetzt werden kann und soll“, so Niejahr im Interview mit Das Progressive Zentrum, „wir hatten den Ein-druck, dass ein etwas hemdsärmeligerer Ansatz dem Thema guttut.“ Das Projekt Demokratieverstärker zeigt, kleine Schritte wür- den reichen, um Großes zu verändern. Doch reicht ein Ka-talog an Maßnahmen, um nach der Pandemie die größte Be-drohung der Menschheit zu verhindern? Anders gefragt: Können kleine Schritte auch die Klimakatastrophe abwen-den? Corona hat uns vor Augen geführt, welche Einschrän-kungen Menschen aus Solidarität gegenüber anderen bereit sind hinzunehmen: persönliche Kontakte wurden verboten,  Reisen erschwert, Veranstaltungen untersagt, Geschäfte und Lokale geschlossen. Knapp ein Jahr ging das gut, doch jetzt gibt es immer mehr Frust bei den Menschen. Der Klimawan-del, so Harald Welzer, stelle die Menschen auf eine Probe, wie man sie noch nie erlebt habe: „Der ganze gigantische materielle Umschlagsaufwand, der  gemacht wird, wenn man darüber mal sprechen würde als Verursacher von Klimawandel und übrigens Verursacher von vielen anderen ökologischen Problemen, dann käme man zu dem deprimierenden Schluss, dass es mit ein bisschen Stell-schraubendrehen, wie es neudeutsch heißt, nicht getan ist, sondern dann müssen wir unsere komplette Wirtschaftsweise und die kompletten Lebensstile verändern, weil die Aufgabe bedeutet, 80 Prozent runter. Das heißt: weniger von allem.“ Das bringt den Möglichkeitssinn an seine Grenzen, oder  nicht? Muss man für den Stopp des Klimawandels und den Erhalt der Menschheit die eigenen Freiheiten aufgeben? Wie sollen Politik und Wirtschaft handeln? IV.  VOM SICHERHEITSGURT LERNEN Die Transformationsforscherin Maja Göpel schlägt in De- mokratieverstärker  gemeinsam mit der Journalistin Petra Pinz-ler vor, dass sich Wirtschaft und Politik am Wohl kommender Menschen orientieren: Gesetze sollen Enkeltests unterzogen werden. Ein Rat für Generationengerechtigkeit, so die bei-den, würde dann politische Maßnahmen auf Auswirkungen für spätere Generationen kontrollieren. Bei Bedenken könn-te der Rat mit einem Veto eingreifen oder die Regierenden durch Initiativanträge zum Handeln animieren. Fernflüge ver-bieten? Autos aus den Städten verbannen? Den Konsum von Fleisch einschränken? All das wäre mit einem solchen Rat nicht mehr nur ein man sollte, sondern ein man kann. Was man zu Beginn als Angriff auf die Freiheit werten könnte, würde normal werden. Klingt unmöglich? Ein Blick in die Vergangenheit zeigt: das ist alles andere als unmöglich – es ist der gewöhnliche Lauf der Dinge. Man denke nur etwa an den Sicherheitsgurt. Gegen die  Einführung der Gurtpflicht in den 1970er-Jahren machten sich in Österreich und Deutschland Autofahrer*innen stark. Es war die Rede von Verletzungen des Rechts auf körperli-che Unversehrtheit und Beschneidung der persönlichen Frei-heit. Außerdem wurde immer wieder eingebracht, dass je-der Mensch die Wahl haben muss: anschnallen oder nicht. Als 


 ZUKUNFT | 9  das Fahren ohne Gurt ab 1984 in Deutschland und Österreich mit einer Geldbuße geahndet wurde, stieg die Anschnallquo-te und Akzeptanz. Positive Auswirkungen der Gurtpflicht in Verletzungsstatistiken und Kampagnen der Automobilclubs trugen das Übrige dazu bei, dass sich heutzutage niemand mehr über den Sicherheitsgurt beschwert. Die shifting baselines wurden verändert, der Sicherheitsgurt beim Fahren Normali-tät – einerseits durch Gesetze, andererseits durch Aufklärung und Wiederholung der positiven Auswirkungen.  V.  ANGELN OHNE KÖDER Ist eine Änderung des Status quo jederzeit möglich?  Könnte man auch Einschränkungen im Kampf gegen die Kli-makatastrophe akzeptieren? Ja, das wäre denkbar, so der Physi-ker Felix Creutzig, aber nur im Dialog mit den Bürger*innen. Sein Vorschlag: Klimaräte. Dabei handelt es sich um ein Mo-dell von Bürger*innenräten: „In diesem Gremium versammeln sich 100 bis 150 aus- geloste Bürgerinnen und Bürger, die möglichst repräsentativ für die gesamte Bevölkerung sind. Die Bürgerinnen und Bür-ger lassen sich über mehrere Wochenenden hinweg zum Kli-mawandel und Klimaschutz von Expertinnen und Experten informieren, diskutieren miteinander und sprechen anschlie-ßend Handlungsempfehlungen aus, die in der einen oder an-deren Weise von politischen Entscheidungsträgern berück-sichtigt werden müssen. Die Teilnehmenden erarbeiten sich üblicherweise in Kleingruppen ein Unterthema. Am Ende der Treffen werden verschiedene Vorschläge zur Abstimmung gegeben und die resultierende Liste wird den politischen Ent-scheidungsträgern überreicht.“ In Frankreich und Irland habe man mit diesem Modell  gute Erfolge erzielt. Eingriffe für den Klimaschutz würden gerechter und die Akzeptanz der Bürger*innen sei höher. Au-ßerdem sinke das Risiko, „dass populistische Kräfte bestehen-de Ungerechtigkeiten auf den Klimaschutz projizieren.“ Denn, das Unmögliche wagen, bedeutet nicht nur seine  Potenziale auszuschöpfen, sondern auch die Wirklichkeit für andere so zu gestalten, dass es ihnen leichter fällt, ihre eige-nen Möglichkeiten zu erkennen und auszuleben. Denn ein Mensch mit Wirklichkeitssinn ist nicht weit entfernt von demjenigen mit Möglichkeitssinn. Im Mann ohne Eigenschaf-ten heißt es:  „Oder vielleicht sagt man es anders besser, und der Mann  mit gewöhnlichem Wirklichkeitssinn gleicht einem Fisch, der nach der Angel schnappt und die Schnur nicht sieht, während der Mann mit jenem Wirklichkeitssinn, den man auch Mög-lichkeitssinn nennen kann, eine Schnur durchs Wasser zieht und keine Ahnung hat, ob ein Köder daran sitzt. Einer außer-ordentlichen Gleichgültigkeit für das auf den Köder beißen-de Leben steht bei ihm die Gefahr gegenüber, völlig splee-nige Dinge zu treiben. Ein unpraktischer Mann — und so erscheint er nicht nur, sondern ist er auch — bleibt unzuver-lässig und unberechenbar im Verkehr mit Menschen. Er wird Handlungen begehen, die ihm etwas anderes bedeuten als an-deren, aber beruhigt sich über alles, sobald es sich in einer au-ßerordentlichen Idee zusammenfassen läßt.“ Ideen anpacken und erproben – das wäre die Aufgabe der  Politik. Vor allem auch mit Blick auf die Klimakrise. Wir kön-nen auf einen neuen Antrieb für Kraftfahrzeuge oder andere saubere Energiequellen spekulieren, aber die Zeit läuft uns da-von. Das notwendige Wissen, um Veränderungen einzuleiten liegt auf dem Tisch. Wir können die shifting baselines verschie-ben und unsere Demokratie für neue Herausforderungen stär-ken – der Möglichkeitssinn ist gefragt. LiteraturMusil, Robert (1970): Der Mann ohne Eigenschaften, Reinek: Rowohlt.Niejahr, Elisabeth/Nocko, Grzegorz (Hg.) (2021): Demokratieverstärker.  12 Monate, 21 Ideen: Eine Politikagenda für hier und jetzt, Frankfurt am Main/New York: Campus. Precht, Richard David (2010): Die Kunst, kein Egoist zu sein: Warum wir  gerne gut sein wollen und was uns davon abhält, München: Gold-mann. Welzer, Harald (2019): Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie  für freie Menschen, Frankfurt am Main: S. Fischer. ERKAN OSMANOVIĆ  ist Veranstaltungsorganisator und Literaturwissenschaftler. Er lebt  und arbeitet in Wien und Brno. Zuletzt u. a.: „Wer man gewesen war. Un- tersuchungen zum Suizid in der österreichischen Literatur des 20. Jahr- hunderts anhand von ausgewählten Werken“ (2018).


 10 | ZUKUNFT  Building a Prison for One SelfGebogenes Metall, Transparentpapier, Siebdruck,  Unikum, 22,5 cm x 15 cm x 4 cm, Wien 2019


 ZUKUNFT | 11  ELISABETH ÖGGL


 12 | ZUKUNFT  I.  KOMIK DES SCHRECKLICHEN Nicht nur, dass Franz Kafka stets als der Vertreter der Klas- sischen Moderne im deutschsprachigen Raum gehandelt wird – er stellt innerhalb und außerhalb dieser Epoche auch eine Art Sonderfall dar (vgl. Liebrand 2006). Diese Sonderstellung wird durch die Schöpfung eines eigenen Adjektivs unterstri-chen, das Aufschluss über ihr Wesen gibt: „kafkaesk“ – ur-sprünglich auf Texte im Stile Kafkas angewandt, heute Begriff für unerklärlich Bedrohliches – lässt phonetisch die Verwandt-schaft zum Grotesken mitschwingen. Als ästhetische Kategorie lässt sich das Groteske zurück- führen auf die Ornamentgroteske der Bildenden Kunst. Dieser bildliche Ursprung schlägt sich im Monströsen und Entstell-ten nieder und prägte lange Zeit die Auffassung einer not-wendigen körperlichen Dimension des Grotesken. Es strebt nach dem Zusammenspiel des Widersprüchlichen, der Kom-bination aus Chimäre und Ornament, dem Komischen und dem Unheimlich-Bedrohlichen. Doch auch körperlos findet es seine Wege in die Literatur: Auf der Ebene eines Entfrem-dungsmodus, der die abgebildete literarische Realität formt, aber auch in der Nutzung von Räumen, die sich in ihrer  Polyvalenz dem Grotesken anzubieten scheinen. Das Werk des zeitgenössischen deutschen Autors Eugen  Egner ist offensichtlicher im Bereich der Komik angesiedelt als Kafkas. Er sieht sich als der „Tradition der Groteske“ (Ab-leev 2015: 77) verbunden, die er als die „Komik des Schreck-lichen (wie etwa bei Kafka)“ (ebd.) beschreibt. Als Ausschnitt aus seinem überwiegend surrealen und grotesken literarischen Werk soll hier der Erzählband Die Eisenberg-Konstante näher betrachtet werden, der mit der ungewöhnlichen Kombinati- on eines inflationären Gebrauchs von (pseudo-)wissenschaft-lichem Fachvokabular, absurden Fabelwesen und phantasti-schen Wendungen aufwartet. II.  LACHEN UND ENTFREMDUNG Die existentialistische Deutungsweise des Grotesken bei  Kafka als düster und bedrohlich fasst das Phänomen zu kurz: Das Groteske und seine häufige Umschreibung als ein in der Forschung vielfach beschriebenes Lachen, das sprichwörtlich im Halse stecken bleibt (vgl. Kayser 1957) entziehen sich ei-ner eindeutigen Festlegung durch die Affektpoetik, das am-bivalente Oszillieren zwischen Grauen und Komik erscheint essenziell. Ein häufig zugunsten der Ernsthaftigkeit hochli-terarischer Werke verdrängter Aspekt ist, dass auch bei Kaf-ka selbst das Gelächter überhandnahm. Er empfand Komik seinen literarischen Erzeugnissen gegenüber, auch dort, wo das Rezeptionsparadigma oft zu bedrückenden Auslegungen neigt. Max Brod schrieb in seiner Kafka-Biographie: „So zum Beispiel lachten wir Freunde ganz unbändig, als er uns das erste Kapitel des Proceß zu Gehör brachte. Und [Kafka] selbst lachte so sehr, daß er weilchenweise nicht weiterlesen konn-te“ (Brod 1963: 188).  Egner ist auch als Zeichner und Comicautor tätig – nahe- liegend, wenn man sein Faible für die schon erwähnte Bild-lichkeit des Grotesken bedenkt. Dass auch Kafka Versuche in der bildenden Kunst unternahm, ist beispielsweise durch die Verbreitung seiner (eher beklemmenden) Skizzen auf Buchumschlägen bekannt (vgl. Bokhove/Dorst 2006). Sei-ne Strichmännchen stehen in einem heimlichen Verhältnis zu seinen literarischen Figuren: Aller detaillierten Charakte- VERKEHRT, VERZERRT, VERGESSEN  VON MARIE-THERES STAMPF Im vorliegenden Essay arbeitet die Literaturwissenschaftlerin  MARIE-THERES STAMPF  anhand einer vergleichenden  Lektüre ausgewählter Werke von Franz Kafka (1883–1924) und Eugen Egner (*1955) eine Ästhetik der Groteske heraus. Körper, aber insbesondere Räume und ganze Welten werden bei diesen wichtigen deutschsprachigen Autoren auf den Kopf gestellt – nicht zuletzt auch gesellschaftlich und politisch. Verkehrt, verzerrt,   vergessen


 ZUKUNFT | 13  risierung beraubt und trotzdem ins Scheinwerferlicht gerückt, gleichen sie den Protagonisten Kafkas, die häufig auf Berufs-bezeichnungen oder auf ein unbeschreibliches Ich reduziert werden. Für Kafka waren diese gezeichneten Körper eine „persönliche Bilderschrift“, die er jedoch selbst nicht mehr entziffern konnte (Müller 1985: 148f.) – ein Phänomen, das bisweilen auch auf seine Texte zutraf. Kafkas Lachen ist ein Reflex auf das Groteske, das unser Verständnisvermögen her-ausfordert und uns mit einer rätselhaften, entfremdeten Rea-lität konfrontiert. Schon 1957 versuchte sich der Literaturwissenschaftler  Kayser an einer prinzipiellen Strukturbeschreibung der gro-tesken Welt: „Das Groteske ist eine Struktur. Wir könnten ihr Wesen  mit einer Wendung bezeichnen, die sich uns oft genug aufge-drängt hat: das Groteske ist die entfremdete Welt. [...] Dazu  gehört, daß, was uns vertraut und heimisch war, sich plötzlich als fremd und unheimlich enthüllt. Es ist unsere Welt, die sich verwandelt hat.“ (Kayser 1957: 198f.)  Bei der Ent-fremdung wird der Bezug zur Realität nicht  nur an der sprachlichen Oberfläche (wie bei der Verfrem-dung) verzerrt, sondern auf inhaltlicher Ebene gestört bis auf-gehoben. Die Transformation ins Gegensätzliche (vertraut zu fremd) bildet die Grundlage für ein Unheimlichkeitsparadig-ma, bei dem die Enthüllung als Fremdes für das groteske Mo-ment sorgt. Wie wird das Vertraute nun aber zum Fremden? Bei Peter Fuß erfolgt diese Verwandlung anhand von drei  Mechanismen: Verkehrung, Verzerrung, Vermischung. Er begreift das Phänomen Groteske als „Medium des histori-schen Wandels“ (Fuß 2001: 14), das durch die „Dekomposi-tion symbolisch kultureller Ordnungsstrukturen“ (Fuß 2001: 13) im Widerstreit mit dem Klassischen die Liquidation dieser Strukturen (im Sinne einer Verflüssigung) bewirkt. Dadurch wird ein Erstarren der Kulturordnung verhindert und Trans-formationen ermöglicht – hierin liegt das eigentliche kreative Potenzial des Grotesken. Wie bei Bachtins Konzept des Kar-nevals kann darin ein Aufzeigen von Normen, eine Umkehr von Hierarchien und damit ein indirektes Hinterfragen der bestehenden (gesellschaftlichen/kulturellen) Strukturen gese-hen werden. III.   TRÄUME UND CHIMÄREN Diese drei Mechanismen können auch als Entfremdungs- mechanismen der grotesken Welt und nicht nur ihrer Motive verstanden werden. Dabei entstehen traumähnliche Welten, in denen die Ordnungsstrukturen der alltäglichen Wirklich-keit außer Kraft gesetzt sind (vgl. Fuß 2001: 96). Egner selbst gibt im Gespräch mit Ableev an, sein Darstellungspotenzial aus der Trias Traum, Rausch und Wahn zu schöpfen. Und auch Kafkas Welten werden oft als einer Traumlogik folgend beschrieben. Sein Wirklichkeitsmodus kann so in Verbindung gebracht werden mit Freuds Traumdeutung: Der latente In-halt seiner Erzählungen muss in mühsamer Arbeit auf eine der Traumdeutung analoge Weise erschlossen werden. Kafka selbst vermerkt in seinem Tagebuch kurz nach dem Verfassen von Das Urteil: „Gedanken an Freud natürlich“ (Kafka 1951: 294). Dessen Traumarbeit (Verdichtung, Verschiebung, Ver-bildlichung, Symbolik) verbinden sich mit den oft fassaden-haft wirkenden Gesprächen und Gedankengängen von Kafkas Figuren: Sie scheinen oft zensiert und unvollständig, wie die nachlässig überhörte Hälfte eines Telefonats. Kafkas Selbstzen- Abb. 1: Druckgrafik Eugen Egner, signiert © Eugen Egner – Verlag Zweitausendeins –Privatsammlung


 14 | ZUKUNFT  sur in seinen traumhaften Erzählungen scheint so stark gewe-sen zu sein, dass er selbst oft nicht mehr sagen konnte, was eigentlich den interpretativen oder latenten Kern seiner ma-nifesten Erzählungen ausmachte. An Felice Bauer schreibt er: „Findest du im ,Urteil‘ irgendeinen Sinn, ich meine ir-gendeinen geraden, zusammenhängenden, verfolgbaren Sinn? […] Ich finde ihn nicht und kann auch nichts darin erklären“ (Kafka 1967: 394) . Egners Traumbegriff unterscheidet sich von dem Kaf- kas: Er scheint eher einem Traumdiskurs verbunden, der den Traum wie Rausch und Wahn als kreatives Potenzial für das Phantasma begreift. Die direkte persönliche Erfahrung steht dabei nicht im Vordergrund: Auch psychiatrische Aufzeich-nungen beeinflussten Egners Werk. Obgleich seine Traumop-tik schriller anmutet, sind sich beide Autoren ähnlich in der Selbstverständlichkeit, mit der die grotesk entstellte Wirklich-keit von ihren Bewohner*innen aufgenommen wird. Egners entfremdete Welten des Grotesken unterscheiden sich aber noch auf eine andere Weise von Kafkas. In der Kurzgeschich-te Die Eisenberg-Konstante bedient er sich eines pseudowissen-schaftlichen Vokabulars, um die Zeitschleife (erzeugt vom ti-telgebenden Gerät) zu erklären, in welcher der Protagonist ein angenehmes, vorhersehbares Leben führt. Das Groteske bricht in diese schon nicht-empirische Realität in Form des Affen-gottes Schaprak Argafas ein, ein außerirdisches, übernatürli-ches Wesen, das die Funktionsweise der Zeitschleife stört. Eg-ner greift hier scheinbar schwer vereinbare Gattungsmerkmale auf: Die Rationalisierungsbestrebungen der Science Fiction (in Form des Zeitschleifen-Geräts) sowie das Übernatürliche, Irrationale der klassischen Fantastik – und verschreibt sich so einem Pluralismus widerstrebender literarischer Diskurse, der nicht zuletzt vom Text selbst thematisiert wird, wenn die Ei-senberg-Konstante eigentlich eine stabile Welt schaffen sollte, aus der das Unerwartete bzw. Fremde ausgeschlossen wird. In selbstreferentieller Weise löst das Groteske auf der Metaebe-ne der Genremerkmale des Textes die Struktur auf, wodurch eine Gattungschimäre entsteht. Die Chimäre (Produkt des Vermischungs-Mechanismus)  tritt also nicht nur in ihrer bildlichen Verkörperung auf, auch Gregor Samsas Verwandlung ergibt eine groteske Vermischung: Äußerlich monströses Ungeziefer, besteht sein menschlicher Verstand doch ungehindert fort und – was besonders zum grotesken Effekt beiträgt – reflektiert die Situation nüchtern. Die Chimäre ist keine oberflächliche; hier werden äußerliche (Käferkörper) und innerliche Kategorien (menschliche ratio)  VERKEHRT, VERZERRT, VERGESSEN  VON MARIE-THERES STAMPF vermengt. Vernunft und Erkenntnisvermögen werden auch sprachlich zum Vehikel grotesker Komik: Bei Egner in Form einer Vorliebe für das Lateinische als Wissenschaftssprache, bei Kafka als juristische Termini. Der Affe ist bei beiden Autoren ein beliebtes Motiv, das  sich hervorragend zur Vermischung von Tierischem und Menschlichem eignet. Dabei zeigt die Einstufung von Eg-ners Affengott als groteske Chimäre die eigenen kulturellen Vorbehalte auf: In antiken polytheistischen Religionen wäre solch ein Wesen, wie Kayser in Bezug auf die Inka behauptet, zumindest im sakralen Kontext selbstverständlich. Beim reli-gionskritischen Egner, der Spiritualität positiv von Religion absetzt, kann im gewalttätigen Affengott auch Kritik am Bra-chialen göttlicher Gewalt gesehen werden. In Kafkas Kurzge-schichte Ein Bericht für eine Akademie, in dem der nur mehr äu-ßerlich Affe gebliebene Erzähler seine innerliche Entwicklung zum Menschenverstand hin schildert, wird die evolutionisti-sche Gegenüberstellung des Menschen mit seinem Vorgänger aufgegriffen und die Grenzen der Menschlichkeit (in beiderlei Sinn) anhand des Hybrid-Wesens ausgelotet – Kafka übt hier ungewohnt offen Kritik an der menschlichen Natur, der Affe als groteskes Motiv verweist auf ihren tierischen Anteil, über den das Urteil vorteilhafter ausfällt. IV.  VOM RAUM ZUM TEXT Der zweite groteske Mechanismus, die Verkehrung, ver- tauscht Oppositionen und dreht Hierarchien um. Hier wird der subversive Charakter des Grotesken am deutlichsten, da diese Ordnungen auf Machtgefüge verweisen. Bei Kafka ist diese Verdrehung beinahe schon programmatisch, vor allem in ihrer Anwendung auf bürokratische Strukturen. Passend zu Egners Fokus auf die Komik führt dieses Potenzial des Gro-tesken im Erzählband Die Eisenberg-Konstante zu einer (zumin-dest auf den ersten Blick) weniger bedrückenden Metaphorik. Auf humoristische Weise wird etwa in seiner Erzählung Xylo-mania die Ordnung der Biologie verkehrt, wenn sich die Mut-ter bei der Geburt verdoppelt – diese Zwillingsmutter erweist sich in der Folge auch als praktische Verdoppelung der Ar-beitskraft. Egner verdreht häufig naturwissenschaftliche Ge-setze mit einer Selbstverständlichkeit, die unser grundsätzli-ches Erkenntnisvermögen in Frage zu stellen scheint. Auch dieser Aspekt ist für das Groteske wesentlich: Die Konfron-tation mit dem plötzlich Entfremdeten greift den Glauben an das eigene Verständnisvermögen an. Gleiches gilt für die lite-rarische Darstellung von Raum in Kafkas und Egners Arbei-


 ZUKUNFT | 15  ten. So ist in ihren Beschreibungen besonders ein Bestand-teil bedeutsam: der Dachboden. In Kafkas Proceß ist er Sitz des Gerichtes, worin sich die Machtstruktur zwischen Angeklag-tem und Richter spiegelt. Gleichzeitig ist das zuhauf religiös interpretierte Gericht so allgegenwärtig wie der Dachboden. Und doch ist der Dachboden immer auch mehr als der obers-te Raum des Hauses: Er ist Rumpelkammer, Ort des obsolet Gewordenen, des Archivierten und gleichzeitig Vergessenen. Im Proceß verweist die Nutzung der Dachböden als Gerichts-kanzleien auf verborgene archaische Strukturen in der Gesell-schaft: Das allmächtige Gericht demonstriert einen vordemo-kratischen Rechtsbegriff, diktiert die apriorische Schuld, die Präsumtion der Unschuld wird geradezu verkehrt. Das Ge-richt ist aber dorthin verlagert, wo das Obsolete aufbewahrt wird, das heimlich als archaischer Anteil an der Gesellschaft fortwirkt. Auf dem Dachboden herrschen auch zwischen den Geschlechtern archaische Gesetze: Die Frau des Gerichtsdie-ners wird in selbstverständlicher Ergebenheit zum Untersu-chungsrichter verschleppt.   Auch bei Egner verstaubt Vergessenes, heimlich Fortwir- kendes am Dachboden: der Autor. In seiner Erzählung Ein literarischer Kadaver bietet der Ich-Erzähler seine Dienste an: „Versierter Ich-Erzähler organisiert stagnierende bzw. ge-scheiterte Prosaprojekte (auch hoffnungslose Fragmente) von innen her mittels persönlicher Teilnahme am Text. Auktori-al-Service, Tel. etc.“ (Egner 2004: 64). Er wird engagiert, um das Romanfragment des Schundautors Arnold von Bosarth zu retten, der in seinen Text geradezu hineingestorben war. Die letzten Tage vor seinem Scheintod verbringt von Bosarth auf einem stickigen, überhitzten Dachboden. Bei Egner sind es nicht Gericht und Rechtsprechung, die auf den Dachbo-den als Ort des Obsoleten verbannt werden; es ist der Autor kurz vor seinem Tod, der seiner eigenen Schöpfung macht-los gegenübersteht. Wie das Gericht ist er nur ein Überbleib-sel überholter Machtstrukturen. Im Schloß und in Egners Er-zählung Mackarts Kopf bewohnen die Protagonisten selbst den Dachboden (bzw. ein dachbodenartiges Zwischengeschoss). Damit nimmt der Dachboden nicht mehr den Symbolgehalt als Raum für das Obsolete ein; vielmehr geht es hier um ei-nen Ort der Absonderung und des Vergessens. Mackart ver-steckt sich dort vor seinen Eltern, die im selben Haus woh-nen. Abgesondert ist der Dachboden in dem Sinn, dass dort „nicht mütterlicher Schutz und nicht väterliche Ordnung“ (Rothe-Buddensieg 1974: 2) herrschen – er ist nun Ort der Flucht vor Autoritäten und nicht mehr ihr Sitz. Auch für K. ist das widerwillig gewährte Dachzimmer letzter Zufluchtsort. Er und Mackart gehören gleichzeitig aber in die Kategorie des Vergessenen: K.s Bestellung zum Landvermesser ist vergessen (bzw. zumindest verlegt) und damit auch sein Daseinszweck in dem Ort; Mackart fantasiert darüber, dass seine Eltern, die ihn im Ausland wähnen, ihn zwar nach Hause zu holen wünschen – doch dies ob wichtigerer Angelegenheiten wieder verges-sen. In seiner verkehrten Nutzung als Wohnraum oder öf-fentlicher Raum werden die symbolischen Zuweisungen des Dachbodens als Ort des Vergessenen, Obsoleten und gleich-zeitig Allgegenwärtigen übertragen. Er bietet als polyvalenter Raum unzählige Möglichkeiten für groteske Szenarien, die durch assoziative Verschiebungen entstehen. Kafkas Schloss lenkt als bürokratische Ordnungsinstanz die  Geschicke des Dorfes, ist bestimmende Allmacht und den-noch unsichtbar und unerreichbar. Seine übertrieben große Wirkungsmacht ist monströs aufgeblasen, gleichzeitig ist es ins Unendliche geschrumpft, wenn es unsichtbar bleibt: Der ti-telgebende Ort des Romanfragments wird paradoxerweise nie als Ort wirksam, sondern steht als blinder Fleck im Mittel- Abb. 2: Druckgrafik Eugen Egner, signiert © Eugen Egner – Verlag Zweitausendeins –Privatsammlung


 16 | ZUKUNFT  VERKEHRT, VERZERRT, VERGESSEN  VON MARIE-THERES STAMPF punkt der Erzählung. Das Schloss besteht nur aus Referen-zen (die Einflüsse auf das Dorf) und Symbolen (Symbolträger wie die Sekretäre und Schlossbeamten), aber nicht aus Raum. Auch bei Egner findet sich solch ein unsichtbares Schloss. In Xylomania wird die Abwesenheit des Schlosses sogar inhalt-lich thematisiert: Der Künstler Genzel wird beauftragt, eine Plastik zu entwerfen, die unter anderem an das verschwunde-ne Jagdschloss des Grafen Segun erinnern soll. Der ursprüng-liche Standort des Schlosses ist mit Bäumen überwuchert, es hat durch eine spezielle Tarnung das Aussehen eines Wald-stücks angenommen. Lediglich aus den Ästen geformte Sym-bole weisen auf das Schloss hin. Das wortwörtlich unsichtba-re Schloss bei Kafka ist hier tatsächlich unsichtbar und besteht wie bei Kafka nicht aus Raum, sondern aus reinen Referen-zen. Das Schloss bleibt in beiden Erzählungen unerreichba-rer Raum – ein Schloss, das in sich selbst verschlossen bleibt. Gleichzeitig reflektiert die Unzugänglichkeit des Schlosses das Fehlen von K.s Vergangenheit. Auch in Xylomania scheint das fehlende Schloss mit der Zeit zusammenzuhängen: Alterna-tive Handlungsstränge, die den Leser*innen über weite Stre-cken als tatsächliche Handlung präsentiert werden, lösen sich jäh als Tagträume auf und führen wieder zurück an ihren Ur-sprungszeitpunkt. Das Fehlen des Schlosses, das als Chronotop (vgl. Bachtin 2008) das Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart symbolisiert, stört die Erzählzeit. In Egners Ein literarischer Kadaver betritt der Ich-Erzäh- ler ein Textfragment, wodurch es zum mehrdimensionalen Raum wird. Er betrachtet den Text-Verfall von innen, reist durch die fragmentierten Spuren des gescheiterten Romans, wobei er einen Teilabschnitt als Romanfigur verlebt. Dabei erweist sich das Romanfragment als unbeherrschbar, wird selbstständig und verweigert, auch im Sinne von Roland Bar-thes (vgl. Barthes 2005), jegliche Autorität. Auch bei Kafka wird dem Text Räumlichkeit und Autonomie zugesprochen. Die parabelhafte Binnenerzählung Vor dem Gesetz, mit wel-cher der Gefängniskaplan Josef K. im Proceß helfen möchte, begreift den Gesetzestext als Raum. Die Parabel selbst wiede-rum ist durch ihre Position als auch ihren Inhalt die Schwelle zum Gesetz. Der Text als Raum wird bei beiden Autoren zum autonomen, autorunabhängigen Gebilde, das sich einer end-gültigen sinnvollen Deutung entzieht. Doch nicht nur durch Text im Text wird die Räumlich- keit desselben demonstriert. Bei beiden Autoren werden Grenzen zwischen Texten überschritten: Wiederkehrende  Elemente wie die Pilzsuppenfabrik, die fiktive Stadt Segun oder der Affengott Schaprak Argafas durchqueren bei Egner die eigentlich unabhängigen Texte des Erzählbandes, die da-durch als abgetrennte Räume bewusst werden. Diese Form der Metafiktionalität, bei der Textgrenzen aufgezeigt und ne-giert werden, ist bei Kafka mit einem biografischen Zug ver-sehen: Die Protagonisten von Das Schloss und Der Proceß tra-gen den Nachnamen K. – häufig als Selbstreferenz zu Kafka gedeutet. K. und Josef K. treten gleichsam als geschichts- und biografielose Protagonisten auf, und in Das Schloss gibt sich K. als Josef aus. Mit diesem selbstironischen Verweis auf sein an-deres Romanfragment scheint Kafka die Diskussion um die Identifikation mit seinen Protagonisten vorwegzunehmen und zu karikieren. 


 ZUKUNFT | 17  LiteraturAbleev, Daniel (2015): Leben und Ansichten von Eugen Egner, Seltsam- keitsforscher. Interview mit Eugen Egner geführt von Daniel Ableev, in: Quarber Merkur. Franz Rottensteiners Literaturzeitschrift für Sci-ence Fiction und Phantastik 116, 77–86. Bachtin, Michail M. (2008): Chronotopos, Frankfurt am Main: Suhrkamp.Barthes, Roland (2005): Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV,  Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bokhove, Niels/Dorst, Marijke van (Hg.) (2006): Einmal ein großer  Zeichner. Franz Kaf ka als bildender Künstler, Furth im Wald: Vitalis. Brod, Max (1963): Franz Kaf ka. Eine Biographie, Frankfurt am Main: Fi- scher. Egner, Eugen (2004): Die Eisenberg-Konstante. Fünf phantastische Erzäh- lungen, Frankfurt am Main: Zweitausendeins. Fuß, Peter (2001): Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels,  Köln: Böhlau. Kaf ka, Franz (1951): Tagebücher. Hg. von Max Brod, Frankfurt am Main:  S. Fischer.Kaf ka, Franz (1967): Briefe an Felice Bauer und andere Kor-respondenz aus der Verlobungszeit. Hg. von Jürgen Born und Erich Heller, Frankfurt am Main: Fischer. Kaf ka, Franz (2007): Die Romane. Hg. und mit einem Nachwort versehen  von Dieter Lamping, Düsseldorf: Artemis & Winkler. Kayser, Wolfgang (1957): Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und  Dichtung, Oldenburg: Stalling. Liebrand, Claudia (Hg.) (2006): Franz Kaf ka. Neue Wege der Forschung,  Darmstadt: WBG. Müller, Hartmut (1985): Hermes Handlexikon Franz Kaf ka, Düsseldorf:  Econ. Rothe-Buddensieg, Margret (1974): Spuk im Bürgerhaus. Der Dachboden  in der deutschen Prosaliteratur als Negation gesellschaftlicher Reali-tät, Kronberg: Scriptor. MARIE-THERES STAMPF  ist Literaturwissenschaftlerin mit den Forschungsschwerpunkten   Literaturgeschichte, Literatur und Nationalismus sowie Phantastik.   Aktuell arbeitet sie über den Motivkomplex der Dystopie in   sozio-historischen Kontexten.


 18 | ZUKUNFT  Pillow Book Project PVC-Folie - Gänsefedern, Siebdruck, 70cm x 55cm x 18cm,  15 Exemplare, Wien 2019


 ZUKUNFT | 19  ELISABETH ÖGGL & LORENA PIRCHER  Untitled IBleiblech, weiße Sprayfarbe, handgeschöpfte Silikonseiten,  Siebdruck, 50cm x 50 cm x 4cm, Unikum, Wien 2019


 20 | ZUKUNFT  SOMMERQUARTIER  VON THOMAS BALLHAUSEN Sommerquartier Der Wiener Autor  THOMAS BALLHAUSEN  bietet mit seiner Erzählung Sommerquartier eine Spielart von literarischem  fictocriticism, als einen Text, in dem das romantische Erbe von Reflexivität und Phantastik sichtbar wird: Auf der formalen Ebene werden Referenzen und Gemachtheit des Kunstwerks ausgestellt, auf der inhaltlichen Ebene wird der Frage nach der Erzählbarkeit von Theorie nachgegangen … Natürlich erinnere ich mich an den letzten Sommer vor  dem Ende des Kriegs mit den Eisenmännern. Es war ein Sommer der finalen großen Schlachten, der Sommer des letz-ten Jahrs der alten Zeitrechnung, es war ein Sommer, der die-se Bezeichnung nachträglich gesehen tatsächlich auch verdient hat. Es war also während dieses magischen, überdurchschnitt-lich heißen und hektischen Sommers vor etlichen Jahren, als wir das leerstehende Haus am Ende der Straße endlich für uns entdeckten. Ich erinnere mich, auch wenn es zum jet-zigen Zeitpunkt etwas eigenartig erscheint, so an diese Er-eignisse, als hätte man sie mir bei einem Glas Bier oder einer Tasse Kaffee erzählt, als wären es Erlebnisse aus der Jugend an-derer Leute, die ich gekapert, die ich mir angeeignet habe. Ich träume immer noch von diesen Ereignissen, die ich hier bloß kursorisch, nur in Form eines Überblicks wiedergeben kann. Würdest Du mit jemand anderem sprechen, der damals dabei war, würdest Du wahrscheinlich eine ganz andere Sicht der Dinge, eine gänzlich andere Geschichte erzählt bekommen. Vielleicht findet sich noch jemand aus unserer Bande, dann kannst Du die Darstellung der Ereignisse ja vergleichen. Ich sage ganz bewusst Bande, denn nichts anderes waren wir, eine Bande aus Kindern, die es nicht zur Band gebracht hatten, dafür waren wir einfach zu unmusikalisch gewesen. So ent-schieden wir uns eben für das Nächstliegende, für eine Ban- de und für eine Zeit der aufgeklebten Schnurrbärte, der falsch verstandenen Songtexte, während vor unser aller Augen die Wirklichkeit endgültig verloren ging. Eine Bande war damals gar keine große Sache, schließlich kümmerte sich niemand im Durcheinander jener Tage wirklich um uns. Alle hatten ande-re, vorgeblich ernsthaftere Probleme. Wir spürten, gefangen im Übergang zwischen Kindheit und Jugend, nur die Ewig-keit, nichts, so machte es den Anschein, würde jemals enden. Und trotzdem verhielt sich der Großteil der Stadtbewohner so, als wären ihre Tage bereits abgezählt worden. Wie also betritt man eine Zeit, die man angeblich hin- ter sich gelassen hat? Die Erfahrungen dieses Sommers kann ich nur auf Umwegen wiederherstellen. Was anderes kann ich also tun, als einen Text zu schreiben, der den eigentlichen Ereignissen nicht nahe kommt? Könnte ich eine Karte die-ser Tage zeichnen? Erst vor kurzem habe ich mit Notizen zu einer für mich notwendig gewordenen Erklärung begonnen, habe Skizzen angelegt, weil es kaum noch Material gibt, auf das ich zurückgreifen könnte. Ich schreibe, sammle und sor-tiere, um zu verstehen, was ich vergessen habe. Der offiziel-len Geschichtsschreibung vertraue ich nicht, ich will lieber die Vergangenheit in einer anderen, vielleicht verlässlicheren Form herstellen. Aus den geträumten Fragmenten und zu- „Wie wir wie Wasser leben:  eine neue Zunge benetzen ohne ein Wort darüber,  was wir durchgemacht haben.  Man sagt, der Himmel sei blau,  doch ich weiß, er ist schwarz aus zu großer Entfernung.“ Ocean Vuong


 ZUKUNFT | 21  sammengetragenen Trümmern werde ich nach und nach ein solides Fundament fertigen, auf dem ich stehen kann. Aber ich werde in dieser individuellen Historie darauf verzichten, über die Stadt und ihre Türme zu schreiben. Alle relevan-ten Dinge über sie sind schon gesagt worden, es erscheint mir deshalb sinnlos, diese ohnehin bekannten Umstände zu wie-derholen oder ihnen unbestätigte Gerüchte hinzuzufügen. Ich belasse es bei dem Hinweis, dass wir beide doch ohnehin wis-sen, was passierte und warum ich, wie viele andere auch, da-nach lange Zeit nicht richtig schlafen konnte. Ich versuche es also mit diesem Text, auch wenn schon  jetzt, mit den ersten Zeilen, klar ist, dass ich hinter dieser ei-genartigen, dieser schrecklichen und wunderbaren Zeit nur zurückbleiben kann, dass die Worte nur einen Abglanz von dem bieten können, was ich glaube damals empfunden zu ha-ben. In diesen letzten, in diesen verletzten Kindertagen sind wir auf das Zwielicht eines neuen Alters zugestolpert, näher-ten wir uns unbekannten Fallstricken, dem ohnehin unver-meidlichen Verlust. Hinter manche Punkte kann man nicht zurückgehen, aber es gibt noch ein herrliches, letztes Auf-bäumen, bevor alles vergeht. Die erschreckende Endgültig-keit dieses Umstands ist uns schlicht nicht immer sofort be-wusst. Ich war jünger damals, viel jünger, wirklich jung sogar und ich hatte es geschafft, vom allgegenwärtigen Krieg mög-lichst unbeeindruckt zu bleiben. Die letzte Phase eines Kon-flikts, die, was wir nicht wissen konnten, nur wenige Wochen dauern sollte, brachte mit einer kaum zu verstehenden Ge-schwindigkeit Umwälzungen mit sich, die wir nicht erahnten. Es waren andere Tage, eine Zeit, in der ich ein gänzlich ande-rer Mensch war, niemand, in dem Du mich wiedererkennen würdest. Natürlich war ich vorbelastet, ich war in diesen Brei-tengraden des Pflichtbewusstseins und der Willfährigkeit ge-boren worden. Es waren Zustände, über die sich nicht mehr – wie es so schön verschleiernd heißt – vernünftig sprechen lässt. Das alte Haus am Ende der Straße, das Van-Doren-An- wesen, war in meiner Erinnerung immer schon unbewohnt gewesen. Als wir in das Gebäude einbrachen, fanden wir es beinahe leer vor. Einbauschränke und eine stehen gebliebe-ne Wanduhr waren noch da, in manchen Ecken standen vom Regen aufgeweichte Zeitungsstapel herum. Die Tapeten wa-ren stellenweise aufgeplatzt und man konnte die darunter lie-genden, alten Ziegel sehen. Umrisse an den Wänden zeigten an, wo die Bilder gehangen, hellere Flächen auf dem hölzer-nen Boden, wo die Möbel gestanden hatten. In den ersten  Tagen unserer Besetzung, unserer Inbesitznahme hatten wir uns kaum getraut, über diese deutlich sichtbaren Grenzen zu treten. Es war so, als wären die Gegenstände noch dort, als könnte man noch auf einem bequemen Sofa Platz nehmen, ein teures Gemälde betrachten, sich an einen reich gedeckten Tisch setzen oder sich in einem viel zu großen Bett wälzen. Das Gebäude erwies sich als Gehäuse für uns, das eben durch seine Begrenztheit eine unerwartete Sicherheit und Freiheit gewährte. In diesem rechtsfreien Raum abseits aller gesell-schaftlichen Ordnungen konnten wir etwas verlangen, etwas bekommen. Die Gerüchte über die letzten Besitzer reichten uns als Erklärungen, das Minimum ungesicherter Informati-onen und getuschelter Geheimnisse war uns genug. Wir ver-steckten dort, was wir auf den Strassen fanden, was wir in den Läden stahlen oder aus den vergleichsweise ärmlichen Häu-sern unserer Eltern schmuggelten. In diesem Sommer des Übergangs bevölkerten wir das Haus und trugen in der durch die Hitze bedingten Langsamkeit die Objekte unserer gar nicht so unschuldigen Begierden zusammen. Dieses alte Haus wurde unser Projekt, unsere Aufgabe und Ablenkung. Ich bin mir nicht sicher, ob wir sie gesucht hatten, wichtiger war bestimmt, dass wir sie gefunden hatten. Mit diesen Räumen ging eine Spielfreude abseits aller Normen, aller Abzählreime und der Anzahl gewürfelter Augen einher. Alles was wir uns vorstellen konnten, wurde Bestandteil dieser neuen Welt. Wir tranken Feuer als gäbe es kein Morgen und waren so furcht-los gebieterisch wie möglich. Manche der zahlreichen Räume durften nur auf bestimmten Pfaden durchschritten werden. Es war eine morsche Welt. Wohin wir uns auch wandten, wir wurden vom knarrenden Geräusch des nachgebenden Bo-dens ständig begleitet. Ein neues Regime entstand in diesen Mauern, die leeren Zimmer wurden zu den Projektionsflä-chen unserer Wünsche. Die neue Wirklichkeit verstreuten wir wie Farbe an den uns umgebenden Wänden, wir brachten die Spuren einer neuen Herrschaft, unserer Herrschaft, an. Wir verwandelten uns in die Helden der damals so populä-ren TV-Serien, der als Schundhefte verschrieenen Abenteuer-romane und der billigen Comichefte, deren Druckerschwärze an unseren Händen klebte. Mit dem Betreten des Gebäudes schlüpften wir in unsere Rollen, in neue Verkleidungen und Verbindlichkeiten. Es war fast schon überraschend, wie gut al-les funktioniert hat, wie wenig Worte notwendig waren, um neue Familien zu erschaffen. Besucher waren in der gemein-samen Fiktion nicht willkommen, in unserem Verständnis war das Haus schon voll. Niemand sonst hätte sich, so unsere un-ausgesprochene Überzeugung, in unser System eingefügt, in all die gestohlenen Gegenstände, die entlehnten Erzählungen, 


 22 | ZUKUNFT  SOMMERQUARTIER  VON THOMAS BALLHAUSEN die kleinen wesentlichen Regeln und die verbotenen Lektü-ren. Diese neue, uns eigene Beschäftigung erfüllte uns. An-gesichts der täglichen Zumutungen hatten wir keine ande-re Wahl, als eine gänzlich andere Wahrheit und Wirklichkeit zu erschaffen. Was ist Geschichte, was ist Realität? In diesen Tagen lernten wir der Gesellschaft zu misstrauen, wir eigne-ten uns an, mit den grausamen Kräften in uns zu jonglieren, ohne wirklich kriminell zu werden. Auf das Ungestüme und das Unerwartete konnten wir immer setzen. Für die flirren-den Unschärfen unserer diffusen Umwelt, diesen Zustand an-dauernder Verwirrung konnten wir einfach kein Interesse aufbringen. Ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, dass das heute anders wäre. Ich spiele immer noch ernste Spiele, höre immer noch ähnliche Musik. Das Haus, so wurde uns klar, konnten wir niemals aufgeben. Bestenfalls hätten wir es wie eine Insel, auf der man Zuflucht gefunden hatte, an andere Gestrandete weitergeben können. Aber erst, wenn der Zeit-punkt richtig war. Zu schön war es, nachts auf dem Dach zu sitzen, die Wärme, die auch in den Nachtstunden nicht ver-gehen wollte, zu genießen, Bier aus Dosen zu trinken und die Explosionen über der Stadt zu beobachten, die das Dun-kel wie Feuerwerk erhellten. Wir machten uns angesichts der Ereignisse, die wir vom Rand beobachteten, alle möglichen Vorstellungen, aber eben keine, die man sich von uns erwar-tet hätte. Die mechanische Bombe schlug in einer Nacht ein, die  wir, ich kann nicht mehr sagen warum, nicht im Anwesen verbracht hatten. Der Einschlag war für die Allgemeinheit ein zu unbedeutendes Ereignis gewesen, als dass es sich in den historischen Zeitungsbeständen heute noch nachweisen las-sen würde, doch damals änderte sich für uns schlagartig alles. Die abgeschossene Maschine, ein Blindgänger, dessen Zweck auf den ersten Blick nicht zu erkennen war, erwartete uns bei der Rückkehr in unser abgestecktes Reich. Sie hatte das Dach und die Decke zwischen Dachgeschoss und dem darunter lie-genden Stockwerk durchschlagen und war im Fußboden ei-nes der großen Wohnräume im ersten Stock steckengeblie-ben. Wir besahen sie neugierig von allen Seiten, auch vom Erdgeschoss aus, vorsichtig nach oben blickend und das mat-te Grau der stählernen Konstruktion bestaunend. Wir hatten Maschinen wie diese bislang nur in den Nachrichten gese-hen. Risse durchzogen die Decke rund um sie, doch offen-sichtlich bestand keine Gefahr, dass die Maschine der Ei-senmänner, denn nichts anderes war sie, weiter nach unten fallen würde. Die Versuche, diesen stummen Gast in unse-re bestehenden Spiele und Rituale zu integrieren, schlugen  fehl. Nach nur wenigen unbefriedigenden Tagen der Unge-duld begannen wir neue Formen zu entwickeln und uns im Verlauf der Bewegungen im Haus immer weiter an die Ma-schine heranzuwagen. Es wurde zu einer unvermeidlichen Mutprobe, sie schließlich zu berühren, ihre Aktivierung zu riskieren. Wir wollten wissen, wie die Gefahr oder das, was wir dafür hielten, schmeckte. Wir wollten die Tauschgeschäf-te der Jugend auskosten, den Einsatz höher treiben. Im Kreis um die Maschine stehend reizten wir uns mit Worten, schubs-ten uns. Beleidigungen folgten und eines der Mädchen in un-serer Gruppe bot mir, kaum dass sie mich einen Feigling ge-nannt hatte, großspurig einen Kuss an, wenn ich die metallene Oberfläche als erster berühren wollte. Schwerwiegende Ent-scheidungen fielen mir niemals wieder so leicht wie damals. Ich trug, als wir da standen, eine schwarze Maske und trotz der Temperaturen eine viel zu große Lederjacke über meiner verwaschenen Kleidung. Ich berührte die Maschine, nahm die Hand aber nicht gleich wieder weg, wie es sich vielleicht empfohlen hätte. Ich wartete zu, wunderte mich, was da un-verständlicherweise in meinem Brustkorb pumpte und scheu-erte. Die schlafende Drohne, dieses stählerne Insekt, entfalte-te sich nicht unter meiner Berührung, kein Zauber stellte sich ein. Ich wartete. Dann zog ich die Hand zurück und verließ wortlos das Haus, in das ich nie mehr zurückkehrte. Doch der Bauschutt dieser Welt hat mich nie verlassen, in meiner Emp-findung ist dieser Sommer, mit all seinen großen Fragen, nie zu Ende gegangen. Das Mädchen hat mich nie geküsst. THOMAS BALLHAUSEN  lebt als Autor, Kulturwissenschaftler und Archivar in Wien und   Salzburg. Er ist international als Herausgeber, Vortragender und   Kurator tätig. Zuletzt erschien sein Buch  Transient. Lyric Essay   (Edition Melos, Wien). 


 ZUKUNFT | 23  ELISABETH ÖGGL & LORENA PIRCHER  Untitled IBleiblech, weiße Sprayfarbe, handgeschöpfte Silikonseiten,  Siebdruck, 50cm x 50 cm x 4cm, Unikum, Wien 2019


 24 | ZUKUNFT  HERR SEICHERL UND SEIN HUND  VON JOHANNA LENHART  I.  SEICHERL: EINE ERFOLGSGESCHICHTE In den 1930er-Jahren landete der Zeichner Ladislaus  Kmoch mit einem Daily Strip in der sozialdemokratischen Ta-geszeitung Das Kleine Blatt eine Sensation. „Herr Seicherl und sein Hund“ schlägt in Wien ein: Der „vermutlich erste po-litische Tagesstrip der deutschsprachigen Comicgeschichte“ (Havas/Sackmann 2010: 46) macht Furore und ihr Protagonist Seicherl beginnt eine zwiespältige politische Karriere. Tobias Seicherl und sein Hund Struppi sind ab Oktober  1930 täglich im Kleinen Blatt vertreten. Gleichzeitig werden auch die Comicstrips Klipp und Klapp (gezeichnet von Wil-ly Spira) über zwei freche Jungs sowie Bobby Bär (von Franz Plachy) – lustige Tiergeschichten – gestartet. Man sprach dem Comicstrip also auch in den 1930er-Jahren schon ei-niges an Durchschlags- und Anziehungskraft zu, wenn auch viele Comics – wie etwa die beiden oben genannten Seri-en – rein unterhaltenden Charakter hatten. Im Kleinen Blatt jedoch war schon vor Seicherl mit politischen Karikaturen  von Persönlichkeiten und Einzelbildern nicht gespart wor-den. Zeichnungen, die häufig wenig subtil auf den politi-schen Gegner abzielten, wie etwa ein Einzelbild mit dem Ti-tel Die Christlichsozialen in der Rue de Kack (02.10.1930) – eine Anspielung auf die nicht sehr rosigen Aussichten der Christ-lichsozialen Partei bei den Nationalratswahlen 1930, gehör-ten zur Blattlinie: Das Kleine Blatt als äußerst erfolgreiches Organ der Sozialdemokratie war eine 1927 gegründete klein-formatige Boulevard-Zeitung, die – so zitiert Bernhard Den-scher den Chefredakteur und Gründer Julius Braunthal – „die Phantasie der Massen fesselt […] und in der einfachen Sprache des Volkes zum Volk spricht“ (Denscher 1983: 9). Für theorielastige Parteiagitation war hier also kein Platz, für Comicstrips dafür umso mehr: Und gerade sie trugen auch nicht unwesentlich zum Erfolg des Kleinen Blatts über die so-zialdemokratische Kernleserschaft hinaus bei. Im Jahr 1930 hatte die an sieben Tagen die Woche erscheinende Zeitung eine Auflage von 165.000 Exemplaren erreicht (vgl. Havas/Sackmann 2010: 50). Herr Seicherl und sein  Hund Tobias Seicherl war in den 1930er-Jahren der populäre Protagonist eines politisch-satirischen Comicstrips in der Tageszei-tung  Das Kleine Blatt.  JOHANNA LENHART  zeichnet im vorliegenden Beitrag nach, wie politische Umstürze auch vor einer  Comicfigur nicht Halt machen. Abb. 1: Seicherls Feind steht links (09.10.1930)


 ZUKUNFT | 25  Herr Seicherl und sein Hund wurde zu einem der populärs- ten Comicstrips im Kleinen Blatt: Tobias Seicherl ist, wie der Name schon sagt, ein Schwächling, ein Feigling ohne Rück-grat, der in den 1930er Jahren zunächst mit den sogenannten „Hahnenschweiflern“, der christlichsozialen, zunehmend mi-litanten Heimwehrfront, und nach einigen Zwischenstationen schließlich mit den Nationalsozialisten sympathisiert. Seicherl ist leicht zu beeindrucken und läuft dem nach, der am lautes-ten schreit. Er wird gezeichnet als Vertreter des Typus „einfäl-tiger Kleinbürger“, ein erklärter Feind „der Linken“, der alles glaubt, was er hört, und dabei nicht selten auf die Nase fällt – und zwar im Wiener Dialekt. Einer der ersten, dezidiert po-litisch ausgerichteten Folgen ist Seicherls Feind steht links vom 9. Oktober 1930.  Seicherl lässt sich von einem gegen „links“ agitierenden  Redner aufwiegeln, nur um sich im Anschluss auf den erst-besten – räumlich – von links kommenden Mann zu stür-zen. Dieser der politischen Blattlinie entgegengesetzte Cha-rakter öffnet so der Satire auf den politischen Gegner Tür und Tor: Nur Idioten wie Seicherl laufen den „Hahnenschweif-lern“ oder den „Hakinger“ hinterher, scheint (zumindest An-fang der 1930er-Jahre) die Aussage zu sein. Als Korrektiv zu Seicherl fungiert sein sprechender Hund Struppi, der um ei-niges vernünftiger ist als sein Herrl: „Wo Seicherl ganz offen-sichtlich den allergrößten Blödsinn anstellt, weiß sein Hund genau, was hier nicht richtig läuft“ (Havas/Sackmann 2010: 52f.). Gesunder Hundeverstand gegen blinde Naivität und Opportunismus. Seit Beginn der Serie reagieren die Seicherl-Strips immer  wieder auf (tages-)politische Ereignisse, die Bernhard Den-scher in einer der wenigen Untersuchungen zu Seicherl nach-verfolgt: Seicherl stürzt sich etwa begeistert in den Wahlkampf für Bundespräsident Wilhelm Miklas oder freundet sich mit dem  CS-Vorsitzenden Carl Vaugoin an. Seicherl zeigt sich sowohl von der Heimwehr als auch von den Nationalsozi-alisten beeindruckt und will sogar eine „Hakenkreuz-Hah-nenschwanz-Partei gründen.“ (12.12.1931) – was natürlich gründlich schief geht. Im April 1932 wird Seicherl dann sogar kurz zum Kom- munisten und gleich darauf zum „Hakenkreuzler“: „Die g’falln ma besser, weils’ a Uniform hab’n.“ (08.04.1932). Eine politische Achterbahnfahrt also, die nicht nur in einem ideo-logischen Schleudertrauma endet. Seine Überzeugungen sind so kurzlebig wie seine Unterstützungsversuche, die meistens mit einem sehr lädierten Seicherl enden, schädlich. Solche Anhänger diskreditieren natürlich die Sache für die sie sich einsetzen und so ist der Comicstrip auch durchaus intendiert: Seicherls Unterstützung kann sich „sei‘ ärgster Feind net wünsch’n“ (Der große Pallawatsch, Sondernummer, 09.10.1931), wie Struppi eine von Seicherls Aktionen kommentiert. Auch wenn Herr Seicherl und sein Hund mitunter recht ge- nau dem tagespolitischen Geschehen folgt und es kommen-tiert, sind auch unpolitische Alltagsgeschichten immer wieder zu finden. Seicherl ist nicht nur der politische Gegner der So-zialdemokratie, sondern auch ein Pechvogel mit dem die Welt – auch wenn er nicht unschuldig daran ist – nicht zimper- Abb. 2: Seicherl will eine Hakenkreuz-Hahnenschwanz-Partei gründen (12.12.1931)


 26 | ZUKUNFT  HERR SEICHERL UND SEIN HUND  VON JOHANNA LENHART  lich umspringt: Er wird ständig von Kästen erschlagen, fliegt hochkant aus Gasthäusern und wird von Autos oder Zügen überfahren. Ziemlich angeschlagen rappelt er sich aber immer wieder auf und ist dabei in seiner Unverdrossenheit durchaus sympathisch – ein Umstand, der wohl auch seine Popularität quer durch die politischen Lager erklärt: Jeder konnte sich in den witzigen Alltagsproblemen und Missgeschicken wieder-finden. Und populär war Seicherl: Bereits ein halbes Jahr nach Erscheinen des ersten Strips wurden Schneemänner nach Sei-cherls Vorbild modelliert, war die Figur ein beliebtes Kostüm auf Faschingsbällen und wurde zum Werbeträger etwa von Zündhölzern (vgl. Denscher 1983: 13f.). II.  ÖSTERREICHISCHE FUNNIES Sowohl die politische Ausrichtung als auch die grafische  Gestaltung – Sprechblasencomics als Daily Strips, „Peng-Wör-ter“, Bilder in den Sprechblasen, Bewegungslinien (vgl. Ha-vas/Sackmann 2010: 50) – des Comicstrips waren für die öster-reichische Szene dabei durchaus innovativ und scheinen sich an amerikanischen Vorbildern zu orientieren, auch wenn un-klar ist, ob Kmoch tatsächlich Zugang zu US-amerikanischen Produktionen hatte. Die sogenannten Funnies, seriell in (Ta-ges-)Zeitungen erscheinende Comicstrips, feierten in den US-amerikanischen Zeitungen und Zeitschriften ab Ende des 19. Jahrhunderts große Erfolge, da sie dem Alltag der Leser*innen witzigen Ausdruck verliehen. Vorreiter dieser Form war der US-amerikanische Strip The Yellow Kid (1895–1898) von Ri-chard F. Outcault: In einem der Unterschicht nachempfun-denem Soziolekt, der auch durch die Migration aus aller Welt entstandene Sprachenmischmasch abbildete, wurde hier die Welt eines New Yorker Hinterhofs dar- und ausgestellt. Ein „soziales Panoptikum“ (Platthaus 2016: 183), wo unterschied-lichste Nationen, Sprachen und Ideen satirisch aufeinander-treffen. Bei Outcault, wie auch in anderen US-amerikanischen Frühformen des Comicstrips, ist also durchaus auch eine ge-sellschaftskritische, politisch-subversive Haltung auszuma-chen. Ihre Strips für erwachsene Leser*innen richteten sich gerne und oft gegen Autoritäten und bürgerliche Moralvor-stellungen. Ihre Protagonist*innen waren oft nicht eindeu-tig moralisch integer – im Gegensatz zu ihren europäischen Pendants, die zunächst eher in den Kinderbeilagen von Ta-geszeitungen erschienen und pädagogisch hehre Ideale ver-folgten (vgl. Knigge 2009: 24). Die Ausrichtung von Kmochs Seicherl auf erwachsene Leser*innen mit einem ideologisch wankelmütigen Anti-Helden war für den europäischen Markt also durchaus gewagt. Was allerdings Wiedererkennungswert  hatte, war das Gespann aus Herr und Hund. Mehr oder weni-ger anthropomorphisierte Tiercharaktere sind in Comics, wie etwa dem wegweisenden Krazy Kat (1913–1944) von Geor-ge Herriman, schon früh zu finden. Und auch die Kombina-tion mit menschlichen Charakteren ist häufig zu beobachten, beispielsweise im fast zeitgleich mit Seicherl entstehenden Les Aventures de Tintin (1929–1983; dt. Tim und Struppi) des belgi-schen Comicautors Hergé.  III.  DER WANDLUNGSFÄHIGE HERR SEICHERL Ladislaus Kmoch (der später als Ludwig Kmoch auftrat),  der Autor und Zeichner von Herr Seicherl und sein Hund hatte mit dieser Figur also einen Volltreffer gelandet. Kmoch (1897–1971), eigentlich Ledergalanteriewarenerzeuger, war vermut-lich Autodidakt – zumindest sind keine anderen gesicherten Quellen vorhanden – und arbeitete ab 1919 für den Münch-ner Simplicissimus und die Wiener Muskete, sowie den ebenfalls in Wien angesiedelten Götz von Berlichingen als Zeichner (vgl. Havas/Sackmann 2010: 46). Gerade die Arbeiten für die Mus-kete, ein bürgerlich-konservativ eingestelltes Blatt, und den im Gegensatz dazu eindeutig links ausgerichteten Götz von  Berlichingen  sind dabei interessant: Während Kmoch in der Muskete Zeichnungen, die sich gegen die Arbeiterschaft rich-teten, veröffentlichte, waren die Zeichnungen im Götz von Berlichingen  gegen konservative Kreise gerichtet (vgl. Havas/Sackmann 2010: 49). Eine gewisse ideologische Flexibilität war Kmoch also bereits vor Tobias Seicherl eigen – ein Um-stand der, mit den zeitgeschichtlichen Umständen vor Augen, noch von Interesse sein wird, denn mit der politischen Situa-tion sollte sich auch die Ausrichtung von Herr Seicherl und sein Hund radikal verändern. Die politische Lage in Österreich verschärfte sich be- kanntlich in den 1930er-Jahren zunehmend. Seicherl – inzwi-schen die Nationalsozialisten parodierend zum „Hakinger“ geworden – nimmt etwa an Femenmorden oder Sprengak-tionen teil und besucht Adolf Hitler. Bemerkenswert scheint auch die Folge Seicherl im Dritten Reich (Der Wahl-Seicherl, Bei-lage, 15.04.1932), in der Seicherl den „Hitlerputsch“ und die darauffolgende „Neue Ordnung“ imaginiert. Die als paro-distische Übertreibung intendierte, ganzseitige Episode zur Landtagswahl in Wien, bei der die NSDAP 17 % der Stimmen erreichte, birgt eine rückblickend erschreckend akkurate Ein-schätzung der nationalsozialistischen Herrschaft. Sie endet mit Seicherl und Adolf Hitler auf einem scheinbar unendlich gro-ßen Friedhof. Der Comic-Hitler erklärt: „Na hab ich meine 


 ZUKUNFT | 27  Versprechungen nicht eingehalten?! Es gibt keine Reparatio-nen mehr, keine Arbeitslosigkeit, keine Zinsknechtschaft, kei-nen Klassenkampf, keine Judenfrage. Ruhe und Friede über allen deutschen Gauen!“ Seicherl steht daneben und kom-mentiert paradox angesichts der unzähligen Reihen an Grab-kreuzen: „Des haß i a Leb’n!“ – 1932. IV.  DAS ENDE DER FREIEN PRESSE:   „SEICHERL WAGT NICHT ZU HUSTEN“ Auch die Möglichkeiten öffentlich politisch frei zu kom- mentieren, werden zusehends weniger. Nach der Ausschal-tung des Parlaments durch Dollfuß am 4. März 1932, werden auch die Freiheiten der sozialdemokratischen Presse einge-schränkt: „Seicherl wagt nicht zu husten.“ (23.03.1933), wie Kmoch hier noch verschlüsselt kommentiert. Der Februaraufstand und das darauffolgende Verbot der  Sozialdemokratie tat schließlich ihr Übriges und machte auch vor dem Kleinen Blatt und Seicherl nicht halt. Nach der Ver-haftung des Chefredakteurs und der Umbesetzung der Re-daktion im Sinne des Dollfuß-Regimes stand die Zeitung ab Februar 1934 nach einer zweiwöchigen Publikationspause un-ter Vorzensur. Am 28. Februar erscheint am Titelblatt eine Zeichnung mit dem Comic-Personal des Kleinen Blatts, unter anderem auch mit Seicherl und Struppi, unterschrieben mit: „Wir alle sind schon wieder da“ (28.02.1934). Auf Seite zwei wird die neue Ausrichtung des Kleinen Blatts deutlich: „Das kleine Blatt erscheint wieder. Man hat der Arbei- terschaft ihren alten Freund zurückgegeben und damit einen  sichtbaren Beweis der wiederholt geäußerten Absicht gege-ben, die Wunden so rasch als möglich zu heilen und über die vergangenen Tage des Unglücks den Schleier der Versöhnung zu breiten.“ Die „Neugestaltung des staatlichen Lebens“ (ebd.), wie  es weiter heißt, hat auch auf Seicherl und Struppi Einfluss: Kmoch enthält sich – ob freiwillig oder nicht, ist nicht nach-vollziehbar – von nun an politischer Kommentare: Seicherl verliebt sich, wird zum Schriftführer beim Sparverein, baut eine Kleiderklopfmaschine, befindet sich ganz allgemein im „Erfindungswahn“ (20.03.1935) wie Struppi bemerkt: Seicherl macht eine Erfindung nach der anderen, die ihn natürlich alle auf die eine oder andere Weise windelweich klopfen. Kmoch baut nach den Februarkämpfen also die unpolitische Linie sei-ner Seicherl-Comics aus und garantiert sich so einen Platz auch in der veränderten Blattlinie. Ab Juli 1935 geht es allerdings abwärts mit Seicherls Ver- fassung, er leidet zusehends unter Verfolgungswahn: Autos verwandeln sich in Drachen und andere Monster und jagen ihn durch die Stadt hinein in die Nervenheilanstalt, wo ihm „der Kopf ausgepumpt“ (15.07.1935) wird. Solcherart geheilt und von Wahnvorstellungen befreit, be- gibt sich Seicherl am 20. Juli per Luftschiff auf eine Weltrei-se: „An’s tröst mi: Des war mei letzter Unfall in den schäbig’n Europa!“ Von nun an weilt Seicherl gemeinsam mit Strup-pi und seinem Kollegen Schwasser in der Fremde fernab von (österreichischer) Politik. Mit kurzen Abstechern in Wien werden die drei zu regelrechten Weltenbummlern. Auch als  Abb. 3: Seicherl wagt nicht zu husten (23.03.1933)


 28 | ZUKUNFT  am 12. März 1938 deutsche Truppen in Österreich einmar-schieren, befinden sich Seicherl, Schwasser und Struppi gera-de auf einer Weltreise. V.   IN DIE WELT HINAUS Im März 1938 sieht sich Das Kleine Blatt erneut einer  Übernahme ausgesetzt und steht nun unter nationalsozialis-tischer Führung. Propagandistische Beiträge um die Arbeiter-schaft in das Deutsche Reich „heimzuholen“ sind ab dem 13. März zahlreich und wenig subtil: Das Kleine Blatt geht naht-los in ein nationalsozialistisches Propagandamedium über. Ge-nauso ergeht es Seicherl und Struppi: Ohne viel Federlesens legen sie ihre unpolitische Haltung ab und werden zu Sprach-rohren nationalsozialistischer Gesinnung. Die nächste Station  auf ihrer Weltreise ist Palästina. Bereits auf dem Weg dort-hin begegnen ihnen halsabschneiderische Juden in Gestalt von Geiern, sie werden von einem jüdischen Verkäufer übers Ohr gehauen und am 23. März beobachten sie die Ankunft eines Schiffs mit jüdischen Geflüchteten aus Wien: „Des soll’n Ös-terreicher sein?! Des san do lauter Polnische.“ Und Struppi meint: „Des is da erste Schub aus der Leopoldstadt“. Um es kurz zu machen: Unmittelbar nach der nationalsozi- alistischen Machtübernahme bedient sich Kmoch einer „plum-pen antisemitischen Propaganda“ (Havas/Sackmann 2010: 56f.) – von unpolitisch ist also keine Rede mehr. Am 8. April for-dert Das Kleine Blatt auf seiner Titelseite die Bevölkerung zur Stimmabgabe ab – „Dem Führer dein Ja!“ – während Sei-cherl auf dem Weg nach Wien mit seinem Propellerflugzeug  HERR SEICHERL UND SEIN HUND  VON JOHANNA LENHART  Abb. 4: Seicherl hat Verfolgungswahn (07.07.1935) Abb. 5: Seicherl und Schwasser wollen Landsleute empfangen (23.03.1938)


 ZUKUNFT | 29  abstürzt und ausgerechnet in Genf, dem Sitz des Völkerbun-des, landet. Es folgen weitere antisemitische Ausfälle gegen die „Zeitungsjud’n“ mit ihren „Greulnachricht’n“ und den Lügen verbreitenden, jüdischen Völkerbund: „Der Völkerbund is quasi a palästinensische Filiale!“ stellt Struppi am 13. April fest. Kmoch findet in dieser neuen politischen Ausrichtung  auch zu den narrativen Anfängen von Herr Seicherl und sein Hund Struppi zurück. Seicherl und Schwasser treffen beim Völkerbund auf den „Negus“, der die beiden als seine Vertre-ter beim Völkerbund anwirbt (19.04.1938). Genauso wie Sei-cherl Anfang der 1930er-Jahre christlichsoziale Politiker, Hah-nenschwänzler und Hakenkreuzler durch seine Unterstützung lächerlich gemacht hatte, wird jetzt der „Negus“, eine rassis-tische Stereotypisierung eines afrikanischen Staatsoberhaupts, durch Seicherls Engagement in einem Aufwasch mit dem Völkerbund der Lächerlichkeit preisgegeben, garniert mit ein paar Seitenhieben auf Otto Habsburg, der sich bekannterma-ßen gegen den „Anschluss“ Österreichs ans Deutsche Reich ausgesprochen hatte. Ende April werden Seicherl und Schwas-ser dann sogar beim Völkerbund angestellt (27.04.1938), „for Repräsentationszwecke! Mer soll üns nix nachsog’n, der Vel-kerbund is à rein jüdische Angelegenheit.“, wie ein aufdring-lich antisemitisch gezeichneter Vertreter erklärt. VI.   ZURÜCK NACH WIEN Anfang Mai kehren Seicherl, Schwasser und Struppi nach  Wien zurück, wo sie sich überraschenderweise weitgehend unverdächtig verhalten: Kmoch kehrt zurück zu den unpoli-tischen Pechvogel-Geschichten. Seicherl und Schwasser über-nehmen einen Gemischtwarenhandel, wo allerhand schief geht, Seicherl begibt sich auf die Suche nach einer Frau und Schwasser stellt sich als noch einfältiger als Seicherl selbst he-raus. Kaum ein halbes Jahr zurück in Wien zieht es Seicherl, Schwasser und Struppi allerdings wieder in die Welt hinaus. Während in Österreich „Fünf Regierungsverordnungen ge-gen das Judentum“ erlassen werden, so die Schlagzeile auf dem Titelblatt des Kleinen Blatts vom 13.11.1938, bringt Sei-cherl gerade sein erstes Abenteuer in Australien hinter sich. Zwar werden auf der Weltreise immer wieder rassistische Stereotypen bedient, offen (tages-)politisch – wie etwa ge-genüber dem Völkerbund – werden die Strips nicht mehr. Die erneute Weltreise von Seicherl ist auch der Anfang sei-nes langsamen Endes. Nach einer Unterbrechung im August 1939, Kmoch wird zum Kriegsdienst einberufen, wird die Se-rie im Mai 1940 schließlich sang- und klanglos eingestellt. Herr Seicherl und sein Hund entwickelt sich so von einem –  wenn auch eindeutig einer politischen Richtung zuordenba-ren – kritischen Comic zu einem medialen Mitläufer. Wenn Kmoch 1934 noch auf die veränderten Publikationsbedin-gungen wenigstens verschlüsselt reagiert, müssen die antise-mitischen Ausfälle 1938 mindestens als Appeasement an das neue Regime gewertet werden. In der spärlichen Forschung zu Herr Seicherl und sein Hund werden die Weltreisen Seicherls häufig als Versuch sich der politischen Einflussnahme zu ent-ziehen gedeutet (vgl. Havas/Sackmann 2010: 56). Ob Kmochs Rückzug ins Unpolitische aber tatsächlich eine bewusste Ent-scheidung im Sinne eines Widerstands darstellt, ist aus den zu-gänglichen Quellen nicht erkennbar. Was Herr Seicherl und sein Hund aber eindrücklich zeigt, ist, wie sich politische Prozesse im nur scheinbar einfachen Medium Comic publikumswirk-sam einschreiben. LiteraturDas Kleine Blatt. 1927–1971. Jahrgänge 1927–1944 über die Datenbank  „ANNO: Historische Österreichische Zeitungen und Zeitschriften“ der Österreichischen Nationalbibliothek zugänglich, online unter:  ht-tps://anno.onb.ac.at/info/dkb_info.htm (letzter Zugriff: 09.06.2021). Denscher, Bernhard (1983): Humor vor dem Untergang. Tobias Seicherl –  Comics zur Zeitgeschichte 1930–1933, Wien: ÖBV. Havas, Harald/Sackmann, Eckart (2010): Ladislaus Kmoch, in: Deutsche  Comicforschung 6, 46–60. Knigge, Andreas C. (2009): Zeichen-Welten. Der Kosmos der Comics, in:  Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur. Sonderband, 5–34. Platthaus, Andreas (2016): Funnies, in: Abel, Julia/Klein, Christian (Hg.):  Comics und Graphic Novels. Eine Einführung, Stuttgart: J. B. Metz-ler, 181–193. JOHANNA LENHART  ist Literaturwissenschaftlerin und Redakteurin der Fachzeitschrift  MEDIENIMPULSE. Sie hat zahlreiche Publikationen zur   österreichischen Gegenwartsliteratur vorgelegt.


 30 | ZUKUNFT  Untitled IBleiblech, weiße Sprayfarbe, handgeschöpfte Silikonseiten,  Siebdruck, 50cm x 50 cm x 4cm, Unikum, Wien 2019


 ZUKUNFT | 31  ELISABETH ÖGGL & LORENA PIRCHER 


 32 | ZUKUNFT  STRASSENBAHN, 1914  VON ZARAH WEISS Als Jonathan zu viele Tabletten schluckte, wurde ich in ein  Bild von Picasso hineingesogen. Irgendjemand hatte das mal zu mir gesagt: Wenn Du vor  einem Picasso stehst, kannst Du Dich gar nicht wehren, Du wirst angezogen und hineingesogen und Du erkennst in ei-nem Raum voller Bilder sofort, welches von ihm ist. Ich hatte eine Pause zwischen zwei Univeranstaltungen, es  regnete, in meinem Kopf schwirrten all die neuen spanischen Vokabeln, die ich im Seminar gelernt hatte. Und ich war auf-geregt vor dem Simultanübersetzungskurs am Nachmittag. Das Museum für moderne Kunst lag nicht weit von der Uni; ich hatte eine Jahreskarte und so ging ich dorthin, lief ziellos durch die verschiedenen Etagen und Ausstellungen. Nur kurz schaute ich in diesen einen Raum hinein und dort hing das abstrakte Stillleben. Ich wusste nicht einmal, wie es hieß; wie an einer Schnur gezogen lief ich auf dieses Bild zu und stand davor und konnte nur starren und keinen klaren Gedanken fassen. Es muss ungefähr zu dieser Zeit gewesen sein, habe ich später idiotischerweise ausgerechnet. In der halben Ewigkeit, die ich vor dem Bild stand, bis ich mich dann endlich losrei-ßen, endlich weitergehen konnte. Ich genoss dieses flanierende, trunkene Wandern durch ein  Museum, sich treiben lassen, sich anziehen lassen, überwältigt sein, vollkommen übersättigt sein. Wanderte durch die Räu-me, erzeugte bewusst laute Schritte, ging vor Bildern auf und ab, versuchte die Aufregung in mir zu unterdrücken. Wech-selte die Etage, zur Avantgarde. Malewitsch, Kubismus, Futu-rismus. Ich hatte die Hände in den Taschen vergraben, wusste  doch nichts über Kunst, war doch eigentlich Sprachwissen-schaftler, Dolmetscher, Student, wissenschaftlicher Mitarbei-ter und doch war ich hier und schlenderte die Wände entlang. Das Handy in meiner Hosentasche vibrierte und ich weiß  noch, in diesem Moment war ich froh, es bloß auf Vibration zu haben, weil es so still war in diesem Raum. Mit mir war nur noch ein alter Mann in einem langen, dunklen Mantel und mit schlohweißen Haaren dort, ich hatte ihn kaum ange-sehen und er mich nicht. Zwei Männer, zwei Generationen und wir hatten beide diese Zeit nicht mehr erlebt, die Bilder in diesem Museum für moderne Kunst waren älter als wir. Ich musste grinsen darüber, als wir aneinander vorbeigingen, die Blicke zur Wand, zu den Bildern. Ich schielte kurz auf das Handy, Bea, ihr Name sprang  im Takt des Vibrierens über das Display. Sie rief selten an; manchmal hatte sie diese Macken, diese Anrufanfälle, einmal im Monat vielleicht – wir bezeichneten uns als beste Freunde und telefonierten dabei nur einmal im Monat, sahen uns doch nur bei sporadischen Besuchen und waren dennoch fürein-ander da, sagten uns doch alle paar Tage durch kurze Nach-richten, dass wir aneinander dachten und wie es uns ergehen würde. Der alte Mann stand vor dem letzten Bild neben der Tür, die kleinen Hände hinter dem Rücken ineinander ver-schränkt, den Kopf etwas vorgebeugt und in dem Moment, in dem ich zu ihm hinsah, hörte das Vibrieren auf. Ich konn-te jetzt nicht schon wieder mit ihr ihre Beziehung durchdis-kutieren, nicht in diesem ruhigen, kunstdurchtränkten Raum und drehte mich zurück zur Wand und da war – – – die Stra-ßenbahn. Die Straßenbahn, die leuchtenden Häuser.  Straßenbahn, 1914 In ihrer Erzählung  Straßenbahn, 1914 zeigt die Autorin  ZARAH WEISS  auf, wie Sprache Wirklichkeit stiftet, wie unser  Sprachgebrauch die Welt nicht nur formt, sondern aktiv gestaltet. Umso wichtiger, so der reflektierte Ansatz, nicht zuletzt auch auf das mitunter unbedacht Ausgesprochene zu achten, das ein unkontrollierbares Eigenleben zu entwickeln vermag. Aus diesem Spannungsverhältnis zwischen Macht und Machtlosigkeit entfaltet Weiss ein menschliches Drama über Strate-gien des Betrachtens – und des Helfens …


 ZUKUNFT | 33  Abb. 1: Alexander Bogomazov (1914): Straßenbahn, 1914 © Wikimedia Commons Das Gelb, das Grün, das Blenden, dieses Gelb, die- ses Grün, das Strahlen, das Bild und ich. Straßenbahn, 1914. Menschen, Formen bloß, Gestalten bloß, die Straßenbahn wie ein Dreieck, wie ein Pfeil, der durch die Straßen schoss, im Hintergrund die große Stadt, der Übergang. Meine eige-ne Hin- und Hergerissenheit zwischen Stadt- und Landleben. Straßenbahn, 1914. Vermutlich war das schon eine Stadtszene; 1914 eine Großstadt noch etwas ganz anderes als jetzt, hundert Jahre später. Runde, hervorblitzende Bäume, fließende Be-wegung, kubistische Formen und doch darin die Welt, darin ich. Das Handy vibrierte wieder. Beas auf- und abspringender Name. Sie störte. Oleksandr Bogomazov las ich neben dem  Bild, unter dem Titel. Und das Handy lag schwer in meiner Hand, vibrierte nervend, ich trotzte allen Widerständen, ich hob den Arm, ich nahm ab. Beas Stimme war verzerrt, ich verstand sie kaum, nie in  all unseren Jahren hatte ich sie so aufgelöst erlebt. Einzelne Wortfetzen, sie gellte mir schrill in die Ohren und dazwischen Schluchzer. Sie kam kaum zu Atem, sie holte kaum Luft. „Bea, ruhig, ganz ruhig, was ist los“, ich konnte nur sinn- lose Worte sagen, nur den Versuch machen gegen sie anzu-kommen. Ich konnte nur flüstern, wollte Rücksicht nehmen, drehte mich um, der Mann war näher an das Bild herangegan-gen, er stand angestrengt und krumm. Aus dem Nebenraum wuselnde Stimmen, eine Schulklasse. Vor mir die Stadt um 1914. Die umhereilenden Menschen. Geschäftiges Treiben. Es verschwamm alles. Es verschwamm in dem Moment, in dem sie mir sagte, dass sie im Krankenhaus war. Jonathan lag auf der Intensivstation, mit ausgepumptem Magen und ohne Be-wusstsein. Sie hatte ihn gefunden, war einer Eingebung ge-folgt, hatte sich auf halbem Nachhauseweg wieder umgedreht und war zu ihm zurückgegangen. Er war zu ruhig gewesen, als sie Schluss gemacht hatte, zu gefasst für seinen Zustand, für seine innere Unruhe. Er hatte es seelenruhig akzeptiert, ganz rational mit ihr noch kurz geredet. Sie war froh gewesen, dass es einfach gewesen war,– ob ich ihre Nachricht nicht gelesen hatte? Ich hatte nicht. Ich hatte nicht, nichts gelesen, nichts gewusst, das nicht gewollt. Und ich konnte nur starren und schlucken. Die Erinnerung an das letzte Telefonat mit Bea, vor einer  Woche. Ich hatte schläfrig auf dem Bett gelegen und wir hat-ten stundenlang geredet. Ich hatte gewusst, was sie eigentlich gewollt hatte, aber ich war ihr ausgewichen, ich wollte mich nicht in ihre Beziehung einmischen. Bis sie mich dann ein-fach direkt gefragt hatte. Findest Du, Jonathan und ich passen zu-sammen? Ich hab das Gefühl, ich kann mich gar nicht langsam darauf einlassen – die Diagnose für seinen Vater kam direkt in der ersten Wo-che, in der wir zusammen waren, wenigstens nicht noch früher, wenigs-tens bin ich nicht aus Mitleid mit ihm zusammengekommen, wenigs-tens das kann ich sagen – Während sie redete, hatte ich mir die Worte im Mund zurechtgelegt. Vor Augen, wie ich die bei-den erlebte, wie da irgendetwas Verbindendes fehlte, eine ver-bindende Atmosphäre. Ein Nebeneinander mehr als ein Mit-einander. Und ich hatte ihr ehrlich geantwortet. Sie war froh gewesen, ich hatte mich als guter Freund gefühlt.


 34 | ZUKUNFT  Und jetzt. Der Boden wankte, ich schwankte. Flirren- des Parkett auf der Netzhaut. So etwas passierte doch ein-fach nicht. Menschen nahmen nicht Tabletten, nicht die Menschen in meinem Umkreis. Wieso hatte er das getan? Ich konnte mich nicht bewegen, nur ihr zuhören und beruhigen-de Worte brabbeln und in mir die Fassungslosigkeit ertragen, mir einen Ellbogen gegen den Bauch pressen, versuchen das Stechen darin zu ignorieren. Sie wollte ihn nicht so lange al-lein lassen, legte auf und ich blickte in den Raum. Der Mann war weg. Gähnend lag der Saal vor mir. Er hatte Tabletten ge-schluckt. Aber war sie für ihn verantwortlich? Ich hatte ihr gesagt, dass sie sich nicht verantwortlich fühlen sollte, dass sie nicht für zwei Menschen gleichzeitig positiv sein konnte. Ich hatte ihr all das gesagt. Ich hatte sie in eine Richtung ge-schubst. Ich war der letzte Auslöser gewesen. Wer war ich eigentlich, dass ich über ihre Beziehung entscheiden konn-te, warum hatte sie so viel auf meine Meinung gegeben, ich kannte ihn doch kaum.  Hochschauen. Bogomazovs Bild vor mir. Die Menschen,  die hellen Farben. Die Formen, aus denen sich dann Neu-es ergab. Die Straßenbahn. Nichts mehr in mir, nur noch äu-ßerlich, es war alles nur noch vor meinen Augen. Die Farben verschwammen vor meinen Augen. Ich hatte ihr ja nicht geraten Schluss zu machen. Ich war  ja nicht schuld, ich war ja nicht schuld. Ich konnte all das ja nicht wissen, ich hatte ja mit all dem nichts zu tun. Ich war ja hier, am anderen Ende des Landes, weit weg von all dem. Ich kannte Jonathan kaum, hatte ihn nur einmal gesehen. Das war eine Sache zwischen den beiden; ich konnte jetzt nur für sie da sein. Einen Brief sollte ich ihr schicken, ja, ein sponta-nes Ticket zu ihr buchen. Mit ihm hatte ich nichts zu tun; sei-ne Handlungen waren seine eigenen. Vielleicht würde er sich wieder erholen. Ich ließ das Handy wieder in die Hosentasche gleiten. Fokussieren. Und das Bild vor mir . . . unruhig – – – die strahlenden  Farben grell, angreifend, aggressiv, das gelbe, grelle, bedrü-ckende Haus, die quietschende Straßenbahn, die hetzenden Menschen, auf dem Weg ins Krankenhaus oder hektisch zu-rückrennend in Jonathans Wohnung, wohin waren sie unter-wegs, wohin rannten sie. Schuld. Meine Übelkeit, die grellen Farben, die grellen Blitze in meinem Kopf. Vielleicht rann-ten die Menschen auch vor mir weg. Warum hatte sie auch auf mich gehört, warum musste er so fertig sein und so ver-braucht und so impulsiv. Und ja, ich hatte nur ein paar Wor- te gesagt, nur ein paar Worte hatten ausgereicht für eine Ent-scheidung, für ihre Entscheidung und für seinen Umgang damit. Und ich konnte ja noch nicht einmal ins Krankenhaus fahren, mal kurz. Konnte nur hier stehen, mit mir und dem Bild und den grellen Farben und alles drehte sich. Die Farben, sie klagten mich an. ZARAH WEISS lebt als Autorin und Literaturwissenschaftlerin in Wien. Wiener Li- teratur Stipendiatin 2021. Zuletzt erschien ihre Erzählung  Die Kemenate  (Czernin Verlag 2020). STRASSENBAHN, 1914  VON ZARAH WEISS


 ZUKUNFT | 35  ELISABETH ÖGGL & LORENA PIRCHER  Untitled IBleiblech, weiße Sprayfarbe, handgeschöpfte Silikonseiten,  Siebdruck, 50cm x 50 cm x 4cm, Unikum, Wien 2019.  [Close-up einer einzelnen Seite]


 36 | ZUKUNFT  I.  WAS NUN? Als ich Ende vergangenen Jahres unter dem Titel Im Zei- chen der Straße schon einmal einen Artikel zur Thematik Graffi-ti und Street Art für die Zeitschrift ZUKUNFT schreiben durfte, teilte ich darin meine Gedanken und Erfahrungen zur Ver-mittelbarkeit dieser Phänomene. Mich der Werkzeugkiste der Kunstgeschichte bedienend, wollte ich sie vor allem fassbar und zugänglich machen, indem ich Begriffe, sozio-/kunsthis-torische Entwicklungen und lokale Ausprägungen benannte und (er)klärte. Auch wenn ich diesen Zugang weiterhin für einen guten Einstieg in das Themenfeld halte, habe ich mir für diesen kurzen Text vorgenommen, einen Schritt zur Seite zu machen, ein bisschen „meta“ zu werden, und die (eigene) Forschungspraxis im Umgang mit Graffiti und Street Art zu reflektieren und in mancherlei Hinsicht zu revidieren. Gera-de Graffiti kommt als Forschungsgegenstand nämlich äußerst spröde und widerspenstig daher. Form, Praxis, (In)Schrift, Aktivismus, Kunst, Bewegung, Community, Vandalismus, „leere Signifikanten“, Style – was sind Graffiti und Street Art nun? Wie sind die Begriffe gemeint und woran lässt sich das festmachen? Müssen sie überhaupt klar abgegrenzt und so Ka-tegorien geschaffen werden? Je länger ich mich mit dem The-ma beschäftige, vor umso mehr Mauern stehe ich, die entwe-der völlig leer oder über und über beschrieben sind. Bleibt man also davor stehen und versucht etwas darauf zu erkennen oder klettert man lieber darüber, um dahinter zu blicken? In dem, was folgt, soll es um diese (Ver)Handlungen, Dynami-ken und Prozesse, kurz, die Politiken des (Er)Forschens von Graffiti und Street Art gehen. II. RETROSPEKT Dass Graffiti und Street Art – hier als kreative Form und  Praxis gemeint – schon längst in den Arenen der Werbung, des Tourismus, des Fashion- sowie Grafik-Designs, der Kunst-messen und -auktionen, des urbanen Marketings sowie der Galerie- und Museumsausstellungen kursieren, wurde viel-fach thematisiert und ist mittlerweile ein alter Hut. Vermark-tungsmaschinerie, Gentrifizierungsdynamik und Kommodifi-zierungsprozess sind nicht nur warm gefahren, sie laufen auf Hochtouren. Zumindest sofern einer normativ-ästhetischen Vorstellung des Kunstbetriebs und/oder einem gediegen-re-bellischen Bedürfnis der kunstaffinen Konsument*innenschaft entsprochen wird. Das Liebäugeln der Kunst mit der Illegali-tät wird gefeiert, solange die eigene Hauswand dabei sauber bleibt. Auch der (vermeintliche) Widerstand vonseiten der Künstler*innen – in den bekanntesten Fällen in Form von städteweiten Übermalungen 1 , Schreddern 2  oder zelebrierter  Enttarnung 3  – entfacht das Feuer der medialen Aufmerksam- keit und lässt über die kontroverse, weil schwer fassbare Natur von Graffiti und Street Art diskutieren sowie spekulieren. Die tatsächliche Widerständigkeit dieses Widerstandes erfordert eine genauere und ausführlichere Betrachtung, soll an dieser Stelle aber nicht Thema sein. Auf die Wissenschaft scheinen die Praktiken, ob ihrer in- härenten Konflikte und Widersprüche sowie ihrer schieren Weitläufigkeit, eine gleichermaßen unwiderstehliche An-ziehung auszuüben. Das transdisziplinäre Angebot an For-schungsprojekten 4 , Sammelbänden 5 , Konferenzen 6  und  Journals 7  zu diesem Themenkomplex ist vor allem in den  vergangenen 15 Jahren deutlich angewachsen. Der aktuells-te mir bekannte Beitrag im deutschsprachigen Raum, ist der Band  Graffiti. Interdisziplinäre und kontemporäre Perspektiven 8 ,  dessen Erscheinungstermin für August 2021 vorangekündigt ist (Beltz Verlag). „Graffiti als umstrittenes Phänomen birgt  ANOTHER … IN THE WALL  VON STEFANIE FRIDRIK Another … in the wall In einer neuerlichen Auseinandersetzung mit dem Themenkreis um Graffiti und Street Art befragt die Vermittlerin und For-scherin  STEFANIE FRIDRIK  ihre wissenschaftliche Praxis und plädiert für das Potenzial der Lücke bei Graffiti (und)  Forschung.


enormes wissenschaftliches Potenzial, das trotz der Omniprä-senz im öffentlichen Raum übersehen ist“ 9 , liest man im An- kündigungstext des Verlages. Die gesammelten Beiträge wür-den „einen interdisziplinären Blick auf das Thema“ herstellen und damit „einen einzigartigen Einblick“ anbieten. Inwiefern der Band diesem selbstformulierten Anspruch  nachkommt, muss für den Moment noch offenbleiben. Al-lerdings kann ich mich der Deklaration, das wissenschaftliche Potenzial sei bisher übersehen worden, nur bedingt anschlie-ßen, da die Forschung bis dato schon so einiges vorgelegt hat. In ihrer Einführung zum Sammelband Graffiti and Street Art. Reading, Writing and Representing the City (Routledge, 2018) 10   – selbst eine viel zitierte Publikation – zeichnen die Heraus-geber Konstantinos Avramidis und Myrto Tsilimpounidi die Genese der vielfältigen wissenschaftlichen Auseinanderset-zung mit dem Themenfeld bis zur Entstehung ihres Buches in „drei Wellen“ nach. Die überproportional erscheinenden Bild- bzw. Fotobände journalistisch-dokumentarisch-deko-rativer Natur ausgenommen, betrachten sie einen Erschei-nungszeitraum ab den frühen 1980er-Jahren, als die ersten akademischen Publikationen auftauchten. In aller Kürze zu-sammengefasst, identifizieren Avramidis und Tsilimpounidi für die „erste Welle“ einen vorrangig soziologischen Zugang, der die Beziehungen verschiedener Akteur*innen zueinander untersucht. Hinzu kommen Auseinandersetzungen mit den ästhetischen Ursprüngen von Graffiti, u. a. in dessen Wech-selbeziehung mit der noch als solche bezeichneten „High Art“. Etwas später verlagert sich das Interesse vermehrt auch auf lokale Szenen abseits vom dominierenden Nordamerika und dessen Hip Hop-Graffiti. Ungefähr ein Jahrzehnt spä-ter setzt die „zweite Welle“ der wissenschaftlichen Literatur ein, gekennzeichnet durch das Eintreten eines kriminologi-schen Blicks und die Kontextualisierung der Kriminalisierung von Graffiti durch die städtischen Autoritäten. Auch theore-tische Überlegungen zu Subkulturen sind zu der Zeit für ei-nige wissenschaftliche Artikel ein beliebter Ausgangspunkt für die Analyse. Mit dem starken Anstieg an Aufmerksamkeit vonseiten der  Forschungscommunity, u. a. durch die Etablierung von Street Art im Bereich der visuellen Studien, steigert sich ungefähr ab der Jahrtausendwende auch die Perspektivenpluralität. Die-ser „dritten Welle“ attestieren Avramidis und Tsilimpounidi ein hohes Maß an kritischer Analysearbeit und Theoriebil-dung. Vor allem in den Feldern der Raumtheorie und Hu-mangeografie – mit einem Fokus auf urbane Räume – wird  verstärkt dazu gearbeitet. Der Trend umfasst auch die kriti-sche Neuverhandlung und -definition der Begriffe „Graffiti“ und „Street Art“ und bedeutet einen Übergang von Frage-stellungen, die sich mit den kulturellen Implikationen dieser Praktiken befassen, hin zu einer Beschäftigung mit Materiali-tät und Repräsentation. Die Themen digitale Dokumentation und Kommodifizierung stehen außerdem auf dem Programm. Abb. 1: Graffiti-Schriftzug FUCK: NATIONS BOR auf einer Hauswand, Rasumofskygasse, 1030 Wien, Mai 2021 © Stefanie Fridrik 2021 III. FUCK: NATIONS, BOR Das Themenfeld Graffiti und Street Art ist also weder neu  noch ein Underdog unter den Interessengebieten der For-schung. Ob man dem „Wellenmodell“ der beiden Autoren als ein Resümee der Entwicklung etwas abgewinnen kann oder nicht, feststeht, dass es hier eine Tradition gibt, die schon vier Jahrzehnte zurückreicht. Dennoch, so behaupte ich, haben Graffiti und Street Art nichts an ihrer Aktualität für die wis-  ZUKUNFT | 37 


 38 | ZUKUNFT  senschaftliche Auseinandersetzung verloren. Avramidis und Tsilimpounidi weiter folgend, reiten wir derzeit die „vierte Welle“ der Graffiti- und Street Art-Forschung, in der man es sich nun zur Aufgabe macht, das Feld neu zu mappen, um es so breiter zu verorten – z. B. im Kontext städtischer Konflikte – und bisher unbetretene Territorien zu erschließen. Dies be-zieht sich allerdings nicht mehr nur auf die Analysearbeit aus Sicht verschiedener Wissenschaftsdisziplinen, sondern vor al-lem auch auf die Erprobung neuer, zum Teil experimenteller Methoden. Als Teil dieser Forschungscommunity, stellen der-artige Überlegungen auch für mich derzeit zentrale Fragestel-lungen dar. So wie ich das sehe, entziehen sich Graffiti und Street Art  beharrlich konventionellen Kontrollmechanismen, die versu-chen, diese kulturellen Praktiken mittels der Rückführung in ein System quo zu institutionalisieren. Ob es sich um Fra-gen der terminologischen Definition, der Statuszuschreibung, der Konservierung oder legalistischer Rahmenbedingungen handelt, alldem begegnen Graffiti und Street Art mit einer gewissen Ambivalenz und Widerspenstigkeit. Warum diesen Themenkomplex also überhaupt anhand von Analysen unter-suchen, deren Ziel es ist, etwas zu definieren und dadurch zu determinieren, wenn er sich doch (so offensichtlich) dage-gen wehrt? Warum Forschungsmethoden anwenden, die ver-suchen, etwas Unfassbares zu ergreifen? Werden diese dem Gegenstand und den beteiligten Akteur*innen überhaupt ge-recht? Aus dieser Opposition heraus, ergeben sich natürlich viele Fragen, primär ergibt sich daraus jedoch die Notwen-digkeit einer kritischen Reflexion und Revision der eigenen Forschungspraxis. Das bedeutet nicht nur diese auf ihre Re-levanz und Konsequenzen hin zu befragen, sondern sich auch im Klaren zu sein, dass man, wenn überhaupt, ein Deutungs-PRIVILEG besitzt. Es ist und bleibt eine häufige Schwierigkeit für  Forscher*innen, etwas, das uneindeutig bleiben möchte, in eine Eindeutigkeit überführen zu müssen. Dies hängt u. a. damit zusammen, dass im Wissenschaftsbetrieb Forschungs-ergebnisse und keine Forschungsprozesse „verwertet“ wer-den. Aber muss und soll das die Zielsetzung wissenschaftlicher Arbeit sein? Die Deutungshoheit abzugeben, kann nur dann funktionieren, wenn die angewandten Methoden Uneindeu-tigkeiten nicht nur aushalten, sondern diese auch anerken-nen. Dann stellt sich allerdings die Frage, welche Policies sol-che Forschungsmethoden haben bzw. brauchen und natürlich wer diese festlegt. Nicht selten kommt es vor, dass Graffiti und  Street Art als besonders demokratische Praktiken bzw. Kunst-formen bezeichnet werden. Doch will man sich der Illusion hingeben, dass dies uneingeschränkt der Fall ist? Sind die Ein-stiegshürden sowohl bei Produktion als auch Rezeption tat-sächlich niedriger als bei anderen Formen künstlerischen Aus-drucks? Wie könnte eine entsprechende Demokratisierung der (Er)Forschungspolitiken in diesem Themengebiet ausse-hen? Wie viel Demokratie braucht bzw. erträgt die Forschung eigentlich? IV.  WE … NEED … EDUCATION Meiner Ansicht nach benötigt ein Themenkomplex wie  Graffiti und Street Art Methodologien, die Leerstellen aus-halten und Deutungsräume schaffen, um den diskursiven und dialogischen Prozessen, die es braucht, Platz zu geben. Dies ist eine durchaus pädagogische Herangehensweise, die von Forscher*innen zugleich verlangt, Erlerntes wieder zu verler-nen. Das soll keinesfalls eine Absage an bisher gewonnene Er-kenntnisse sein. Viel eher heißt es, Mut zur Lücke zu bewei-sen und explorativ, anstatt linear zu agieren. Wie genau das aussehen könnte, darauf kann ich alleine keine Antwort ge-ben. Das würde dem Streben nach echter partizipativer, kol-lektiver Wissens- und Wissenschaftsgenerierung vollkommen zuwiderlaufen und diese Schlüsselworte erst wieder dazu ver-dammen, hohle Phrasen zu bleiben. Graffiti selbst kann bei solchen (Selbst)Versuchen hilfreich sein, indem es vom For-schungsgegenstand zur Forschungsmethode wird (eine groß-artige Idee, die ganz und gar nicht meine eigene ist 11 ). Auf  diese Weise ließe sich nicht nur etwas über Graffiti lernen, sondern von Graffiti lernen, um so das zu „feiern“, was es sein kann: Unfinished business.    ANOTHER … IN THE WALL  VON STEFANIE FRIDRIK


 ZUKUNFT | 39  1  Vimercati, Giovanni (2016): Blu v Bologna: new shades of grey in the street art debate, in: The Guardian, 17.03.2016, online unter: https://www.theguardian.com/artanddesign/2016/mar/17/street-artist-blu-destroys-murals-in-bologna (letzter Zugriff: 18.05.2021). 2  Remsky, Sarah (2018): Banksy wollte Kunstwerk bei Auktion kom-plett schreddern, in: Zeit Online, 18.10.2018, online unter: https://www.zeit.de/kultur/kunst/2018-10/sothebys-auktion-street-art-schredder-banksy (letzter Zugriff: 18.05.2021). 3  Gaulhofer, Karl (2020): Sind die Sprayer nun Schurken oder Stars? In: Die Presse, 17.11.2020, online unter: https://www.diepresse.com/5898426/sind-die-sprayer-nun-schurken-oder-stars (letzter Zugriff: 18.05.2021). 4  Mit März 2021 begann in Hamburg das Citizen-Science-Projekt „STREET | ART | DEMOCRACY“ in einer Kooperation zwi-schen dem Arbeitsfeld Public History der Universität Hamburg und dem Verein Kulturpixel e. V. Untersucht wird Street Art „als Me-dium historisch-politischer Kommunikation und Bildung“. Online unter: https://www.geschichte.uni-hamburg.de/arbeitsbereiche/public-history/projekte/street-art-democracy.html (letzter Zugriff: 18.05.2021). 5  Siehe z. B.: Ross, Ian (Hg.) (2016): Routledge Handbook of Graffiti and Street Art, New York: Routledge. 6  Ein Beispiel ist die Konferenzreihe Art and the City: Urban Space, Art and Social Change, die seit 2019 jährlich in verschiedenen Städ-ten Europas oder Nicht-Orten im Internet stattfindet. Online unter: https://artandthecity.sciencesconf.org/ (letzter Zugriff: 18.05.2021). 7  Das wissenschaftliche Journal Graffiti, Street Art & Urban Creativity (SAUC) erscheint seit 2015 mit zwei Ausgaben im Jahr und stellt eine Plattform für eine vielschichtige und -seitige Auseinandersetzung mit den Studien urbaner Kreativität dar. Online unter: https://sauc.website/index.php/sauc/index (letzter Zugriff: 18.05.2021). 8  Häuser, Friederike (Hg.) (2021): Graffiti. Interdisziplinäre und kon-temporäre Perspektiven, Weinheim: Beltz Juventa. 9  Online unter: https://www.beltz.de/fachmedien/sozialpaedagogik_soziale_arbeit/buecher/produkt_produktdetails/46421-graffiti.html (letzter Zugriff: 18.05.2021). 10  Avramidis, Konstantinos/Tsilimpounidi, Myrto (Hg.) (2018): Graffiti  and Street Art. Reading, Writing and Representing the City, New York: Routledge. 11  Kearns, Robin/Eggleton, Kyle/van der Plas, Annie/Coleman, Tara  (2021): Drawing and graffiti-based approaches, in: von Benzon, Na-dia/Holton, Mark/Wilkinson, Catherine/Wilkinson, Samantha (Hg.): Creative Methods for Human Geographers. Los Angeles u. a.: Sage1, 113–126. STEFANIE FRIDRIK  ist Kunstwissenschaftlerin und Kulturvermittlerin. Sie fragt nach den  Möglichkeiten von Wissens- und Kunstvermittlung als kritische, antiras- sistische Praxis und setzt sich mit zugrundeliegenden kulturpolitischen  Prozessen auseinander.


 40 | ZUKUNFT  FORMATIONEN DES POLITISCHEN  VON FRIEDERIKE LANDAU I.  INTRO: POLITIK_ER Wer soll „die Politik“ denn eigentlich sein?come oooon, wäre sie wirklich weiblich?Politik pluralisierenPolitiken politisieren polemisieren polarisierenwie viele Plurale können wir sie, es, er tragen?Wer trägt Plurale wohin? Und wann wird aus Plural    wieder Singular?Wie formen sich Politiken aus „der Politik“? Und warum ist sie jetzt männlich?Wenn Politik ein EinPlurihörn wär, fiel das mit dem Gen-dern flachzerfließend in der eigenen Grundlosigkeit, zugespitzt auf plural-glitzrige HörnerAngriffs_L_Fr_ust 1.0crybaby cryboy boys cry, too Abb. 1: Boys cry, Foto: Friederike Landau, 22.03.2021, Berlin/Neukölln II.  ERINNERUNGSPOLITIK ZWISCHEN AN- UND ABWESENHEITEN Kunst schreibt, drückt, schmiert, hämmert sich in den  Stadtraum ein – durch Graffiti, Häkelwerk, Sticker, Mini- Installationen, mit Papier, Kleber, permanenter oder abwasch-barer Farbe. 1  Aber Kunst im öffentlichen Raum nimmt auch  scheinbar unverrückbare Formen an – als Denkmäler aus soli-den Materialien wie Stein, Marmor, Bronze – zur Erinnerung großer Ereignisse oder Persönlichkeiten, die „die“ Geschich-te geprägt haben. Im komplexen Zusammenspiel von globa-ler COVID19-Pandemie, Bemühungen zur Dekolonialisierung von Denken und städtischen Räumen sowie internationalen Black Lives Matter (BLM)-Protesten erstarkten jüngst Diskussi-onen über die umstrittene Präsenz von Denkmälern in öf-fentlichen Räumen. Konflikte im, um und über öffentlichen Raum werfen Fragen auf: Gehört öffentlicher Raum wirklich „allen“, wer verwaltet ihn nach welchem zugrundeliegen-den Zeit- und Geschichtsverständnis? Was tut „die Politik“, an deren Grundfesten ich oben schon ein wenig gesägt habe, für Denkmäler mit problematischem Erbe von Kolonialismus, Ausbeutung, Rassismus, Sklavenhandel, Nationalismus, Sexis-mus? Welche und wessen Geschichte(n) markieren Denkmä-ler durch ihre materielle An- und Abwesenheit? Denkmäler problematischer historischer Figuren oder Er- eignisse haben eine längere Geschichte von – mehr oder we-niger geplantem – Abbau, wie beispielsweise der Sturz einer Statue des Kolonialherren Rhodes in Capetown („Rhodes must Fall“; 2015), einer Saddam-Hussein-Statue in Bagdad (2016), oder der Statue des britischen Händlers Edward Cols-ton in Bristol (2020), die einige Tage nach der Ermordung des Schwarzen George Floyd durch einen weißen Polizisten in Minneapolis, Minnesota, von lokalen Aktivist*innen in den  Formationen des  Politischen In ihrem literarisch-essayistischen Beitrag arbeitet  FRIEDERIKE LANDAU  pointiert die nicht zuletzt politischen Debatten  über denkmalgestützte Erinnerungspolitik in öffentlichen Räumen heraus: Lyrisch gerahmt macht sie aktuelle internationale Entwicklungen im erzählerischen Ausverhandeln von Geschichte und Geschichten anhand ausgewählter Beispiele greifbar. 


 ZUKUNFT | 41  örtlichen Hafen gestürzt wurde. Als Kontrapunkt zum tota-len Abriss von Denkmälern, die Kolonialgeschichte(n) somit gegebenenfalls gar nicht mehr sicht-, les- und erfahrbar ma-chen, und damit auch traumainformierte Erinnerungsarbeit erschweren können, setzen Initiativen wie das Black Monu-ments Project 2  auf die Schaffung neuer Sichtbarkeiten. Die ge- plante Neuerrichtung von Denkmälern von schwarzen Per-sönlichkeiten aus Kultur und Politik in allen US-Bundesstaaten oder Kartografierungsprojekte sollen neue, andere Erinne-rungskulturen und -formen schaffen. In Mittel- und Osteu-ropa prägen viele helden[sic]verehrende Denkmäler Solda-ten, Politiker und andere Nationalhelden, sind aber oft auf bröckligen Fundamenten gesellschaftlicher Akzeptanz und In-formationspolitik über die geschichtlichen und politischen Entstehungskontexte gebaut. Das Projekt NONUMENT! 3 ,  initiiert vom Museum of Transitory Art (MoTA) in Ljubljana, Slowenien, bestehend aus Forscher*innen, Künstler*innen und Kurator*innen, erstellt seit 2011 eine wachsende Online-Datenbank, die bedrohte, verloren gegangene und erhalte-ne Monumente in Bulgarien, Griechenland, Österreich, den Vereinigten Staaten, Serbien, Slowenien, Tschechien und Zy-pern katalogisiert. Zudem führt die Gruppe künstlerische In-terventionen an, neben, unter, um und über Denkmäler(n) durch, um deren Entstehungskontexte zu problematisieren, transparent und sinnlich zugänglich zu machen. Diese Prak-tiken unterstreichen die Performativität von Denkmälern und Erinnern. 4   Mit diesen vielfältigen Ansätzen können Denkmäler auch  nicht nur als „versteinerte Konflikte“ 5  verstanden werden,  sondern auch als konkret erfahrbare Räume, an denen man Geschichte(n) in der Gegenwart verarbeiten kann. Beispiels-weise wurde wenige Tage nach dem Mord an George Floyd in Minneapolis ein öffentlich zugängliches Monument als Ort der Trauer, Begegnung und gegenseitigen Fürsorge von Aktivist*innen bereitgestellt. 6 Auch in Österreich werden Debatten über brisante Sta- tuen im öffentlichen Raum lauter, beispielsweise über das Denkmal des ehemaligen Wiener Bürgermeisters Karl    Lueger (1844–1910), welches seit über einem Jahrzehnt um-stritten wegen seiner Repräsentation eines bekennenden    Antisemiten ist. Bereits 2009 sollte das Denkmal durch einen Ideenwettbewerb der Universität für angewandte Kunst (Wien) umgewertet werden; jüngst wurde die nach wie vor (be)ste-hende Statue von anonymen Aktivist*innen/Künstler*innen durch Graffiti um- oder aufgewertet (Abb. 2).   Abb. 2: Lueger-Denkmal, Foto: Stefanie Fridrik, 24.04.2021, Wien Interessanterweise schwankt die Einschreibung hier zwi- schen ephemeren, leichtfüßig daherkommenden Graffiti-Tags des Worts „Schande“ und dem behäbigeren, einbetonierten Schriftzug desselben Ausdrucks auf der einen Seite und der anschließenden, nicht autorisierten Aktion der rechtsextre-men Identitären Bewegung auf der anderen, den einbetonierten Schriftzug wieder abzutragen. Das ständige Hin- und Her-wanken von An- und Abwesenheiten verweist auf die um-strittene Räumlichkeit von Erinnerungskultur. Die konkur-rierenden Aktionen werfen Fragen auf: Könnte der Sockel leer sein? Sollte der Sockel gar endgültig abgebaut werden, ganz im Sinne von „ist das ein Denkmal oder kann das weg?“ Im weiterreichenden Diskurs über Erzählungen, Auf- und Abbau, An- und Abwesenheit des Politischen drängt sich die Frage auf, wie städtische Gesellschaften und „die Poli-tik“ mit Denkmälern umgehen, wenn sowohl ihre andau-ernde Präsenz als auch ihre konstruierte Leere problematisch sind. In Summe unterstreichen die sich gegenseitig verstär-kenden Aushandlungen um An- und Abwesenheit die Band-breite von Bedeutungskämpfen und -konflikten in öffent-lichen Räumen. Obwohl auch im Falle Lueger vielleicht erklärende Tafeln die historisch spezifischen Ansichten oder Persönlichkeiten kontextualisieren könnten, sind neben for-malen Unzulänglichkeiten solcher Formen der Erinnerungs-arbeit (zu abstrakt, steril, oder ausschließlich auf Fähigkeit, le-sen zu können ausgerichtet) auch die politischen Implikationen des Fortbestandes zu bedenken. Bleibt Lueger stehen, neh-


 42 | ZUKUNFT  men menschenverachtende oder diskriminierende Positionen und Persönlichkeiten weiterhin Platz im öffentlichen Raum ein, der auch für Praktiken des Gedenkens genutzt werden könnte, die diesen Unterdrückungen explizit im Sinne von Dekolonialisierung und Wiederherstellung entgegenwirken wollen. Im Hinblick auf neue Formationen des Politischen sprach Historiker Jonas Anderson kürzlich von neuen Erinne-rungskulturen und der Möglichkeit, Denkmäler durch „Kon-textualisierung und auch künstlerische Entfremdung oder Er-gänzung…in ein neues Licht“ zu rücken, um „entgegen der Intention ihrer Erbauer [sic] – der historischen Aufarbeitung [zu] dienen.“ 7  Durch Rekontextualisierung könnten sich in  diesem Szenario neue Erinnerungsformen, -räume und -kul-turen entwickeln, die für und von vielfältigen, postmigranti-schen Gesellschaften mitproduziert werden. Versteht man die Stadt als Wunde, 8  bräuchte es vielleicht  genau an solchen bereits verwundeten Orten Raum für Dia-log. An solchen Orten entsteht gegebenenfalls statt teils ano-nym ausgetragenen Konflikten und halblegalen Aktionen von Einschreibung und Ausmeißelung ein offenes Ausverhandeln von verschiedenen politischen Positionen und Öffentlichkei-ten. Im spannungsgeladenen Kontinuum zwischen Ab- und Anwesenheit könnten künstlerische Einsätze Le_h_erstel-len schaffen, um vergangenes Leid zu markieren. Künstleri-sche Umwertungsprozesse könnten unter Einbeziehung loka-ler Stakeholder (z. B. Nachbar*innen, Parkbesucher*innen, soziale und kulturelle Einrichtungen aus der Gegend) Räume zum gemeinsamen Nachdenken über die prekäre Materiali-tät, historische Unvollkommenheit und Spezifität von Denk-mälern sowie deren potenzielle Widersprüchlichkeit schaffen. Diese Denkmäler könnten gegenhegemoniale Positionen ar-tikulieren, materialisieren, sinnlich erfahrbar machen und so-mit Regime von (Un)Sichtbarkeit bzw. Ab- und Anwesenheit verunsichern. Durch multimediale und sinnesbezogene (Neu)Verhandlung von Bedeutungskonflikten zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Herrschaft und Unterdrückung könn-te auch das vorherrschende Primat des Visuellen von Denk-mälern überwunden werden – würdet ihr nicht auch gern wissen, wie Geschichte und Erinnerung schmecken, riechen oder klingen könnte? Wenn Bedeutungskonflikten multidi-mensionaler und multisensorieller Raum gegeben wird, und dieser Raum bewusst offen- und ausgehalten wird, anstatt eine allseits anerkannte und somit pseudo-abgeschlossene Version von Geschichte zu erzählen, können in verwundeten Städten vielleicht Heilungsprozesse beginnen. Auch plurihörnige Po-litik_en könnten hier grasen. III.  OUTRO: KONFLIKT(VER)LAGERUNGEN Konflikt lagernKonfliktlager im Lager riecht es nicht nur modrigein Depot als Bäckerei Konflikte abtragen, mit feinsten Pinseln, Schicht für Schichtneue S_ch_ichtbarkeitenKeiner kaut länger auf SteinKonflikt verlag(er)Storage-Unit, Unity, DiversityFlüssiglager FORMATIONEN DES POLITISCHEN  VON FRIEDERIKE LANDAU


 ZUKUNFT | 43  1  Der vorliegende Text ist eine abgeänderte Version des Originals „Denk_mal: Bühnen für Bedeutungskämpfe in öffentlichen Räu-men“, erschienen in den Kulturpolitischen Mitteilungen der Kul-turpolitischen Gesellschaft (KuPoGe), Heft 171 – IV/2020: Streitfall Erinnerungskultur, online unter: https://kupoge.de/kumi/pdf/171/kumi171_50-51.pdf (letzter Zugriff: 08.06.2021).  2  Black Monuments – America is covered in Confederate statues. We can do better — and here’s how, online unter: https://black-monu-ments.mic.com (letzter Zugriff: 08.06.2021).  3  Nonument – Mapping & Archiving Public Spaces, online unter: htt-ps://nonument.org (letzter Zugriff: 08.06.2021).  4  Manchester University Press – Performative monuments, online un-ter: https://manchesteruniversitypress.co.uk/9780719095917/ (letzter Zugriff: 08.06.2021).  5  Das radikaldemokratische Museum, online unter: https://www.de-gruyter.com/document/isbn/9783110610840/html (letzter Zugriff: 08.06.2021).  6  George Floyd and A Community of Care (placesjournal.org), online unter: https://placesjournal.org/article/george-floyd-and-a-commu-nity/ (letzter Zugriff: 08.06.2021). 7  Online unter: https://www.kulturrat.de/themen/erinnerungskul- tur/denkmalkultur/die-erinnerung-wachhalten/ (letzter Zugriff: 08.06.2021).  8  Online unter: https://citeseerx.ist.psu.edu/viewdoc/download?doi=10.1.1.823.443&rep=rep1&type=pdf (letzter Zugriff: 08.06.2021). FRIEDERIKE LANDAU  ist politische Theoretikerin und Stadtsoziologin. Seit Oktober 2020   arbeitet sie als Assistenzprofessorin für Kulturgeografie an der Radboud  Universiteit, Nijmegen, in den Niederlanden. Sie studierte Verwaltungs- wissenschaften und politische Theorie in Deutschland, Frankreich, den  Niederlanden und Kanada. Ihre Forschungsinteressen bewegen sich an  Schnittstellen zwischen politischer und räumlicher Theorie, beispiels weise  städtische Kulturpolitik, künstlerischer Aktivismus, umstrittenen   öffentlichen Räumen wie Museen und Denkmälern.


 44 | ZUKUNFT  Untitled IBleiblech, weiße Sprayfarbe, handgeschöpfte Silikonseiten,  Siebdruck, 50cm x 50 cm x 4cm, Unikum, Wien 2019


 ZUKUNFT | 45  ELISABETH ÖGGL & LORENA PIRCHER 


 46 | ZUKUNFT  WIE WIR UNS DEM RÜCKFALL ENTZIEHEN  VON DOMINIK IRTENKAUF I.  Die politische Landschaft bewegt sich derzeit in eine ge- fährliche Richtung. Das hängt nicht nur mit Corona zusam-men. Das Erstarken (rechts-)populistischer Bewegungen, der zunehmende Verlust einer eigenen kritischen Mitte und die Indifferenz gegenüber dem ökologischen Kollaps unseres Pla-neten führen zu einer Rückwärtsbewegung. Dies beinhaltet eine Rückkehr zu überwunden geglaubten Haltungen und Verhaltensweisen. Der Wiener Philosoph und Aktionskünst-ler Kilian Jörg fasst diese Rückfälle in seinem Buch Backlash. Essays zur Resilienz der Moderne (2020) zusammen. Es erscheint als „Kleiner Stimmungsatlas“ in der entsprechenden Reihe beim Textem Verlag. Die Stimmungsatlanten haben zur Ab-sicht, ein Thema von verschiedenen Blickwinkeln zu erfassen und im Kleinformat, wahrlich als Taschenbuch, in jede belie-bige Hosen- oder Jackentasche zu passen.   Aufmerksam auf dieses Buch wurde ich durch ein Kapi- tel, das sich mit dem Autoregime auseinandersetzt. Jörg führt  aus, wie das Auto uns in einen ständigen Rauschzustand ver-setzt, durch den Lärm, den Gestank, die Gefahr auf der Stra-ße, die Überall-Mobilität der Autos. Zugleich verlangt das Auto nach einer Glätte, da es nur auf ebener Fahrbahn schnell von A nach B kommen kann. Diese Glätte beschränkt sich nicht auf die Oberfläche der Straßen, sondern bietet sich als wichtige analytische Kategorie des Kapitalismus an: Um eine fortlaufende Produktion zu garantieren, muss die (metapho-rische) Maschinerie gut geölt sein. Diese Glattläufigkeit, wie man es behelfsweise nennen könnte, sorgt für die Einebnung von Unterschieden, so etwa auch zu einer Monopolisierung des Straßenverkehrs. So Kilian Jörg. Er ordnet das Autoregime in ein gesellschaftliches Gesamtbild, das von Männerherrschaft geprägt ist:  „Das Auto ist bei dieser politischen Komponente der  Resilienz der Moderne selbstverständlich nicht die einzi-ge Triebfeder – die Strukturen der modernen Subjektivie-rung reproduzieren sich in unzähligen Schichten wie z. B. in der Schüler_in, der Skifahrer_in, der Fitnessstudiobenut-zenden, der Drohne etc. Doch im Automobil konzentrieren sich die Parameter und Weiterführungsstrategien der moder-nen Norm.“ II. Dazu gehört die Ausrichtung auf eine glatte Landschaft,  die der mobilen Maschine keine Widerstände entgegensetzt. Jörg weitet das noch auf die Mentalitätsgeschichte aus, indem er das Auto als Teil einer toxischen Männlichkeit ausmacht. Wenn sich auch für die weibliche Hälfte der Gesellschaft lang-sam etwas ändert, machen nach wie vor Männer durch ihre Reden und den Einfluss in der Kulturwelt etwa, wie auch in  Wie wir uns dem   Rückfall entziehen In seinem Review Essay unternimmt  DOMINIK IRTENKAUF  eine konstruktiv-kritische Auseinandersetzung mit Kilian  Jörgs  Backlash   (2020) und arbeitet in seiner reflektierten Beschäftigung mit dieser wichtigen Neuerscheinung nicht zuletzt  die Notwendigkeit einer Rückkehr zu Text und Lektüre heraus. KILIAN JÖRG: BACKLASH Hamburg: Textem 240 Seiten | € 15,70 ISBN: 978-3864851391 Erscheinungstermin: Mai 2020


 ZUKUNFT | 47  Politik und Ökonomie, das große Gewicht der Öffentlichkeit aus. Das erstreckt sich auch auf souveräne, feministisch gewo-gene Moderatoren wie Jan Böhmermann, die sich letztlich eben doch wieder als Männer in den Vordergrund rücken. Es ist ein Teufelskreis. Das vorliegende Taschenbuch überlegt, ob es nicht mehr Räume für Männer bräuchte, um diesem Back-lash, einem Rückfall (wie bei einer Krankheit?) zu entkom-men. Jörg schreibt von Männern, die der vermeintlichen Ver-antwortung eines Patriarchen entlaufen, die sich für ein Leben jenseits einer traditionell verstandenen Männlichkeit entschei-den. Doch er stellt auch fest:  „Wir sind allerdings in eine Phase des Spätkapitalismus  eingetreten, in der sich das System vermehrt durch die Ab-weichungen von der Norm als durch die Norm antreibt. Der Patriarch existiert zwar noch, doch das Weglaufen vom Pa-triarchen bedeutet nicht das Ende des Patriarchats. Es bleibt noch viel Arbeit zu tun.“ Zu dem Buch tragen noch weitere Autor*innen mit kur- zen, teils manifestartigen Texten bei. Zwischen den Essays finden sich Handlungsanweisungen, die überraschende und dennoch einfache Tipps geben. So zum Beispiel: Wenn du spürst, dass deine Männlichkeit zerfällt, versuche nicht, sie zu reparieren, sondern lasse sie zerbröseln. Oder stelle dir vor, wenn du durch die Stadt auf dem Fahrrad fährst, es gebe kei-ne Bremse. Was aus diesen Erfahrungen resultiert, liegt im Er-messen der Leser*innen. Indem Kilian Jörg und sein Team diese Handlungsanweisungen, die eher als Vorschläge zu werten sind, zwischen die theoretischen Essays setzen, wird dem Phänomen Backlash eine Offensive entgegengesetzt. Es geht nicht allein um philosophische Analyse, sondern Prakti-ken, die umsetzbar sind. Jörgs Analysen fügen sich durchaus in den akademischen Ton ein, aber überraschen immer wie-der durch interessante Verknüpfungen und Metaphern, wie zum Beispiel bei der Erörterung des philosophischen Begriffs „Grund“. Ausgehend von der journalistischen Feststellung, dass die Wahlen für Backlash-Parteien (also: Rechtspopulis-ten) von einer Angst ausgehen – „So soll es die Angst um Zu-kunft und Sicherheit, vor sozialem Abstieg und vor Neuem, vor Frauen, Schwulen und Fremden sein, die das Verhalten der falsch wählenden bestimmt.“ (S. 151) – geht er dem All-tagswort „Grund“ nach, gelangt dann rasch zur begriffsphi-losophischen Geschichte des „Grundes“. In der Antike hat ein Männerverein an der platonischen Akademie zu Athen den Grund „entkosmologisiert“  und ins Ideenreich verwiesen. So einfach gelangte man nicht mehr zum Grund, aber wenn  mir im Gespräch oder im Schreiben der Grund fehlt, worauf soll ich meine Argumente bauen? III. In einer Fußnote spricht Jörg von „Zufahrtsstraßen“, die  sich eine Männerwelt auf diese Weise sicherte. Die Begriff-lichkeit mag auf den ersten Blick salopp klingen. Im weite-ren Kontext jedoch ergibt sich ein tieferer Sinn, wenn Kilian Jörg den Parameter „Glätte“ nicht allein auf die Welt des Au-tomobils beschränkt, sondern als Erkennungsmerkmal des Ka-pitalismus einführt. Der Gewinn soll sich noch vervielfachen, wofür Wachstum notwendig ist. Kilian Jörg verfolgt da ei-nen deutlich anderen, kritischen Weg. Seine Essays in Backlash überlegen auch den Zustand nach der Corona-Krise. Wel-che Chancen verschafft ein Lockdown der Wirtschaft? The-sen und Argumente auszusprechen, die zunächst wie ein Tabu klingen, gehört zu Jörgs Stil. Ob etwas Tabu ist, hängt erneut von der Ausgangslage und den Menschen ab, die etwas als sol-ches deklarieren. Die Überzeugung, dass alles in allen Berei-chen, vor allem jedoch im Geldsektor, glatt laufen muss, führt zur Einebnung der definitiven Unterschiede. Die bereits angesprochenen Handlungsanweisungen im  Buch sind eine Möglichkeit, dieser Übermännlichkeit zu ent-kommen. Dass man einer übertriebenen Identifikation mit dem eigenen Geschlecht entkommen möchte, ist eine unaus-gesprochene Voraussetzung. Wer sich lieber mit seiner Iden-tität beschäftigt, um sich von den Anderen abzugrenzen, wird kaum dieses kleine Buch erwerben. Denn es stellt die eigenen Stärken in Frage: Wenn Jörg selbst ein Mann ist, die männli-che Übernahme des diskursleitenden Wortes jedoch kritisiert, dann stellt er seine eigene Stimme in den Schatten der Ande-ren, für die er die Stimme erhebt. Ein ähnliches Problem stellt sich beim Exotismus in der Literatur, wenn marginale Kultu-ren angeeignet werden und in diesem Prozess der sogenann-te „edle Wilde“ in verschiedensten Ausformungen suggeriert wird. Die eigene Stimme hebt sich in den Vordergrund und übernimmt für diejenigen, die nicht unsere Sprache sprechen oder die ungehört sind, den Redepart. Was sich im Rahmen einer Aufklärung sehr gut anhört, verbirgt die Machtstruktu-ren, die durch ein Sprechen für Andere zustande kommen. Jörg löst dieses Dilemma, indem er die eigene Position re- flektiert: Aus einer anthropologischen Beobachtung, dass sich der Mensch meist nicht in seiner Umwelt wohlfühlt, resul-tiert eine Unsicherheit, die nicht durch Brutalität, Wut oder 


 48 | ZUKUNFT  Klugscheißerei übertüncht werden muss. Diese Unsicherheit gilt es auszuhalten. Jörg führt in seinem Essays jedoch aus, dass gerade dieser „Mangel“ vehement bekämpft wird, bis hin zur Auslöschung des störenden Elements. Dies bildet das Funda-ment für neue, beängstigende Bewegungen, die sich global als Rechtspopulismus zeigen. Es eigentlich schon immer besser gewusst zu haben und die Ordnung klar vor Augen zu haben, wer kennt solche Mentalitäten aus dem Netz nicht? IV. Dem wird ein Spiel gegengesetzt: Stelle dir vor, du atme- test all die Auspuffgase ein und stelltest dir ein Paradies vor. Eigentlich würde ich meine Nase bedecken, bereits vor Co-rona, um nicht Opfer einer Abgaswolke zu werden. Doch die Übeltäterin wird zu unserer Verbündeten. Diese Hand-lungsanweisungen legen ein solches widersprüchliches Ver-halten nahe. Es würde mich nicht wundern, wenn auch Je-sus’ Bergpredigt Pate für diese Anweisungen gestanden hätte, bis zu einem gewissen Grad. Man geht eine widersprüchli-che Praxis ein, die den gängigen Erwartungen nicht ent-spricht und drückt so seinen Einsatz für das Wesentliche aus. Die Wahrnehmung verändert sich und der Blick schärft sich für die Mehrdeutigkeit der Welt. Wie ist es, Maschinenmo-gul für einige Zeit zu sein? Belastend, für andere jedoch erhe-bend, denn sie erheben sich tatsächlich über ihre angestammte Umgebung. Macht man sich dann nicht mit der bekämpf-ten Sache gemein? Das Auto als geiles Gefährt durchs Ge-birge? Geht das als Aktivist gegen Auto-Lobbyismus? Kilian Jörg behauptet: Ja. Man könne sich von eigenen Bedingungen und Bedingtheiten nicht lossprechen. Daher müssten sie of-fen liegen. Der Verfasser schildert seine Suche nach einer ge-schlechtlichen Identität. Macht sich dadurch verletzlich, die Häme im Netz lässt sich bereits vorahnen. Stichwort: Toxi-sche Männlichkeit. An dieser Stelle bevölkern die Monstren unserer Hirne die Seiten. Was abseits liegt, macht Angst.  An diesem Punkt macht ein konstruktiver Vorschlag Jörgs  Sinn. Er schlägt vor, nicht der einen Vernunft zu folgen, son-dern „de[m] zentralen Wert des Minoritären, der Subszenen und Untergründe“. Das Werden vollzieht sich auch ohne Zu-tun des Menschen, die Moderne trägt sich laut Jörg unwei-gerlich ab „und eine neue ökologische Stabilität jenseits des Anthropozäns wird sich einstellen.“ Um diese Zukunft ak-tiv mitgestalten zu können, ist es notwendig, aus den üblichen Routinen auszubrechen. Was sich so einfach niederschreibt – zudem wie aus einem beliebigen Manifest klingt oder einem  interventionistischen Artikel, der die genaue Beobachtung der Gegenwart überschreiten möchte – ist in der Tat alles andere als einfach. Hier helfen Werkzeuge, die Jörg in seinem Buch andeutet: Nicht nur die Handlungsanweisungen, sondern ein offenes Ohr für Texte. Der Rückzug auf den Text könnte als einfallslos bezeichnet werden, weil ein Autor sein liebstes Ob-jekt und seine liebste Tätigkeit in den Vordergrund rückt, und zwar wiederum im Medium der Schrift – die Kritik an ei-ner solchen Verschriftlichung der Welt zieht sich durch die postmoderne Philosophie (wird von Jean Baudrillard etwa in die Virtualität erweitert oder von Hélène Cixous gegen die Übermännlichkeit der Schriftstellerei gelesen) – doch letztlich geht es hier nicht um eine unzugängliche Sprache (lies: Aka-demikerdeutsch), sondern um das Erzählen von Geschichten. Wer hört nicht gern Geschichten und setzt diese fort? Einem Backlash entgegenzutreten, wird durch die Erweiterung der menschlichen Fantasie möglich. Stell dir vor, du bist heute ein anderer Mensch! Und wenn es dir gefällt, dann halte daran fest, dass du anders bleiben wirst!  V. Es stimmt, dass man selbst gerne da abgeholt wird, wo  man sich wohl fühlt. Wenn Kilian Jörg auf eine Science Fic-tion-Kurzgeschichte der US-Autorin Ursula K. Le Guin ver-weist, dann zeigt sich hier eine ökologisch und anthropolo-gisch bewusste Literatur, die unter die Science Fiction fällt, weil sich Le Guin stets für Fremdheit und Kontakt mit dem Anderen interessierte. Die angstbesetzte Wahrnehmung von Etiketten, die Ordnung schaffen sollen, um sich selbst als Identität erst schaffen und absichern zu können, wird ange-sichts einer drohenden ökologischen Katastrophe hinweg-schmelzen. Was interessiert Viren und Bakterien, die auch nach einem Weltuntergang (realer, nicht religiöser Art) ihren Platz in der Ökologie unseres Planeten finden werden, eine Identität als alter weißer Mann oder als umweltbewusster, aber fremdenfeindlicher Volkskernmann, der sich gegen die eige-ne Bedeutungslosigkeit auflehnt, dafür ihm nicht genehme Lebensentwürfe und Herkünfte nicht nur diskreditiert, son-dern diffamiert, in dem Glauben, dadurch an Lebensquali-tät und Planetenzeit zu gewinnen? Kein Stück. Sie laben sich am verendenden Leben und bauen aus der gefallenen Zivili-sation eine neue Umwelt. Jörg erkennt dies und fordert ei-nen neuen Experimentierraum, in dem eben ein Vorwärts-sprung und nicht ein Rückfall möglich wird: „Um diesen Feedbackschleifen zu entkommen, müssen Wege aus dieser selbstreferenziellen Logik des Abendlands und seiner Vernunft  WIE WIR UNS DEM RÜCKFALL ENTZIEHEN  VON DOMINIK IRTENKAUF


 ZUKUNFT | 49  gefunden werden. Es gilt, anderen menschlichen und nicht-menschlichen Völkern zuzuhören. Entwickeln wir Sprachen über Kulturgrenzen hinweg, die uns die Metaphysiken und Vernunfteinsichten der Auberginen erläutern.“ Dieser Ge-danke entstammt Ursula K. Le Guins Kurzgeschichte The  Author of the Acacia Seeds aus dem Jahr 1974. Darin wird der Erforschung von „Sprachen und Poesien von Tieren, Pflan-zen und Gesteinen“ viel Raum gegeben. Einfach wird es nicht sein, diese Grenzen hinter sich zu lassen. Diverse Tie-re und Pflanzen werden uns sympathischer sein. Andere sto-ßen uns ab. Es geht hier jedoch gar nicht um einen objektiven Prozess, sondern um ein persönliches Überwinden der alten Regeln. Statt Rück- bitte Fortschritt. Aber nicht ohne neue Wurzeln zu schlagen! Der Umwelt zuliebe. Und Wurzelschla-gen bedeutet auch immer eine lebendige Diskussionskultur, die sich zu orientieren weiß. Vorliegendes Buch bietet hier-für eine sehr gute Starthilfe. Denn, welcher freiheitsliebende Leser möchte schon folgendes erleben, sobald er den Fuß vor die Haustür setzt?  „Der exzentrische Selbstbezug und die radikale Abschot- tung von anderen Lebensbezügen haben eine radikale Land-nahme und Anthropogenisierung des Planeten ermöglicht. Und die wiederkehrenden Backlashketten der Resilienz der Moderne machen das Leben immer monotoner, hässlicher, ungesünder und tödlicher.“ Wo wirft jener Mensch, der/die dieses hier liest, seinen  Anker? Die Frage hallt lange nach. Schließlich macht sich Stille breit. Haben wir ihn/sie übersehen? Sind sie unterge-taucht, während wir uns Gedanken zur Erosion der Politik und Ähnlichem machten? Wir stehen auf wankendem Grund – merken wir dies? Indem wir auf Sand unser Gleichgewicht zu halten suchen? Den Anker werfen wir zu den Gefährten rüber, die unter Wagemut eben nicht Ausbeutung verstehen, sondern die gemeinsame Reise, auch durch unwegsames Ter-rain. Wenn die Zeit immer knapper wird, dürfen wir das Aus-probieren nicht aufgeben. Notfalls muss dieses rückerobert werden, auf nicht-vereinnahmende Weise. Ein guter Anfang wäre, mehr Verknüpfung zu wa- gen. Zusammen zu denken, was zuvor als spaltend empfun-den wurde. Einfach wird das nicht, aber wer hätte das auch behauptet? DOMINIK IRTENKAUF  lebt als Autor, freier Journalist und Inklusionshelfer in Berlin –   einer Stadt, mit der er nach einer ganzen Weile doch Freundschaft   schließen möchte. Bald erscheint eine Science Fiction-Story in der   Anthologie  Macht und Wort (Hirnkost Verlag, Berlin).


 50 | ZUKUNFT  I FOLLOWED MY INSTINCT AND TURNED INTO A BOOK  VON ELISABETH ÖGGL & LORENA PIRCHER Der schönste Versuch einer Definition von Künstlerbü- chern ist gleichzeitig eine Nicht-Definition. Das erste Wort nach „Buch“ im Duden Band 1, 23. Auflage von 2004 ist „Buchara“, eine Landschaft und Stadt in Usbekistan. Dieses Wort kann man an drei Stellen trennen. „Buch“ hingegen ist einsilbig. Unterteilen lässt es sich vielleicht trotzdem. Das Wort „Künstlerbuch“ gibt es im Duden nicht. Bis heute gibt es keine allgemeingültige Fixierung der Begrifflichkeit. Lange fungierten Bücher als Kommunikationsprothese des  Menschen, als Vermittler von Wissen und als Informations-lieferant neuer Erkenntnisse. Durch moderne Medien und soziale Netzwerke wird das Buch immer stärker von diesen Funktionen befreit. Viele bekannte Künstler*innen nutzen das Künstlerbuch bis heute als Beiwerk ihrer Ausstellungsar-beiten. Mittlerweile hat es sich jedoch als eigenständiger Ni-schenbereich im Kunstbetrieb etabliert. Zahlreiche Künstler-buchmessen finden vermehrt Zuspruch, auch in Europa. Ein großer Kunstbuchmarkt existiert seit einiger Zeit in Ameri-ka, wo Codex Book Fair und die New York Art Book Fair spannende Einblicke des Buches im Kontext der Bildenden Kunst liefern. Podiumsdiskussionen und Symposien beschäf-tigen sich zunehmend mit den alternativen Vermittlungsfor-men literarischer Werke. Wenn das Buch nichts mehr muss, was kann es dann?  Diese Frage stellen wir uns, indem wir gemeinsam versu- chen, Grenzen der Buchform auszuloten. Wir forschen nach funktionierenden Formen, die Texte auf alternative Weisen erfahrbar machen und Schnittpunkte zwischen Lyrik und der Bildenden Kunst schaffen können. Besonders Materialaffinität und bibliophile Auseinandersetzungen spielen für uns dabei eine Rolle. Bücher haben einen aktivierenden Charakter und verlangen der/dem Betrachter*in Eigeninitiative ab, gleich-zeitig haben sie eine entschleunigende Komponente. Kunst und Literatur können auf mehrfacher Zeit- sowie Metaebe-ne wirken. Auch Künstlerbücher können selten passiv konsu-miert werden. Vor allem darauf möchten wir eingehen. Zu-dem sollen unsere Werke einen bestimmten haptischen Reiz und eine experimentelle Auseinandersetzung zwischen In-halt und Form transportieren. Die Arbeiten bewegen sich des-halb zwischen Buchobjekt und druckgrafischem Werk. Ein Hauptaugenmerk in der Gestaltung liegt auf der Verwendung von verschieden Werkstoffen wie Silikon, Metall, Holz, Samt sowie Papier und deren Konnotationen und Empfindungen, die damit assoziiert werden. Unsere Inspirationen sind viel-fältig. Insbesondere Kunstwerke, denen eine Ausdehnung von Text in den dreidimensionalen Raum gelingt, übt eine Faszi-nation auf uns aus. Elisabeth begann sich mit ihrem Erasmusaufenthalt in  Florenz durch den Einfluss ihres Hauptprofessors Maurizio  Olivotto mit Künstlerbüchern auseinanderzusetzen. Durch  I followed my Instinct  and turned into a Book Die Künstlerinnen  ELISABETH ÖGGL  und  LORENA PIRCHER  haben die Bildstrecke der vorliegenden Ausgabe der   ZUKUNFT gestaltet. In ihrem bewusst sehr persönlichen Statement erlauben sie Einblicke in ihre Schwerpunktsetzungen und Arbeitsprozesse – das Buch als Objekt spielt dabei eine zentrale Rolle.  “It’s an artist book, if an artist made it, or if an artist says it is”.  Lucy Lippard, 1985


 ZUKUNFT | 51  seine verspielten Arbeiten fand sie auf entspannte Weise Zu-gang zum Buch im Kontext der Bildenden Kunst. Ihre Dip-lomarbeit setzte sich anschließend konkret mit dem Buch als Kunstwerk auseinander. Die neun von ihr präsentierten Ar-beiten reflektierten über Banales und Experimentelles. Einige ihrer Werke untersuchen Prosa aus Japan um das Jahr 1000 n. Chr., andere sind ironische Auseinandersetzungen mit popu-lärkulturellen Erscheinungen. Ihre kreativen Entscheidungen sind häufig primär Materialentscheidungen. Original druck-grafische Elemente wie Monotypie, Siebdruck und Radie-rung finden in all ihre Werken Eingang. Lorena entwickelte früh eine Faszination für das Zusam- menspiel von Literatur und Bildender Kunst, da sie Inspirati-on für ihre Gedichte in Werken der Konzeptkunst, des Ex-pressionismus, der Arte Povera und Monumentalskulpturen von beispielsweise Louise Bourgeois findet. Ihre Gedichte sieht sie zuerst als Bilder, welche sie schriftlich verarbeitet. Die Qualitäten des Künstlerbuches, den Inhalt von Gedichten im künstlerischen Umfeld und im dreidimensionalen Raum zu manifestieren, üben daher einen besonderen Reiz auf sie aus. Die lyrischen Werke entstehen meist in einem Guss, sind Pro-sagedichte und transportieren häufig Stimmungen mit starken Assoziationen zu bestimmten Farben und Materialitäten, or-ganischen und formbaren Elementen wie Lehm sowie sich wandelnden Elemente wie Holz, das auch in Form von Asche auftritt. In ihren Gedichten beschäftigt sie sich mit der Aus-einandersetzung des menschlichen Innenlebens mit der Um-welt und des Individuums, das sich innerhalb der Gesellschaft zu positionieren versucht.  Untitled I war unser erstes gemeinsames Projekt. Es spielt  mit einer Wechselwirkung aus Leichtigkeit und Schwere, was durch die Materialien Bleiblech und den dünnen Silikonsei-ten transportiert wird. Es erlaubt ein wandelbares und dyna-misches Wahrnehmen der literarischen Handarbeit: Die ein-zelnen Seiten sind nicht fixiert, können somit neu angeordnet und verändert werden, schmiegen sich an sich verändernde Formen an und erlauben durch ihre Transparenz eine Über-einanderschichtung und Neuanordnung der Sätze. Dement-sprechend ist der Inhalt des Künstlerbuches ambivalent. Der Satz „Deine Gedanken krümmen sich in meinen Organen“ kann beispielsweise durch die aktive Krümmung der Silikon-seiten physisch nachempfunden werden. Dadurch, dass der Text aus einer vorgeschriebenen Syntax enthoben wurde, bleibt sein Sinn ein wandelbarer, ein nicht festgeschriebener und erinnert an das Libro de arena von Jorge Luis Borges. The Pillow Book Project ist eine nicht unironische Anspie- lung auf eines der frühesten Prosawerke der japanischen Hei-an-Periode. Die Hofdame Sei Shōnagon brachte damals ihre Gedanken zum täglichen Leben aufs Papier. Die Übermitt-lung basiert auf einer stark männlich geprägten Perspektive, weshalb der Name auf mehrfache Weise irreführend ist; der Name  枕草子, Makura no Sōshi, kann nicht nur Kopfkissen,  sondern auch Sattel bedeuten, wurde aber durch eine männli-che Rezeption auf erstere Bedeutung festgelegt und damit in den häuslichen Kontext gesetzt. Die künstlerische Verarbei-tung greift ebendiese Elemente auf und druckt Gedanken und Beobachtungen mittels Siebdruck auf scheinbar bequeme Kis-sen. Mit diesem Projekt möchten wir die Betrachter*innen an den Gedanken fiktiver Personen teilhaben lassen. Der Tief-gang der niedergeschriebenen Sätze kann in allen Fällen über-sehen werden. Auch in unserem aktuellen Projekt Knochen der Jahre wir- ken Inhalt und Material wechselseitig aufeinander ein. Die in den Texten untersuchte symbolische Materialität menschlicher Körper wird in den dreidimensionalen Raum geführt.  ELISABETH ÖGGL  wurde 1994 in Südtirol, Italien geboren. Sie lebt und arbeitet als Visual  Artist in Wien. An der  Universität für angewandte Kunst in Wien studierte  sie Grafik und Druckgrafik. Schon im Laufe ihres Studiums lag ihr Fokus  auf dem Buch im künstlerischen Kontext.  LORENA PIRCHER  wurde 1994 in Südtirol, Italien, geboren. Studium der Vergleichenden  Literaturwissenschaft sowie Anglistik und Romanistik. Sie schreibt Kurz- prosa und Lyrik. Ihr erster Gedichtband Irrende Welten wurde 2018 veröf- fentlicht; derzeit arbeitet sie an ihrem zweiten Lyrikband.


Untitled IBleiblech, weiße Sprayfarbe, handgeschöpfte Silikonseiten,  Siebdruck, 50cm x 50 cm x 4cm, Unikum, Wien 2019  [Close-up einer Silikonseite]


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 54 | ZUKUNFT  AUCH IM V A VERLA G ERSCHIENEN VERANSTALTUNGSANKÜNDIGUNG Die Sendungen zu den monatlichen Schwerpunkten der  ZUKUNFT finden jedes Monat in Kooperation mit der Wie-ner Bildungsakademie statt und werden auf der Facebook-Seite, dem Youtube-Kanal und dem Twitch-Kanal der WBA übertragen. 01.07.2021: ERZÄHLUNGEN DES POLITISCHEN In den letzten Jahrzehnten war oft vom Zusammenbruch  der großen Erzählungen die Rede. Dabei war etwa an die Großerzählung des (Austro-)Marxismus gedacht, der indes gerade angesichts der Corona-Krise wieder an Aktualität ge-winnen könnte. Wie sehen im Bereich politischer Ideologien also die großen Erzählungen des (Demokratischen) Sozialis-mus, des Liberalismus, des Konservatismus oder des Neofa-schismus aus? Die thematische Ausgabe der ZUKUNFT eröffnet dabei eine breite Palette von Bezügen, die sich damit beschäf- tigen, welche (Meta-)Erzählungen hinsichtlich der Politik existieren und welche heute noch relevant sind. Nähere Informationen und die Links zur jeweiligen Veran-staltung unter:  https://diezukunft.at/veranstaltungen/ Auf dem Weg in die ZUKUNFT! Die Online-Diskussionssendung für Politik, Gesellschaft und Kultur.  Ein moderierter Diskussionstalk mit den Redakteur*innen, Autor*innen und Künstler*innen der ZUKUNFT … Welche ZUKUNFTsthemen bewegen die Redaktion (der ZUKUNFT)? Welche ZUKUNFTsthemen haben Autor*innen (der ZUKUNFT)? Welche ZUKUNFTsthemen berühren Künstler*innen (der ZUKUNFT)?


 ZUKUNFT | 55  BESTELLUNG Kupon ausschneiden& einsenden an: VA Verlag GmbHKaiser-Ebersdorferstrasse 305/31110 Wien ICH BESTELLE "ROTE PHILATELIE" 7,90 € INKL. MWST ZZGL. VERPACKUNG UND VERSAND 2,00 € ICH BESTELLE "WIENER STRASSENBAHNER IM FEBRUAR 1934" PREIS 5,-- INKL MWST ZZGL. VERPACKUNG UND VERSAND 2,00 € NAME: _________________________________________________________________ STRASSE: _______________________________________________________________ ORT/PLZ: _______________________________________________________________ TEL.: ______________________________ E-MAIL: _____________________________UNTERSCHRIFT: _______________________ ODER BESTELLUNG PER E-MAIL AN DEN VERLAG: OFFICE@VAVERLAG.AT SOLANGE DER VORRAT REICHT Eine philatelistische Zeitreise zu 75 Jahren WGBDER WELTGEWERKSCHAFTSBUND (WGB) FEIERT HEUER SEINEN 75. GEBURTSTAG. MANCHE FORDERUNGEN DER ERSTEN JAHRE NACH SEINER GRüNDUNG SIND NACH WIE VOR AKTUELL. DIESEM JUBILäUM LIEGT DIE IDEE DER VORLIEGENDEN BROSCHü-RE ZU GRUNDE. DIE KURZE ABHANDLUNG DER SEHR UMFANGREICHEN GESCHICHTE DES WGB BASIERT VOR ALLEM AUF DER ERZäHLUNG DER 17 WELT-KONGRESSE DES WGB, SIE STELLEN HIER DIE MEILENSTEINE DER ENTWICKLUNG UND DER GEZEIGTEN BRIEFMARKEN DAR. DIE WIENER STRASSENBAHNER GALTEN IN DER ZWISCHENKRIEGS-ZEIT ALS EINE DER SPEERSPITZEN DER SOZIALDEMOKRATIE. ES VERWUNDERT DAHER NICHT, DASS SICH AUF PRAKTISCH ALLEN BAHNHÖFEN SCHUTZBUNDGRUPPEN, SOGENANNTE STRASSENBAHN-ORDNER, BEFANDEN. INSBESONDERE IN FLORIDSDORF WAREN DIE STRASSENBAHNER DIREKT IN KAMPFHANDLUNGEN DES FEBRUAR 1934 VERSTRICKT. HIER WURDEN AUCH ZWEI STRASSENBAH-NER VON EINEM EILIG EINBERUFENEN STANDGERICHT ZUM TODE VERURTEILT, IN LETZTER MINUTE ABER BEGNADIGT. IN DIESER BROSCHüRE WERDEN AUS DEM BLICKWINKEL DIESER BERUFSGRUP-PE DIE HEFTIGEN AUSEINANDERSETZUNGEN UM DIE WIEDERHER-STELLUNG DER VON DER REGIERUNG DOLLFUSS DEMONTIERTEN DEMOKRATIE BESCHRIEBEN. AUCH IM V A VERLA G ERSCHIENEN


 ZUKUNFT | 56  BESTELLUNG Kupon ausschneiden& einsenden an: VA Verlag GmbHKaiser-Ebersdorferstrasse 305/31110 Wien ICH BESTELLE "EIN LIED BEWEGT DIE WELT"7,90 € INKL. MWST ZZGL. VERPACKUNG UND VERSAND 2,00 € NAME: _________________________________________________________________ STRASSE: _______________________________________________________________ ORT/PLZ: _______________________________________________________________ TEL.: ______________________________ E-MAIL: _____________________________UNTERSCHRIFT: _______________________ ODER BESTELLUNG PER E-MAIL AN DEN VERLAG: OFFICE@VAVERLAG.AT SOLANGE DER VORRAT REICHT KAUM EIN ANDERES SyMBOL EINT DIE INTERNATIONALE ARBEITERBEWEGUNG SO STARK, WIE DIE 1871 IM NACH-REVOLUTIONäREN PARIS VERFASSTE „INTERNA-TIONALE“. IM ANGESICHT DER NIEDERLAGE DES FRANZÖSISCHEN PROLETARIATS, WäHREND TAUSENDE KäMPFERINNEN UND KäMPFER DER COMMUNE VON DER REAKTION ERMORDET WURDEN, MACHTE SICH, äNGSTLICH IM VERSTECK SITZEND, EUGENE POTTIER DARAN EIN TROTZIGES, HOFFNUNGSFROHES KAMPFLIED ZU SCHREIBEN. SO ENTSTAND NICHT NUR DIE WELTWEITE HyMNE EINER STOLZEN BEWEGUNG, SONDERN EIN KAMPFLIED VON MILLIONEN BEWUSSTER ARBEITNEH-MERINNEN UND ARBEITNEHMER AUF DER GANZEN WELT.